Landgericht Stade
Urt. v. 01.06.2023, Az.: 3 O 317/21

Ansprüche auf Ersatz von Kosten aus einer Krankenversicherung für alternative Behandlungsmethoden

Bibliographie

Gericht
LG Stade
Datum
01.06.2023
Aktenzeichen
3 O 317/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 53715
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGSTADE:2023:0601.3O317.21.00

In dem Rechtsstreit
der XXX
Klägerin
Prozessbevollmächtigter: XXX
gegen
XXX
Beklagte
Prozessbevollmächtigte: XXX
hat die 3. Zivilkammer des Landgerichts Stade im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 ZPO mit einer Erklärungsfrist bis zum 11.05.2023 am 01.06.2023 durch den Richter am Landgericht XXX als Einzelrichter
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.

    Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

  3. 3.

    Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

  4. 4.

    Der Streitwert wird auf 17.650,40 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Klägerin macht als Erbin ihres verstorbenen Ehemannes Ansprüche aus einer Krankheitskostenversicherung gegen die Beklagte geltend.

Zwischen dem am 13.10.2021 verstorbenen Ehemann der Klägerin, Herrn XXX (im Folgenden: Versicherungsnehmer) und der Beklagten bestand ein Krankenkostenvollversicherungsvertrag nach dem Tarif NK1. Bestandteil des Vertrages waren die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (MB/KK) der Beklagten (Anlage BLD1, im Folgenden: MB/KK 2009), auf die Bezug genommen wird.

Der Versicherungsnehmer litt seit dem Jahr 2020 an einem lymphogenen metastasierten Zungengrundkarzinom. Nachdem zunächst eine Strahlentherapie im Strahlenzentrum Hamburg MVZ durchgeführt worden ist (Anlage K1), begab sich der Versicherungsnehmer in die streitgegenständliche Behandlung von Herrn Dr. XXX. Dieser führte insbesondere folgende Behandlungen bei dem Versicherungsnehmer durch:

- eine Radiofrequenz-Tiefenhyperthermie-Applikationen,

- eine Insulin-potenzierte Chemotherapie mit 5mg Mitomycin (2x), 50mg Carboplatin, 2mg Vinblastin und 50 mg Cardioxane (1x) sowie

- eine Infusion von Dexrazoxan (Cardioxane).

Mit der Klage verlangt die Klägerin die Erstattung der Behandlungskosten in Höhe von insgesamt 17.650,40 €. Auf die zur Akte gereichten Rechnungen (Anlagekonvolut K 2 und Anlage K9) wird Bezug genommen.

Die Klägerin behauptet, die Behandlungen durch Herrn Dr. XXX seien medizinisch notwendig und daher bedingungsgemäß zu erstatten. Es habe eine in der Regel tödlich verlaufende Krankheit vorgelegen und zielführende schulmedizinische Behandlungsmethoden hätten nicht mehr zur Verfügung gestanden. Sie verweist auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 30.10.2013 (IV ZR 307/12), der "Blaupausencharakter" für den vorliegenden Rechtsstreit zukomme.

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 10.936,97 € nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit Klagzustellung zu zahlen.

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, weitere 6.713,43 € nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit Zustellung des Schriftsatzes vom 13.06.2022 (Bl. 49 d.A.) zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, es habe sich nicht um eine schulmedizinisch anerkannte Behandlung gehandelt. Die Behandlung sei (bei Fehlen schulmedizinischer Methoden) auch nicht ebenso erfolgversprechend bewährt.

Das Gericht hat zur Frage der medizinischen Notwendigkeit der streitgegenständlichen Behandlungen Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens. Auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. med. U. Kaiser vom 06.03.2023 wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig. Sie hat in der Sache aber keinen Erfolg.

I. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch aus dem Versicherungsvertrag, § 1 Abs. 1, Abs. 2 MB/KK 2009. Die von der Klägerin angenommene bedingungsgemäße Notwendigkeit der Behandlungen durch Herrn Dr. XXX konnte durch die Beweisaufnahme nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit festgestellt werden.

1. Es liegt kein Versicherungsfall im Sinne von § 1 Abs. 2 MB/KK 2009 vor. Nach dieser Klausel liegt ein Versicherungsfall bei medizinisch notwendiger Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit vor.

