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  • ab 01.06.2016 (aktuelle Fassung)

Anlage 2 OK-RdErl - Hinweise zur praktischen Anwendung der Definition "Organisierte Kriminalität"

Bibliographie

Titel
Richtlinie über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität
Redaktionelle Abkürzung
OK-RdErl,NI
Normtyp
Verwaltungsvorschrift
Normgeber
Niedersachsen
Gliederungs-Nr.
21021

Vorbemerkung

Die Definition der Organisierten Kriminalität (im Folgenden: OK) soll der Anwenderin oder dem Anwender der Richtlinie über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der OK eine Hilfestellung bei der sachgerechten und möglichst eindeutigen Bewertung geben, ob Straftatenkomplexe und Verhaltensweisen Verdächtiger der OK zuzuordnen sind.

Die Folgen einer solchen Zuordnung können vielfältig sein, z. B.

  • Begründung von Zuständigkeiten von Fachdienststellen zur Strafverfolgung,

  • Begründung der Anwendung besonderer Eingriffsmaßnahmen,

  • Einbeziehung der Informationen in zentrale Auswertungssysteme (Intelligence-Systeme),

  • Erfüllung besonderer Informations- und Meldepflichten einschließlich internationalem Nachrichtenaustausch,

  • Erfassung in gesonderten Lagebildern.

Die nachfolgenden Ausführungen richten sich vor allem an die in den Strafverfolgungsbehörden mit der Bekämpfung der OK befassten Bediensteten, um auf der Grundlage angenäherter Lageeinschätzungen zu einer einheitlichen Bekämpfung der OK zu gelangen.

1. Definition "OK"

1.1 OK ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig

  1. a)

    unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen,

  2. b)

    unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder

  3. c)

    unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft

zusammenwirken.

Der Begriff umfasst nicht Straftaten des Terrorismus.

1.2 Aufbau der Definition

Die Definition OK umfasst strafrechtliche, soziologische, psychologische und ökonomische Elemente. Sie stellt keinen materiell-strafrechtlichen Normenbegriff dar. Sie ist in zwei Teile gegliedert: die generellen und speziellen Merkmale der Alternativen der Nummer 1.1 Buchst. a bis c.

1.2.1 Generelle Merkmale

  • Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind,

  • Gewinn- oder Machtstreben,

  • auf längere oder unbestimmte Dauer,

  • Arbeitsteiligkeit,

  • Zusammenwirken von mehr als zwei Beteiligten,

  • planmäßige Begehung.

1.2.2 Spezielle Merkmale

Erst die speziellen Merkmale der Alternativen der Nummer 1.1 Buchst. a bis c qualifizieren organisiertes kriminelles Verhalten zu OK. Im Verhältnis zueinander können diese Merkmale einzeln oder kumulativ gegeben sein.

Für die Bestimmung "OK" ist nicht erforderlich, dass beide Merkmalsgruppen sachlich und zeitlich in einem zur Bewertung anstehenden Sachverhalt zusammenfallen. Eine einzelne noch fehlende Merkmalsgruppe kann sich auch aus anderen, zeitlich zurückliegenden Feststellungen der Strafverfolgungsbehörden herleiten lassen. Wesentlich ist, dass der im Einzelfall angestrebte Tatzweck erreicht und/oder der Fortbestand und die Wirksamkeit der Organisation gesichert werden sollen. Darin liegt die besondere Gefährlichkeit der OK; die kriminalpolitische Zielsetzung besteht darin, mit adäquaten Bekämpfungsmaßnahmen die Etablierung und Verfestigung der kriminellen Strukturen in Teilbereichen der Gesellschaft zu unterbinden.

1.3 Anwendungsfälle

1.3.1 Grundsätzlich unproblematisch ist die Anwendung der Definition auf Sachverhalte, bei denen die Ermittlungen ganz oder weitgehend abgeschlossen sind. Um OK zu bejahen, müssen die generellen Merkmale gegeben sein und zumindest die speziellen Merkmale einer der Fallgruppen der Nummer 1.1 Buchst. a bis c vorliegen.

