Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 17.05.2023, Az.: 1 Ws 92/23, 1 Ws 93/23
Widerruf; Strafaussetzung; Therapie; Zurückstellung der Strafvollstreckung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 17.05.2023
- Aktenzeichen
- 1 Ws 92/23, 1 Ws 93/23
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2023, 26493
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Göttingen - 22.02.2023 - AZ: 55 BRs 80/22
- LG Göttingen - 22.02.2023 - AZ: 55 BRs 81/22
Rechtsgrundlagen
- StGB § 56 f
- BtMG § 35
Amtlicher Leitsatz
Die Entscheidung über den Widerruf einer Strafaussetzung gemäß § 56 f StGB ist zu treffen, sobald das Gericht vom Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen überzeugt ist. Ein Abwarten, ob in Zukunft durch Fortschreiten einer Therapie neue Prognoseumstände eintreten könnten, sieht das Gesetz auch dann nicht vor, wenn die Strafvollstreckung in anderer Sache gemäß § 35 BtMG zurückgestellt ist.
In den Bewährungssachen
betreffend
A. ,
geboren am ..... in N.,
zurzeit Therapiezentrum O., ....,
- Wahlverteidiger:
Rechtsanwalt S. M., .....
- Betreuerin:
Rechtsanwältin C. M.-H., ......
wegen Diebstahls u. a.
hier: sofortige Beschwerde gegen den Widerruf der Strafaussetzungen zur Bewährung
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig am 17. Mai 2023 beschlossen
Tenor:
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der 55. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 22. Februar 2023 wird auf seine Kosten verworfen.
Gründe
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
I.
Der Verurteilte wurde mit seit 14. Januar 2011 rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Fritzlar vom 3. August 2010 (Az. 04 Ls 1620 Js 5051/10) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Mit Beschluss des Amtsgerichts Fritzlar vom 6. November 2017 (rechtskräftig seit 21. November 2017) wurde die Vollstreckung des zu diesem Zeitpunkt noch nicht verbüßten Strafrestes gemäß § 36 BtMG für 3 Jahre zur Bewährung ausgesetzt.
Der Verurteilte wurde weiterhin durch das seit 30. Oktober 2020 rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts Goslar vom 22. Oktober 2020 (Az. 22 Ls 100 Js 21815/19) unter Einbeziehung der Einzelstrafe von 7 Monaten wegen versuchten Betruges aus einem Urteil des Amtsgerichts Helmstedt vom 24. April 2019 (10 Ds 100 Js 35493/18) mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten belegt. Die Vollstreckung der genannten Strafe wurde "unter Zurückstellung großer Bedenken" mit Beschluss vom selben Tag ebenfalls für 3 Jahre zur Bewährung ausgesetzt, so dass die Bewährungszeit am 29. Oktober 2023 endet.
Am 27. November 2020 verlängerte das Amtsgericht Goslar (Az. 22 BRs 64/19) die mit Beschluss des Amtsgerichts Fritzlar vom 8. November 2017 bestimmte Bewährungszeit aus Anlass des Urteils vom 22. Oktober 2020 um 1 Jahr auf insgesamt 4 Jahre; sie dauerte somit bis zum 20. November 2021.
Mit Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 29. August 2022 (Az. 34 Ls 504 Js 6380/22) wurde der Beschwerdeführer wegen Betrugs in vier Fällen sowie wegen Urkundenfälschung in einem weiteren Fall mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten belegt (Tatzeiten: Februar bis Juni 2021). Das durch die Sachverständige Dr. A. beratene Amtsgericht führte aus, dass der Verurteilte seit 2003 bereits mehrere (auch stationäre) Drogenentwöhnungshandlungen absolviert habe und die am 29. August 2022 abgeurteilten Taten ebenfalls mit der Drogenabhängigkeit des Verurteilten assoziiert seien. Wegen der weiteren Einzelheiten dieses Urteils wird auf Bl. 72 ff. des Bewährungsheftes 55 BRs 81/22 verwiesen. Die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe aus diesem Urteil wurde inzwischen gemäß § 35 BtMG zurückgestellt und der Verurteilte trat am 23. März 2023 erneut eine Therapie im Therapiezentrum O. an.
Sowohl die Staatsanwaltschaft Göttingen als auch die Staatsanwaltschaft Kassel haben aus Anlass der Straftaten, die dem Urteil vom 29. August 2022 zugrunde liegen, beantragt, die Strafaussetzung zur Bewährung in den vorliegenden Sachen zu widerrufen.
Mit Beschluss vom 22. Februar 2023 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen die Aussetzung der Vollstreckung der beiden o.g. Strafen antragsgemäß widerrufen.