Für die Frage, ob eine Heilbehandlung medizinisch notwendig ist, ist nach der Rechtsprechung des BGH ein objektiver Maßstab anzulegen. Eine medizinisch notwendige Heilbehandlung liegt vor, wenn es nach den objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen, also unabhängig von der Auffassung des Behandlers oder Versicherten, im Zeitpunkt der Vornahme der ärztlichen Behandlung vertretbar war, sie als notwendig anzusehen (BGH, Beschluss vom 17.12.2014, Az. IV ZR 399/13, juris Rn. 13; BGH, Urteil vom 10.07.1996, Az. IV ZR 133/95, NJW 19965, 3074; BGH, Urteil vom 21.09.2005 - IV ZR 113/04, juris). Bei unheilbaren lebensbedrohlichen Erkrankungen kann es vertretbar sein, auch Behandlungsversuche als notwendig anzusehen, die mit nicht nur ganz geringer Wahrscheinlichkeit ihr Ziel erreichen und denen notwendigerweise Versuchscharakter anhaftet (Urteil vom 21.09.2005 - IV ZR 113/04, juris). Der Versicherungsnehmer trägt die Darlegungs- und Beweislast für die medizinische Notwendigkeit (Prölls/ Martin, VVG 31. Auflage 2021, § 192 Rn. 61a; BeckOK VVG, 9. Edition 2020, § 192 VVG Rn. 44).

Nach § 4 Abs. 6 Satz 2 MB/KK besteht eine Erstattungspflicht auch für Verfahren, die in der Praxis als ebenso erfolgversprechend wie schulmedizinische Methoden bewährt sind oder wenn keine schulmedizinischen Methoden zur Verfügung stehen. Bei alternativen Behandlungsformen ist Voraussetzung, dass sich solche Methoden zum Zeitpunkt ihrer Anwendung bereits in gewissem Umfang empirisch bewährt haben und medizinisch vertretbar waren (Römer/ Langheid, § 192 Rn. 8; Prölls/ Martin-Voit, § 192 Rn. 61 ff., jeweils m.w.N.).

2. Nach diesem Maßstab konnte das Gericht die Notwendigkeit der Behandlung mit den streitgegenständlichen Behandlungsmethoden nicht feststellen. Die durchgeführten Behandlungen durch Herrn Dr. XXX waren nach den Feststellungen des Gerichts nicht geeignet, den Gesundheitszustand des Klägers zu verbessern. Außerdem standen andere wirksame Heilmethoden zur Verfügung. Die streitgegenständlichen Behandlungen haben sich nicht empirisch bewährt und waren daher nicht medizinisch vertretbar.

a) Diese Feststellungen beruhen auf den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. med. UXXX. Dieser führt in seinem schriftlichen Gutachten vom 06.03.2023 nachvollziehbar aus, dass die streitgegenständlichen Behandlungen in keiner Weise evidenzbasiert gewesen seien. Sie entspreche nicht dem medizinischen Standard. Es gebe keinerlei Daten, wonach hier eine erfolgversprechende Therapie appliziert wurde. Für die Behandlung mit Cardioxane habe keinerlei Indikation bestanden. Auch die Behandlung mit Insulin und Glucose habe keinerlei Stellenwert. Vielmehr sei dem Versicherungsnehmer eine wirksame Therapie vorenthalten worden, nämlich insbesondere die begleitende Therapie mit Cisplatin. Diese Therapie habe höchste Wirksamkeit.

b) Die Ausführungen des Sachverständigen sind überzeugend. Der Sachverständige ist Chefarzt an der Medizinischen Klinik II St. Bernward Krankenhaus Hildesheim, Abteilung unter anderem für Hämatologie und Onkologie. Er ist Facharzt auf diesem Gebiet. Seine Erfahrungen in diesem Bereich werden nicht bezweifelt. Die Ausführungen in dem schriftlichen Gutachten vom 06.03.2023 sind nachvollziehbar. Er hat nachvollziehbar den medizinischen Hintergrund und die maßgeblichen Leitlinien dargelegt. Auf dieser Grundlage hat er sich nachvollziehbar mit den konkret beim Versicherungsnehmer durchgeführten Behandlungen auseinandergesetzt. Seine Einschätzung zu den konkreten Behandlungen hat er nachvollziehbar und überzeugend hergeleitet und eingeordnet. Letztlich hat auch die Klägerin keine konkreten Einwände gegen das Gutachten vorgebracht. Ihr Einwand beschränkt sich vorwiegend auf die behaupteten Vorbehalte des Sachverständigen gegen alternative Behandlungsansätze.