Bei der Untersuchung der speziellen Merkmale kann sich als unproblematisch erweisen, dass solche bereits Tatbestandsmerkmale der Straftatbestände darstellen. In eine Überprüfung dieser Merkmale ist im Einzelnen nicht erneut einzutreten:

Wird nämlich bei der Beurteilung der zugrunde liegenden Straftaten die Nutzung geschäftsähnlicher Strukturen, z. B. von Betrieben oder Unternehmen bei wirtschaftskriminellem Verhalten, oder die Gewaltanwendung, z. B. bei der Durchführung einer Raubtat, festgestellt, so reichen diese tatbestandlichen Verhaltensweisen allein nicht aus, auch gleichzeitig die speziellen Merkmale für OK zu bejahen. Hierzu sind zusätzliche Feststellungen zu OK-typischen Verhaltensweisen i. S. der speziellen Merkmale der Nummer 1.1 Buchst. a bis c erforderlich. Sind diese Verhaltensweisen nicht feststellbar, so werden selbst schwerwiegende Straftaten nicht zur OK; es handelt sich zwar um geplant vorbereitete und durchgeführte Straftaten, aber nicht um OK i. S. der Definition.

1.3.2 Problematisch sind diejenigen Sachverhalte, bei denen deutliche Hinweise auf OK-Hintergründe (noch) nicht erkennbar sind.

Es gibt z. B. im Diebstahlsbereich eine Fülle von Delikten, die für sich allein keine OK abbilden. Dennoch können diese Taten, z. B. bezogen auf eine organisierte Verwertung der erlangten Güter, durchaus einen gemeinsamen OK-Hintergrund haben. Zur Beschreibung des "Tatbildes" sind dann alle aus der Auswertungstätigkeit resultierenden Informationen zusammenzufassen und die personenbezogenen Informationen zusätzlich aufzubereiten.

Beim personen- oder gruppenbezogenen Ansatz liegen zur Tatzeit regelmäßig noch keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte (i. S. des § 152 Abs. 2 StPO) vor, sodass die generellen Merkmale zunächst zu verneinen sind. Ungeachtet dessen weisen die personenbezogenen Erkenntnisse auf OK hin.

2. Begriffsmerkmale der Definition "OK"

2.1 Generelle Merkmale

2.1.1
Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind

Unter dem Begriff der Straftat von erheblicher Bedeutung sind solche Straftaten zu verstehen, die den Rechtsfrieden empfindlich stören und geeignet sind, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung nachdrücklich zu beeinträchtigen.

Dabei kann es sich auch um Straftaten handeln, die von der Öffentlichkeit nicht augenfällig wahrgenommen werden können, dem gegenüber aber einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden für die Allgemeinheit verursachen und deshalb auch eine wesentliche Bedrohung darstellen.

2.1.2
Gewinn- und Machtstreben

Gewinnstreben ist das planvolle Verhalten zur Erlangung wesentlicher materieller Vorteile.

Machtstreben ist umfassend zu verstehen (wirtschaftlich und sozial). Es setzt Aktivitäten voraus, die die Erlangung von Einflusspositionen gegenüber Dritten oder eigenen Gefolgsleuten zum Ziel haben. Auch Monopolisierungsbestrebungen können hierunter fallen. Zu diesem Zweck werden auch Straftaten begangen, die keine unmittelbaren wirtschaftlichen Vorteile erbringen.

Weiterhin werden Anstrengungen unternommen, gesellschaftliche Anerkennung und Einfluss zu erlangen. Dies wird im Bereich der Milieukriminalität der Großstädte besonders deutlich.

2.1.3
Auf längere oder unbestimmte Dauer

Dieses zeitliche Merkmal schließt diejenigen Verhaltensweisen aus, bei denen die Beteiligten nur im Einzelfall oder für einen kurzfristigen Zeitraum zusammenwirken. Es ist erfüllt, wenn Serientaten, Tatzusammenhänge, verfestigte Informations- oder Kommunikationsstrukturen, Abrechnungsmodalitäten (Beuteverteilung) o. Ä. festgestellt werden und Tatsachen die Annahme begründen, dass dieses durch die Absichten der Beteiligten, z. B. in Form von Bekundungen oder konkludenten Verhalten, getragen ist.

2.1.4
Arbeitsteiligkeit

Die Arbeitsteiligkeit bemisst sich nach dem erkennbaren Grad der Aufgabenteilung bei der Verwirklichung der Straftatbestände.

