Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 20.04.2023, Az.: 1 ORs 9/23

Entziehungsanstalt; Erfolgsaussicht; Therapiemotivation

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
20.04.2023
Aktenzeichen
1 ORs 9/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 25692
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG Zeven - 07.12.2020
AG Göttingen - 17.03.2022
LG Göttingen - 05.12.2022 - AZ: 4 Ns 17/22

Fundstellen

  • NJW 2023, 1897-1898 "Behandlungsaussichten"
  • RPsych 2023, 426-428

Amtlicher Leitsatz

Die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt ist nur anzuordnen, wenn eine durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit des Behandlungserfolgs besteht; die bloße Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung genügt - zumal bei Vorliegen gewichtiger ungünstiger Faktoren - nicht.

In der Strafsache
gegen
A ,
geboren am in ,
zurzeit: Justizvollzugsanstalt B,
- Verteidiger:
Rechtsanwalt G. -
wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte u. a.
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig
am 20. April 2023 beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 4. kleinen Strafkammer des Landgerichts Göttingen vom 5. Dezember 2022 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt entfällt.

  2. 2.

    Der Tenor des Urteils des Amtsgerichts Göttingen vom 17. März 2022 wird im Schuldspruch dahingehend korrigiert, dass der Angeklagte des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung in drei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in Tatmehrheit mit Beleidigung schuldig ist; zudem entfällt die Feststellung der Tatbegehung aufgrund von Betäubungsmittelabhängigkeit.

  3. 3.

    Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Göttingen verurteilte den Angeklagten wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in Tatmehrheit mit Beleidigung unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Zeven vom 7. Dezember 2020 und Auflösung der dort gebildeten Gesamtgeldstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten. Es stellte fest, dass die Taten aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurden und verurteilte den Angeklagten zu Zahlungen an die Adhäsionskläger. Die hiergegen gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Göttingen mit der Maßgabe verworfen, dass die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet wird.

Laut den Feststellungen zur Person hat der bereits mehrfach vorbestrafte 29 Jahre alte Angeklagte einen Hauptschulabschluss, die Handelsschule brach er ab, über eine Berufsausbildung verfügt er nicht. Er begann im Alter von 16 Jahren mit dem Konsum von Alkohol und Betäubungsmitteln, zunächst Cannabis, später Kokain. Daneben nahm er auch Heroin, Benzodiazepine, LSD und MDPV. Zwei stationäre Suchtbehandlungen in den Jahren 2016 und 2021 blieben ohne nachhaltigen Erfolg. Die sachverständig beratene Kammer ging vom Vorliegen einer Abhängigkeit von Kokain (ICD-10: F 14.2), einem schädlichen Gebrauch von Cannabinoiden (ICD-10: F 12.1) und Alkohol (ICD-10: F 10.1) sowie einem polyvalenten Substanzmissbrauch (ICD-10: F 19.1) aus. Zudem liege bei dem Angeklagten eine stark ausgeprägte narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F 60.8) vor. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt begründete die Kammer mit dem durch die Suchtmittelproblematik begründeten Hang, dem Symptomcharakter der Anlasstaten und der weiterhin bestehenden Gefahr hangbedingter Taten wie Körperverletzungen und Eigentumsdelikten. Zwar könne aufgrund der Persönlichkeitsstörung angenommen werden, dass der Angeklagte sich auch ohne den Substanzkonsum unter Umständen überheblich benommen hätte, jedoch wäre es ihm dann leichter gefallen, sich an die sozialen Normen anzupassen. Es bestehe auch grundsätzlich eine "soeben" hinreichend konkrete Erfolgsaussicht. Die Persönlichkeitsstörung erschwere dabei allerdings die Therapie, weil sie die Gefahr begründe, dass der Angeklagte keine realistische Sicht auf seine Erkrankung und die erforderlichen Behandlungsschritte entwickele, sie könne aber im Maßregelvollzug mitbehandelt werden. Der Sachverständige sei zwar skeptisch, ob der Angeklagte tatsächlich in der Lage sei, die Maßregelbehandlung durchzuhalten. Der Angeklagte habe in der Hauptverhandlung seine Mitwirkungsbereitschaft erklärt und der Versuch, seine Suchtproblematik im Wege einer Unterbringung zu behandeln, sei bisher noch nicht unternommen worden; "wenn überhaupt" sei die Suchtmittelproblematik des Angeklagten in einem solchen Setting möglich. Bei günstigem Verlauf sei mit einer Behandlungsdauer von zwei Jahren zu rechnen.

II.

Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1.

Die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Zwar wird die erstmalige Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht dadurch ausgeschlossen, dass nur der Angeklagte Berufung eingelegt hat, § 331 Abs. 2 StPO. Die Feststellungen des Landgerichts belegen jedoch keine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht, den Angeklagten während der Dauer der Unterbringung zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf seinen Hang zurückgehen, § 64 Satz 2 StGB.

