Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 08.06.2023, Az.: 1 ORbs 48/23

Bußgeld wegen ordnungswidrigen Verhaltens im Straßenverkehr

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
08.06.2023
Aktenzeichen
1 ORbs 48/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 31572
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2023:0608.1ORBS48.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
AG Göttingen - 16.02.2023 - AZ: 61 OWi 482 Js 40228/22 (456/22)

Fundstellen

  • StRR 2023, 6
  • VRR 2023, 3

Amtlicher Leitsatz

Die Erwägung, dass die Anwesenheit des Betroffenen, der im Vorfeld der Hauptverhandlung sein Schweigen angekündigt hat, verspreche weitere Sachaufklärung, ist vom Bußgeldgericht zu begründen.

In der Bußgeldsache
gegen
J. B. K. ,
geboren am ....2002,
wohnhaft .....,
- Verteidiger:
Rechtsanwalt D. A., ......
wegen ordnungswidrigen Verhaltens im Straßenverkehr
hat die Einzelrichterin des Senats für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts
Braunschweig am 8. Juni 2023 beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 16. Februar 2023 wird zugelassen.

  2. 2.

    Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 16. Februar 2023 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Göttingen zurückverwiesen.

Gründe

I.

Mit Bußgeldbescheid vom 1. August 2022 verhängte die Stadt Göttingen gegen den Betroffenen eine Geldbuße von 100 € wegen des Vorwurfs, er habe am 15. Juli 2022 um 12:15 Uhr als Führer des PKW Ford, ...-... ...., in vorschriftswidriger Weise ein elektronisches Gerät benutzt, das der Kommunikation, Information oder Organisation dient oder zu dienen bestimmt ist.

Nach rechtzeitigem Einspruch seines Verteidigers gegen den Bußgeldbescheid beraumte das Amtsgericht Göttingen zunächst Termin auf den 20. Dezember 2022 an und ordnete das persönliche Erscheinen des Betroffenen an. Wegen Erkrankung des Verteidigers wurde der Termin auf den 16. Februar 2023 verlegt. Die Beteiligten wurden zu dem neuen Termin geladen. Mit Schriftsatz vom 4. Januar 2023 beantragte der Verteidiger, den Betroffenen von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im Termin zur Hauptverhandlung zu entbinden. Er räume seine Fahrereigenschaft zum vorgeworfenen Zeitpunkt ein, werde ansonsten aber in Person unter keinen Umständen Angaben zur Sache und zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen machen. Zugleich übersandte der Verteidiger eine Vertretungsvollmacht, aus der sich ergibt, dass er bevollmächtigt ist, den Betroffenen in seiner Abwesenheit zu vertreten.

Mit Beschluss vom 16. Januar 2023, dem Verteidiger zugestellt am 23. Januar 2023, entband das Amtsgericht Göttingen nicht von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen im Termin am 16. Februar 2023. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass die Anwesenheit des Betroffenen zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes erforderlich sei. Da die geladenen Zeugen nach Aktenlage vor Ort persönlich im Kontakt mit dem Betroffenen gestanden haben sollten, sei die Anwesenheit des Betroffenen - auch wenn er sich nicht einlassen wolle - zur Sachaufklärung erforderlich.

Nachdem weder der Betroffene noch der Verteidiger zu dem Termin am 16. Februar 2023 erschienen, hat das Amtsgericht Göttingen mit Urteil vom 16. Februar 2023 den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der Stadt Göttingen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen.

Nach Zustellung des Verwerfungsurteils an den Verteidiger am 2. März 2023 hat dieser mit Schreiben vom 2. März 2023, eingegangen beim Amtsgericht Göttingen per beA am selben Tage, die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt und diese zugleich mit der Verletzung des rechtlichen Gehörs sowie mit der Sachrüge begründet.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 16. Februar 2023 gem. § 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 80 Abs. 4 Satz 3 OWiG als unbegründet zu verwerfen.

II.

1.

Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist nach § 80 Abs. 3 und Abs. 2 OWiG i. V. m. § 79 Abs. 1 S. 2 OWiG statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Er hat auch in der Sache - zumindest vorläufig - Erfolg, da dem Betroffenen das rechtliche Gehör versagt worden ist.

Die Verfahrensrüge des Betroffenen, mit der er die Verletzung des § 73 Abs. 2 OWiG und die Gesetzeswidrigkeit der Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG geltend macht, genügt den Anforderungen der §§ 80 Abs. 3 S. 1, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i. V. m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Danach muss bei einer Verfahrensrüge der Tatsachenvortrag so vollständig sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein aufgrund der Begründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, falls das tatsächliche Vorbringen des Betroffenen zutrifft (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 12. März 2009, 4 Ss OWi 173/09, juris, Rn. 5). Zur Erfüllung dieser Voraussetzungen muss der Betroffene darlegen, aus welchen Gründen der Tatrichter von seiner Anwesenheit in der Hauptverhandlung einen Beitrag zur Sachverhaltsaufklärung unter keinen Umständen hätte erwarten dürfen. Hierzu ist erforderlich, den im Bußgeldbescheid erhobenen Tatvorwurf und die konkrete Beweislage im Einzelnen vorzutragen. In diesem Zusammenhang ist in aller Regel auch darzulegen, wann und mit welcher Begründung der Antrag auf Entbindung von der Erscheinenspflicht gestellt worden ist und - sofern das Gericht den Antrag beschieden hat - wie das Gericht entschieden hat. Da der Anspruch auf rechtliches Gehör zudem nur dann verletzt ist, wenn die erlassene Entscheidung auf einem Verfahrensfehler beruht, der seinen Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags einer Partei hat, müssen in der Begründungsschrift konkret die Tatsachen dargelegt werden, anhand derer die Beruhensfrage geprüft werden kann. Ferner muss der Rechtsbeschwerdebegründung zu entnehmen sein, ob der Verteidiger durch den Betroffenen ausreichend bevollmächtigt gewesen ist, den Entbindungsantrag für ihn zu stellen (OLG Hamm, Beschluss vom 19. November 2008, 4 Ss OWi 456/08, juris, Rn. 6, m. w. N.; Beschluss vom 22. Juni 2011, III-5 RBs 53/11, juris, Rn. 5).