Wegen der Planmäßigkeit und Spezialisierung bei der OK können Täterinnen und Täter - insbesondere wenn sie einer höheren Ebene angehören - vielfach (lediglich) steuernd auf die Tatverwirklichung Einfluss nehmen, ohne selbst unmittelbar an der Tat beteiligt oder am Tatort anwesend zu sein.

2.1.5
Zusammenwirken von mehr als zwei Beteiligten

Voraussetzung ist das Zusammenwirken von mindestens drei Personen, die aus einer gemeinsamen Zielsetzung heraus handeln. Zusammenwirken ist das koordinierte Entfalten von Tätigkeiten (auch in der Form der Unterlassung), die Tatvorhaben und Ziele der Organisation fördern.

Die Grundlagen ergeben sich aus einem gemeinschaftlichen Plan, der die arbeitsteiligen Elemente der Straftatenbegehung umfasst.

2.1.6
Planmäßige Begehung

Die planmäßige Begehung umfasst die Tatphasen mit ihren Elementen der

  • Tatverabredung,

  • Tatvorbereitung,

  • Tatdurchführung,

  • Absatzplanung oder Beuteverwertung,

  • Tatsicherung.

Dieses Merkmal zielt auf die "Perfektionierung und Professionalisierung der Begehensweisen" ab und dient somit dem Erfolg im Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln auf der Grundlage der Arbeitsteiligkeit und Spezialisierung. Bei Tatbeteiligten im Hintergrund kommt es darauf an nachzuweisen, dass die intellektuelle oder wirtschaftliche (Mit-)Beherrschung des Tatgeschehens notwendige Voraussetzung für die Begehung der Tat ist.

2.2 Spezielle Merkmale der Alternativen der Nummer 1.1 Buchst. a bis c

2.2.1
Zu Nummer 1.1 Buchst. a: Unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen

Aus der (Mit-)Nutzung vorhandener, überwiegend legaler gewerblicher Strukturen durch kriminelle Organisation ergibt sich eine Verflechtung illegalen und legalen Wirtschaftslebens. Sie stellt einen zentralen Aspekt der OK dar.

Da Beschaffungs- oder Verwertungshandlungen, in großen Dimensionen angelegt, nicht ohne weiteres geheim zu halten sind, werden sie oft dadurch getarnt, dass sie mit legalen Geschäftsvorgängen durchgeführt werden. Die Tatausübung muss mit Vorgängen tatsächlicher oder vorgetäuschter wirtschaftlicher Betätigung einhergehen.

Durch dieses Verhalten werden (auch ohne weitere strafrechtlich relevante Handlungen) Situationen geschaffen, die die Aufklärung des Sachverhalts erheblich beeinträchtigen. Insbesondere führt es zu gravierenden Vertrauensverlusten in die auf Treu und Glauben basierenden Wirtschaftsabläufe. Die OK-Täterinnen oder OK-Täter stellen auf Dauer vor allem auf die Maximierung und Sicherung ihrer Profite ab; insoweit bedeutet dies auch die Erweiterung der kriminellen Aktionsmöglichkeiten. Hierunter sind auch die Verschleierung der kriminellen Handlungen oder Interessen oder der Missbrauch besonderer Befugnisse oder Erlaubnisse (z. B. Lizenzen) zu verstehen.

Damit kommt es nicht darauf an, ob die Täterinnen oder Täter diese Strukturen eigens hierfür geschaffen haben oder sich nur solcher bedienen.

Eine wesentliche zeitliche oder quantitative oder qualitative Begleitkomponente muss z. B. dann bejaht werden, wenn Straftäterinnen oder Straftäter sich der Möglichkeiten moderner Infrastrukturen o. Ä. bedienen, um "erfolgreicher" zu handeln, weil mengenmäßig keine Begrenzungen zu sehen und Nachweise beim Massenverkehr nur unter erschwerten Bedingungen zu führen sind.

Soweit tatbestandliche Verhaltensweisen zugrunde liegender Straftaten der Wirtschaftskriminalität mit den speziellen Merkmalen der Alternative der Nummer 1.1 Buchst. a übereinstimmen, können diese allein nicht für die "Qualifizierung" als OK herangezogen werden. Hierzu sind darüber hinausgehende Feststellungen zu den Alternativen der Nummer 1.1 Buchst. b oder c erforderlich, wie sie nachfolgend in den Nummern 2.2.2 und 2.2.3 erläutert sind.

