Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 24.10.2000, Az.: 6 B 448/00
Ausnahmegenehmigung; Konfliktlage; Schulangst; Schulbezirk; Schulbezirkseinteilung; Strafanzeige
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 24.10.2000
- Aktenzeichen
- 6 B 448/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 41265
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 63 Abs 3 SchulG ND
- Art 6 Abs 1 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Zum Anspruch auf den Besuch einer anderen Schule bei Angstzuständen des Schülers, die ihren Grund in einer von der bisherigen Schule wesentlich mit herbeigeführten Konfliktlage zum Elternhaus haben.
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab dem Schuljahr 2000/00 vorläufig den Besuch der Grundschule in Wolfsburg zu gestatten.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4.000,-- DM festgesetzt.
Gründe
I.
Der am 01. März 1993 geborene Antragsteller besuchte seit dem Beginn seiner Schulpflicht (01. August 1999) zunächst die 1. Klasse der Grundschule in Wolfsburg. Als er im Januar 2000 mit seinen Eltern nach umzog, wechselte er in die 1. Klasse der Grundschule . Im Verlauf des Schuljahres kam es zwischen den Eltern des Antragstellers und seiner Klassenlehrerin zu wiederholten Gesprächen hinsichtlich des Verhaltens und der Arbeitseinstellung des Antragstellers. Die von dem Antragsteller als herabsetzend und benachteiligend empfundene Behandlung durch die Lehrerin führte dazu, dass der Antragsteller Angstzustände entwickelte, so dass er sich in ärztliche Behandlung begeben musste und zu Beginn des 2. Schuljahres zunächst krank geschrieben wurde. Anschließend wurde er wieder von der Grundschule aufgenommen, wo er seitdem die 2. Klasse besucht.
Am Ende des 1. Schuljahres war dem Antragsteller ein Zeugnis erteilt worden, das den schulrechtlichen Vorgaben einer Zeugniserstellung nicht entsprach und auf Veranlassung der Antragsgegnerin durch ein sachgerechtes Berichtszeugnis ersetzt wurde. Aus Anlass von Äußerungen des Schulleiters der Grundschule über das Erfordernis von Erziehungshilfe wurde der Antragsteller von seinen Eltern einer Schulpsychologin vorgestellt, die sich für einen Wechsel in die Parallelklasse oder für einen Schulwechsel aussprach. Außerdem wurden die Lern- und Leistungsmöglichkeiten des Antragstellers am 01. August 2000 vom Zentrum für Entwicklungsdiagnostik und Sozialpädiatrie des Klinikums der Stadt Wolfsburg untersucht und als durchschnittlich mit Schwierigkeiten bei der Wiedergabe von Zahlen beurteilt; im Hinblick auf die Differenzen zwischen dem Antragsteller und seinen Eltern mit der Klassenlehrerin wurde eine Umsetzung in die Parallelklasse angeraten. Die von dem Antragsteller seinen Eltern berichtete Behandlung durch die Klassenlehrerin im Unterricht hat inzwischen zu einer Strafanzeige der Eltern wegen Körperverletzung geführt.
Mit einem zur Weiterleitung an die Antragsgegnerin bestimmten Antrag vom 31. August 2000 suchten die Eltern des Antragstellers bei der Grundschule für ihren Sohn um eine Genehmigung zum Besuch der Grundschule nach. Diesen Antrag lehnte die Grundschule mit Bescheid vom 31. August 2000 als unbegründet ab und empfahl stattdessen ein freiwilliges Zurücktreten in die 1. Klasse.
Am 05. September 2000 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht. Aus Anlass des gerichtlichen Verfahrens befasste sich der schulfachliche Dienst der Antragsgegnerin unter Beteiligung der Schulpsychologin mit der Angelegenheit. In dem Bericht vom 07. September 2000, auf den wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen wird, wurde u.a. ausgeführt, dass der Antragsteller offensichtlich Angst vor der bisherigen Klassenlehrerin zeige und das Verhältnis zwischen den Eltern und der Lehrerin nicht vertrauensvoll sei. Die Schulpsychologin, die zunächst einen Klassenwechsel empfohlen hatte, rate inzwischen im Interesse der Entwicklung des Kindes zu einem Schulwechsel an die Grundschule . Dieser Empfehlung sei der Vorzug zu geben vor einer Umsetzung in eine Parallelklasse der Grundschule , auch wenn eine solche Umsetzung keine besondere Härte für den Schüler bedeuten würde.