b) Es liegen auch keine Gründe vor, die die Besorgnis der Befangenheit des Sachverständigen rechtfertigen. Nach § 406 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann ein Sachverständiger aus denselben Gründen, die zur Ablehnung eines Richters berechtigen, abgelehnt werden, also wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 42 Abs. 1 ZPO). Diese liegt vor, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters bzw. Sachverständigen zu rechtfertigen. Entscheidend ist insoweit, ob eine Partei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung eines Richters bzw. Sachverständigen zu zweifeln (BGH NJW - RR 10 493). Rein subjektive, unvernünftige Vorstellungen und Gedankengänge des Antragstellers scheiden daher aus. Diese Voraussetzungen liegen hier im Hinblick auf das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. med. Kaiser nicht vor.

Insbesondere sind keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Sachverständige alternativen Behandlungsmethoden nicht unvoreingenommen gegenübersteht. Dabei ist dem Gericht durchaus bewusst, dass Gutachter aus dem Bereich der Schulmedizin naturgemäß kritisch gegenüber alternativen Behandlungsansätzen sind. Aus diesem Grund hat das Gericht bei der Auswahl des Sachverständigen auf diesen Aspekt schon im Beweisbeschluss besonders geachtet. Konkrete Gründe, die hier einer unvoreingenommenen Begutachtung entgegenstehen, sind aber von der Klägerin nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich.

Auch aus der frühzeitigen Äußerung des Sachverständigen zu den Behandlungen lässt sich eine Unvoreingenommenheit nicht herleiten. Mit seiner Äußerung gegenüber der Ärztekammer im Rahmen der Bestellung (vgl. Bl. 86 d.A.) hat der Sachverständige nicht seine Voreingenommenheit gegenüber einer Partei zum Ausdruck gebracht. Vielmehr hat er sich im Hinblick auf die Bemühungen des Gerichts, einen objektiven Gutachter zu finden, der auch alternativen Behandlungsformen offen gegenübersteht, veranlasst gesehen, seinen Standpunkt frühzeitig offen zu kommunizieren. Dass er hiermit bereits seine Einschätzung im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand offengelegt hat, führt nicht zu seiner Befangenheit. Eine sachliche Auseinandersetzung kann grundsätzlich keinen Befangenheitsgrund darstellen. Die Äußerung gegenüber der Ärztekammer zu der streitgegenständlichen Therapie war mit Blick auf die Formulierung der Anforderungen im Beweisbeschluss nachvollziehbar und auch inhaltlich nicht unsachlich. Es bestehen keine Zweifel daran, dass der Sachverständige gegenüber dem Gericht nach einer vertieften Untersuchung der Beweisfrage auch eine abweichende Einschätzung abgegeben hätte, wenn er eine solche für richtig gehalten hätte.

3. Auch aus der klägerseits zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 30.10.2013 (IV ZR 307/12, NJW-RR 2014, 295) ergibt sich keine andere Bewertung der bedingungsgemäßen Notwendigkeit der Behandlung. Nach dieser Entscheidung ist von der medizinischen Notwendigkeit einer Heilbehandlung dann auszugehen, wenn sich eine Behandlungsmethode dazu eignet, die Krankheit zu heilen, zu lindern oder ihrer Verschlimmerung entgegenzuwirken. Bei einer lebensbedrohenden oder gar lebenszerstörenden unheilbaren Erkrankung ist nicht darauf abzustellen, ob sich die gewünschte Behandlung zur Erreichung des vorgegebenen Behandlungsziels tatsächlich eignet; die objektive Vertretbarkeit der Behandlung ist bereits dann zu bejahen, wenn sie nach medizinischen Erkenntnissen im Zeitpunkt ihrer Vornahme als wahrscheinlich geeignet angesehen werden konnte, auf eine Verhinderung der Verschlimmerung der Erkrankung oder zumindest auf ihre Verlangsamung hinzuwirken. Diese Voraussetzungen liegen hier aber nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen gerade nicht vor. Der Sachverständige hat überzeugend ausgeführt, dass die durchgeführte Therapie in keiner Weise evidenzbasiert sei. Sie entspreche nicht dem medizinischen Standard. Es gebe keinerlei Daten, dass eine erfolgversprechende Therapie appliziert wurde.

II. Der Zinsanspruch besteht mangels eines Anspruchs in der Hauptsache nicht.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 ZPO.