2.2.2
Zu Nummer 1.1 Buchst. b: Unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel

Wenn die Gewaltanwendung Tatbestandsmerkmal einer Straftat ist, z. B. bei Angriffen gegen Leib und Leben, die persönliche Freiheit oder die Freiheit der Willensentschließung, ist dieses konstitutives Merkmal und erfüllt für sich allein die qualifizierende Alternative nicht. Der Gewaltbegriff ist weitergehend zu prüfen, wenn unabhängig von der Gewaltanwendung bei der Verwirklichung des Straftatbestandes diese zugleich oder als selbständiges Teilziel

  • in ihrer Wirkung auf die Allgemeinheit,

  • mit bestimmbarer Auswirkung auf weitere potenzielle Opfer oder

  • auf die Aufrechterhaltung der "inneren Ordnung der Organisation"

gerichtet ist.

Bei den weitergehenden Prüfungen ist sowohl die Tätervorstellung und -absicht zugrunde zu legen wie auch die objektiv feststellbare Wirkung auf die Betroffenen. Die Verhaltensweisen gemäß Alternative der Nummer 1.1 Buchst. b - gleichgültig in welcher Form angewendet, auch vordergründig positiv erscheinende Verhaltensweisen - müssen aus der Sicht der Betroffenen als Zwang verstanden werden.

Einschüchterung und Gewalt sind zur Durchsetzung und Sicherung der Machtansprüche gängige Mittel, wenngleich sich mit zunehmendem Organisationsgrad die Anwendung immer subtilerer Machtmittel beobachten lässt.

Fehlende tatsächliche Gewaltanwendung ist deshalb kein Hinweis auf das Nichtvorhandensein von OK. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass bei ausgereiften, in ihrer Struktur verfestigten Organisationen Gewalt nur selten offenkundig wird, da subtilere Formen von Pressionen ausreichen. Allein das Wissen um die im Extremfall unausweichliche, konsequente und in aller Härte durchgeführte Gewaltanwendung reicht aus, um Organisationsmitglieder, Opfer, Zeuginnen und Zeugen gefügig zu machen.

Hier sind sowohl die interne Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel (innerhalb der Organisationsstruktur) als auch die externe (gegenüber Dritter) zu subsumieren.

2.2.3
Zu Nummer 1.1 Buchst. c: Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft

Führungspersonen der OK sind bestrebt, innerhalb ihres "Herrschaftsbereichs" und oft auch in der Gesellschaft Anerkennung zu finden. Soziale Integration bietet nach außen hin die beste Gewähr, "Geschäfte" ungestört und - bei Bedarf - mit Unterstützung der so gewonnenen "Freundinnen" und "Freunde" erfolgreich abzuwickeln. Zu diesem Zweck werden gesellschaftliche Anlässe gesucht (oder selbst geschaffen), bei denen Kontakte zu Personen des öffentlichen Lebens - sei es aus dem Bereich der Politik, der Verwaltung, der Wirtschaft oder der Medien - hergestellt werden könne. Ob und wie diese Beziehungen einmal für die illegalen Zwecke genutzt werden können, ob durch wie auch immer geartete Formen der Bestechung, der Erpressung oder sonstiger Beeinflussung die Betroffenen zur Mithilfe "bewegt" werden, steht zunächst nicht im Vordergrund.

Einflussnahme ist das Einwirken auf Entscheidungsprozesse in den genannten Bereichen. Diese können sich in begünstigenden Handlungen oder Unterlassungen darstellen, die insgesamt im Interesse der Straftäterinnen und Straftäter liegen. Eine Einflussnahme kann auch in kollusivem Verhalten bestehen.

Zur Abgrenzung der verfassungsrechtlich erwünschten oder der legitimen Formen der Beeinflussung von Entscheidungsträgern ist es zusätzlich erforderlich, dass der verwerfliche Charakter der Einflussnahme - entweder in den Mitteln oder in den Zielsetzungen - festgestellt wird. Indizien für das Vorliegen verwerflicher Einflussnahme können u. a. sein

  • Bedrohungen, Nötigungen, Erpressung oder Anwendung von Gewalt sowie

  • Bestechung oder Schaffung von Abhängigkeitsverhältnissen.