Nach Zustellung des Beschlusses am 13. März 2023 hat der Verurteilte mit einem noch am selben Tag beim Landgericht Göttingen eingegangenen Schreiben vom 14. März 2023 "sofortige Rechtsmittel" eingelegt. Er hat diese in einem weiteren Schreiben vom 15. März 2023 mit der bereits begonnenen Therapie begründet. Er beantrage zudem in Bezug auf die noch zu vollstreckenden Strafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Fritzlar vom 3. August 2010 sowie des Amtsgerichts Goslar vom 22. Oktober 2020 ebenfalls eine Zurückstellung gemäß § 35 BtMG.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 14. April 2023 beantragt, die sofortige Beschwerde zu verwerfen. Wegen der Einzelheiten wird auf die genannte Stellungnahme (55 BRs 80/22 Bd. II Bl. 88 ff.) verwiesen.
II.
Das Rechtsmittel des Verurteilten ist nach der gebotenen Auslegung als sofortige Beschwerde anzusehen, als solche gemäß § 453 Abs. 2 S. 3 StPO statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere sowohl frist- als auch formgerecht erhoben (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO). In der Sache hat die sofortige Beschwerde jedoch keinen Erfolg. Das Landgericht Göttingen hat die Aussetzung der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafen zur Bewährung zu Recht widerrufen.
Denn der Verurteilte hat im Zeitraum von Februar bis Juni 2021 und damit jeweils innerhalb der Bewährungszeit fünf Straftaten von nicht unerheblichem Gewicht begangen. Dadurch hat er gezeigt, dass er die Erwartung künftiger Straffreiheit, die der Strafaussetzung zugrunde gelegen hatte, nicht erfüllt hat.
Es besteht zudem Anlass zu der Besorgnis, der Verurteilte werde erneut Straftaten begehen und ihm kann auch mit Auflagen oder Weisungen im Sinne des § 56 f Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB gegenwärtig keine positive Kriminalprognose gestellt werden. Eine solche Reaktion auf das Fehlverhalten eines Verurteilten ist nur dann ausreichend, wenn aufgrund von Tatsachen erwartet werden kann, dass er künftig - ggf. mit Maßnahmen gemäß § 56 f Abs. 2 Satz 1 StGB - keine Straftaten mehr begehen wird. Dazu reicht allerdings der Wille zu straffreier Führung allein nicht aus. Vielmehr müssen Tatsachen dafür sprechen, dass der Verurteilte auch fähig ist, diesen Willen in die Tat umzusetzen (OLG Braunschweig, Beschluss vom 29. März 2022, 1 Ws 192/21, juris, Rn. 28; KG Berlin, Beschluss vom 12. Januar 2009, 2 Ws 620/08, juris, Rn. 12). Davon ist nicht auszugehen.
Gegen eine positive Kriminalprognose spricht insbesondere die Vielzahl der Vorstrafen und die fortbestehende, nicht hinreichend aufgearbeitete Drogenabhängigkeit des Verurteilten, der seit 2001 regelmäßig Straftaten begeht. Dass der Beschwerdeführer erneut eine Therapie zur Überwindung seiner Drogensucht begonnen hat, begründet eine gewisse Hoffnung, lässt jedoch die Besorgnis neuer Straftaten nicht entfallen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist eine positive Kriminalprognose bei einem Suchtmittelabhängigen nur dann gerechtfertigt, wenn eine Therapie nicht nur begonnen wurde, sondern die begründete Aussicht besteht, dass sie erfolgreich zum Abschluss gebracht wird (OLG Braunschweig, Beschluss vom 13. Februar 2014, 1 Ws 31/14, juris, Rn. 10 m.w.N.; ebenso KG Berlin, Beschluss vom 12. Juli 2018, 5 Ws 98-99/18 - 121 AR 122 und 134/18, juris, Rn. 18 ff.; KG Berlin, Beschluss vom 22. Juni 2000, 5 Ws 370/00, juris, Rn. 4). Dafür besteht angesichts der erst am 23. März 2023 angetretenen und damit noch nicht einmal 2 Monate absolvierten Therapie noch kein Anhalt. Das gilt auch deshalb, weil der Beschwerdeführer, wie unter anderem den Feststellungen des Amtsgerichts Göttingen im Urteil vom 29. August 2022 zu entnehmen ist, vor dieser Drogenentwöhnungsbehandlung bereits mehrere Therapien absolvierte, die allesamt keinen nachhaltigen Erfolg hatten. Vor diesem Hintergrund bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, die aktuelle Therapie werde nun einen solchen Erfolg haben.