Vorliegend ist die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe dem Antrag des Betroffenen, ihn gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von der gesetzlichen Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, zu Unrecht nicht entsprochen und daher durch die Verwerfung seines Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, ordnungsgemäß ausgeführt. Auch hat der Betroffene dargelegt, was das Amtsgericht bei seiner Entscheidung unberücksichtigt gelassen hat, nämlich seine Ausführungen in den vorbereitenden Schriftsätzen dahingehend, dass er von den Polizeibeamten nicht ordnungsgemäß belehrt, der Bußgeldbescheid nicht wirksam erlassen worden sei sowie dass eine Doppelverfolgung des Tatvorwurfs vom 15. Juli 2022, 12:15 Uhr, vorliege.

2.

Die Rüge ist auch begründet. Der Betroffene war vorliegend nach § 73 Abs. 2 OWiG von seiner Anwesenheitspflicht zu entbinden. Die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid gem. § 74 Abs. 2 OWiG nach abschlägiger Bescheidung des Entbindungsantrages war rechtsfehlerhaft.

Nach § 73 Abs. 2 OWiG entbindet das Gericht einen Betroffenen auf seinen Antrag von seiner Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Dabei ist zu beachten, dass die Entscheidung über den Entbindungsantrag nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt wird. Dieses ist vielmehr verpflichtet, dem Antrag zu entsprechen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 8. März 2005, Ss (OWi) 141/05, juris, Rn. 6; KG Berlin, Beschluss vom 11. Dezember 2017, 3 Ws (B) 310/17, juris, Rn. 8 m.w.N.).

Diese Voraussetzungen lagen vor. Der Betroffene hat in dem Entbindungsantrag vom 4. Januar 2023 im Hinblick auf die anberaumte Hauptverhandlung erklärt, er werde weder Angaben zur Sache noch zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen machen. Damit war klargestellt, dass von der persönlichen Anwesenheit des Betroffenen in dem Hauptverhandlungstermin keine weitere Aufklärung des Tatvorwurfs zu erwarten war (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Februar 2012, 2 Rbs 13/12, juris, Rn. 4).

Zwar kann die Anwesenheit eines Betroffenen in der Hauptverhandlung, der sein Schweigen zum Tatvorwurf angekündigt hat, im Einzelfall unverzichtbar sein, wenn nur dadurch die gebotene Sachaufklärung möglich ist (vgl. Senge in: Karlsruher Kommentar, OWiG, 4. Aufl., § 73, Rn. 31) und ist auch dem Tatrichter bei der Beurteilung der Frage, ob die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes erforderlich ist, grundsätzlich ein weiter Ermessenspielraum einzuräumen. Jedoch genügen rein spekulative Erwägungen, die Anwesenheit eines Betroffenen könne in der Hauptverhandlung zu einem Erkenntnisgewinn führen, nicht (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 10. Juli 2007, 2 Ss 160/07, juris, Rn. 7f.; OLG Naumburg, Beschluss vom 23. Januar 2007, 1 Ss (B) 210/06, juris, Rn. 11; OLG Bamberg, Beschluss vom 7. August 2007, 3 Ss OWi 764/07, juris, Rn. 8; KG Berlin, Beschluss vom 10. März 2011, 3 Ws (B) 78/11, juris, Rn. 5).

So liegt der Fall hier. Soweit das Amtsgericht in seinem Beschluss vom 16. Januar 2023 (nur) ausgeführt hat, dass die Zeugen nach Aktenlage persönlichen Kontakt zu dem Betroffenen gehabt hätten, ist nicht ersichtlich, inwiefern dieser Umstand weitere Sachaufklärung verspricht. Insbesondere bedurfte es - nachdem der Betroffene die Fahrereigenschaft eingeräumt hatte - keiner Gegenüberstellung mit den Zeugen. Eine nähere Begründung, aus welchen Gründen das Amtsgericht sich trotz der Angabe des Betroffenen, er werde sich nicht weiter einlassen, eine weitere Sachaufklärung erhofft hat, fehlt.

3.

Weil der Betroffene bereits mit der Verfahrensrüge durchdringt, kommt es auf die daneben allgemein erhobene Sachrüge nicht mehr an.

III.

Aufgrund des vorgenannten Rechtsfehlers ist das angefochtene Urteil gemäß § 353 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG aufzuheben und die Sache gem. § 79 Abs. 6 OWiG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Für eine in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 2 StPO grundsätzlich zulässige Zurückweisung an eine andere Abteilung besteht allerdings kein Anlass.

Die Entscheidung über die Kosten der Rechtsbeschwerde war dem Amtsgericht vorbehalten, da der endgültige Erfolg des Rechtsmittels noch nicht abzusehen ist.