Die Kammer stützt die Annahme einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht letztlich nur auf die in der Hauptverhandlung erklärte Therapiebereitschaft und den Umstand, dass eine Behandlung des Angeklagten, "wenn überhaupt", nur im Setting einer Maßregelvollzugseinrichtung möglich erscheine. Das Fehlen erfolgversprechender alternativer Behandlungsmöglichkeiten ist indes nicht geeignet, die Erfolgsaussicht zu begründen. Die erklärte Therapiemotivation ist zwar ein gewichtiger Faktor, der für die Erfolgsaussicht sprechen kann. Sie allein sowie die bloße Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung vermögen jedoch bei Vorliegen gewichtiger ungünstiger Faktoren grundsätzlich nicht die Prognose eines hinreichend konkreten Therapieerfolges zu stützen (BGH, Beschluss vom 10. November 2022, Az.: 2 StR 132/22, Rn. 8; BGH, Urteil vom 10. April 2014, Az.: 5 StR 37/14, Rn. 7; Beschluss vom 8. Oktober 2019, Az.: 4 StR 421/19, Rn. 19 und Beschluss vom 13. Januar 2010, Az.: 2 StR 519/09, Rn. 4, jeweils zit. nach juris). Notwendig ist vielmehr eine durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit des Behandlungserfolgs (BGH, Beschluss vom 23. November 2021, Az.: 4 StR 289/21, Rn. 3, zit. nach juris), die mithilfe von Anhaltspunkten in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Angeklagten darzulegen ist (BGH, Beschluss vom 10. November 2022, Az.: 2 StR 132/22, Rn. 8; Beschluss vom 18. Dezember 2007, Az.: 3 StR 516/07, Rn. 5, jew. zit. nach juris). Eine solche Erfolgswahrscheinlichkeit ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht. Aus diesen folgt allenfalls die theoretische Möglichkeit, der Angeklagte könnte die Behandlung mit Gewinn abschließen.

2.

Da die Voraussetzungen des § 64 StGB auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen ausscheiden, erkennt der Senat in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO auf den Wegfall der Maßregel (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2019, Az.: 1 StR 433/19, Rn.10; BGH, Beschluss vom 28. August 2013, Az.: 4 StR 277/13, Rn. 8, jew. zit. nach juris). Es ist auszuschließen, dass eine neue Verhandlung Feststellungen ergeben könnte, die eine Anordnung der Maßregel rechtfertigen würden. Denn es sind über die erklärte Therapiemotivation hinaus keine Umstände erkennbar, die im Rahmen der erforderlichen Abwägung (BGH, Beschluss vom 1. März 2022, Az.: 2 StR 28/22, Rn. 8, zit. nach juris) für die notwendige Erfolgswahrscheinlichkeit sprechen. Hingegen finden sich in den Urteilsgründen weitere Aspekte, die neben der bereits von der Kammer erwähnten Komorbidität die gegenteilige Bewertung rechtfertigen. So hat der Angeklagte bereits zwei frühere stationäre Suchtbehandlungen in den Jahren 2016 und 2021 ohne nachhaltigen Erfolg durchlaufen (UA S. 3). Auch ist die Ernsthaftigkeit der von dem Angeklagten erklärten Therapiebereitschaft schon deshalb anzuzweifeln, weil er nicht einmal bereit war, seine damaligen Therapeuten gegenüber dem Sachverständigen von der Schweigepflicht zu entbinden, um diesem und der Kammer nähere Informationen zu Inhalt und Verlauf der bisherigen Suchtbehandlungen zu geben. Schließlich kommt hinzu, dass der Angeklagte während der Hauptverhandlung nahezu permanent dazwischenredete, Abläufe nur selten konzentriert und folgerichtig im Zusammenhang schildern konnte und wesentliche Teile seiner Einlassung fragmentarisch blieben (UA S. 7). Es erscheint äußerst unwahrscheinlich, dass jemand, der schon nicht in der Lage ist, sich für die vergleichsweise kurze Dauer einer Hauptverhandlung zu konzentrieren und dabei ein Mindestmaß an Kommunikationsregeln zu beachten, in der Lage wäre, Therapiegesprächen und Gruppenmaßnahmen konzentriert und aufnahmebereit zu folgen sowie die dabei vermittelten Inhalte ausreichend zu internalisieren.

3.

Soweit es den Schuldspruch betrifft, bestand lediglich Anlass zu einer Korrektur des Tenors der amtsgerichtlichen Entscheidung. Der Senat hat zunächst wegen der Adhäsionsentscheidung die gleichartige Tateinheit zum Ausdruck gebracht (vgl. dazu: Tiemann in Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl. 2023, § 260 Rn. 34). Der Schuldspruch hat ferner - entsprechend der gesetzlichen Überschrift des § 223 StGB - allein auf Körperverletzung zu lauten. Der Zusatz der vorsätzlichen Tatbegehung ist in die Urteilsformel nicht mit aufzunehmen (BGH, Beschluss vom 29. Juli 1992, Az.: 3 StR 61/92, Rn. 2, zit. nach juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 6. Januar 2021, Az.: 1 Ss 77/20, nicht veröffentlicht). Die Feststellung unter Ziffer 2 des Tenors, dass die Tat aufgrund von Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde, gehört ebenfalls nicht in die Urteilsformel, § 260 Abs. 4 StPO. Es ist lediglich unter den Voraussetzungen des § 260 Abs. 5 Satz 2 StPO - wie hier zutreffend geschehen - § 17 Abs. 2 BZRG in der Liste der anwendbaren Vorschriften anzuführen. Derartige Formulierungen im Tenor widersprechen dem Gebot, die Urteilsformel in knapper, verständlicher Sprache abzufassen und sie von allem freizuhalten, was nicht unmittelbar der Erfüllung ihrer Aufgabe dient (BGH, Beschluss vom 12. Oktober 1977, Az.: 2 StR 410/77, Rn. 4, zit. nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 260 Rn. 20 m. w. N.).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO. Im vorliegenden Fall ist es trotz des Wegfalls der Maßregel nicht unbillig, dem Angeklagten die gesamten Rechtsmittelkosten aufzuerlegen. Die Vorschrift des § 473 Abs. 4 StPO kommt nicht zur Anwendung. Sie setzt voraus, dass der Beschwerdeführer das Rechtsmittel nicht eingelegt hätte, wenn schon das angefochtene Urteil so gelautet hätte wie das des Rechtsmittelgerichts (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 473 Rn. 26). Davon ist hier - auch angesichts der vom Angeklagten bekundeten Therapiebereitschaft - nicht auszugehen.