Die Entscheidung über den Bewährungswiderruf konnte auch nicht zurückgestellt werden, um den weiteren Verlauf der Therapie abzuwarten. Über den Widerruf einer Strafaussetzung gemäß § 56 f StGB ist vielmehr unabhängig von einer bereits begonnenen Entwöhnungsbehandlung zu entscheiden, sobald das Gericht vom Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen überzeugt ist (OLG Braunschweig, Beschluss vom 29. März 2022, 1 Ws 192/21, juris, Rn. 22; OLG Braunschweig, Beschluss vom 26. September 2011, Ws 280/11, juris, Rn. 9; OLG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22. Dezember 2021, 1 Ws (s) 356/21, juris, Rn. 13; OLG Hamm, Beschluss vom 18. August 2011, 2 Ws 246 und 247/11, juris, Rn. 5; OLG Köln, Beschluss vom 2. Januar 2014, III-2 Ws 720/13, juris, Rn. 15; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 11. Februar 2005, 2 Ws 24/05, juris, Rn. 16 ff.). Ein Abwarten, ob in Zukunft durch ein Fortschreiten der Therapie andere Prognoseumstände eintreten könnten, sieht das Gesetz nicht vor (Hanseatisches OLG Hamburg, a.a.O., Leitsatz 2 und Rn. 15; OLG Hamm, a.a.O.).
Weil der weitere Verlauf einer Therapie nicht abgewartet werden darf, besteht nach Auffassung des erkennenden Senats auch keine Möglichkeit, die Entscheidung über den Widerruf aus Anlass des Beginns der Therapie gemäß § 35 BtMG zurückzustellen. Allein die Regelung in § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG rechtfertigt es aus Sicht des Senats nicht, entgegen der dargestellten Gesetzeslage nach einer Gesamtabwägung von einer Entscheidung gemäß § 56 f StGB doch zeitweise abzusehen, um bei Zurückstellungen gemäß § 35 BtMG die zukünftige Entwicklung abzuwarten (Hubrach in Leipziger Kommentar, StGB, 13. Aufl, § 56 f Rn. 48; a.A.: OLG Celle, Beschluss vom 14. Februar 2012, 1 Ws 54/12, juris, Rn. 4 ff.; offen gelassen: Hanseatisches Oberlandesgericht, a.a.O., Rn. 21). Wenn die Vollstreckung einer Maßregel gemäß § 64 StGB, sofern noch kein Erfolg der Therapie absehbar ist, ein Zuwarten mit der Entscheidung gemäß § 56 f StGB nicht rechtfertigt (OLG Braunschweig, Beschluss vom 26. September 2011, Ws 280/11; OLG Sachsen-Anhalt, a.a.O., Rn. 12; OLG Köln, a.a.O.; OLG Hamm, a.a.O., Rn. 4), kann bei der Zurückstellung gemäß § 35 BtMG nicht allein deshalb anders entschieden werden, weil diese gemäß § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG - sofern nicht auch die Vollstreckung der anderen Strafen zurückgestellt werden kann (dazu: Weber in Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl., § 35 Rn. 291) - zu widerrufen ist, die Unterbringung hingegen wegen § 67 Abs. 1 StGB fortgesetzt werden kann. Vielmehr ist die abweichende Bewertung des Gesetzgebers zu akzeptieren und darf nicht auf dem Umweg über eine unterschiedliche Anwendung von § 56 f StGB umgangen werden.
Letztlich kann diese Rechtsfrage aber dahinstehen, weil die nach der Gegenauffassung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit vorzunehmende Gesamtabwägung im vorliegenden Fall selbst dann keine Zurückstellung der Entscheidung rechtfertigen könnte, wenn eine solche gestattet wäre. Vielmehr ist der Widerruf der Strafaussetzung im Fall des Beschwerdeführers zum Schutz der Allgemeinheit geboten, weil die Therapie erst seit wenigen Wochen erfolgt und ihr erfolgreicher Abschluss mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist.
Dass der Widerruf der Strafaussetzung, soweit es den Strafrest aus dem Urteil des Amtsgerichts Fritzlar vom 3. August 2010 betrifft, nach dem Ende der Bewährungszeit erfolgte, begegnet keinen durchgreifenden Bedenken und zeigt allenfalls die Notwendigkeit, Entscheidungen gemäß § 56 f StGB nicht zurückzustellen. Insbesondere war der Verurteilte nicht durch Vertrauensschutz davor geschützt, dass die Strafaussetzung zur Bewährung auch nach Ende des Bewährungszeitraums noch widerrufen wird. Denn der Verurteilte wurde, wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat, ausreichend darauf hingewiesen, dass auch nach Ende der Bewährungszeit noch Bewährungsmaßnahmen in Betracht kommen.
Die vom Beschwerdeführer begehrte Entscheidung über die Zurückstellung der Vollstreckung des Strafrests aus dem Urteil des Amtsgerichts Fritzlar vom 3. August 2010 und der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Goslar vom 22. Oktober 2020 ist von der Staatsanwaltschaft zu treffen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.