Mit Verfügung vom 15. September setzte daraufhin die Grundschule den Antragsteller in die Parallelklasse 2b um.
Der Antragsteller, der weiterhin einen Schulwechsel an die Grundschule in Wolfsburg anstrebt, trägt zur Begründung vor:
Eine weitere Beschulung der Grundschule wäre mit schwerwiegenden Folgen für seine Entwicklung verbunden. Ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung sei ein gesundheitlicher Schaden zu befürchten. Außerdem sei das notwendige Vertrauensverhältnis zu der Klassenlehrerin und der Schule nachhaltig gestört. Sowohl aus pädagogischen Gründen als auch unter dem Gesichtspunkt einer unzumutbaren Härte müsse dem Antrag entsprochen werden. Die mit der Angelegenheit befassten Ärzte und Psychologen hätten ebenfalls zu einem Schulwechsel geraten. Wie sich aus einem Schülerbeobachtungsbericht seines derzeitigen Klassenlehrers an der Grundschule ergebe, sei bei ihm seit der Unterrichtung an dieser Schule die Schulangst gewichen und habe sich wieder Freude am Unterricht eingestellt. Er benötige eine neutrale Lernumgebung, die in einer Parallelklasse der Grundschule nicht vorhanden sei. Von seiner früheren Klassenlehrerin sei er oft geschüttelt und als "Teufel" bezeichnet worden. In einem Fall habe die Lehrerin in einer Nachricht an seine Eltern geschrieben, dass er mit Steinen geworfen und ein Mädchen getroffen habe, obwohl die Lehrerin dies selbst nicht beobachtet habe. Noch vor der Aufklärung des Vorfalls, die seine Unschuld ergeben habe, sei er von der Lehrerin bestraft worden. In einem weiteren Fall habe die Lehrerin, deren Korb er versehentlich umgestoßen habe, ihn angeschrien und derart heftig geschüttelt, dass dies ihm wehgetan habe und er habe weinen müssen. Die Schulangst, die schon zu einem nächtlichen Einnässen geführt habe, beziehe sich auf die Grundschule als solche, wo ihm diese Behandlung widerfahren sei, und nicht nur auf die frühere Klasse.
Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig den (weiteren) Besuch der Grundschule X. zu gestatten.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie entgegnet:
Eine Dringlichkeit der begehrten Entscheidung sei nicht zu erkennen. Gegen den Bescheid der Grundschule R. vom 31. August 2000 sei bisher ein Widerspruch nicht erhoben worden. Die Schule habe außerdem am 15. September 2000 eine Umsetzung des Antragstellers in die Parallelklasse verfügt. Es fehle zudem an einem Anordnungsanspruch. Die nach dem Wohnort des Antragstellers zuständige Schule sei die Grundschule . Der Besuch dieser Schule stelle für ihn und seine Eltern weder eine unzumutbare Härte dar noch sei ein Schulwechsel aus pädagogischen Gründen geboten. Die von den Eltern des Antragstellers geschilderte "spannungsgeladene Beziehung" zur Klassenlehrerin habe sich mit der Umsetzung in die Parallelklasse erledigt. Weder aus medizinischen noch aus pädagogischen Gründen sei ein Schulwechsel indiziert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um von dem Rechtsuchenden wesentliche Nachteile abzuwenden. Insoweit ist von dem Antragsteller sowohl die Eilbedürftigkeit der angestrebten gerichtlichen Maßnahme (Anordnungsgrund) als auch ein bestehender Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben. Eine Eilbedürftigkeit der Angelegenheit ist schon deshalb anzunehmen, weil dem Antragsteller, der entgegen einer Weisung der Antragsgegnerin von der Grundschule unterrichtet wird, jederzeit mit einer schulbehördlichen Maßnahme zu rechnen hat, die seine Rückführung zur Grundschule zum Gegenstand hat. Demgegenüber kommt dem Umstand, dass von den Eltern des Antragstellers ein Widerspruch gegen den Bescheid der Grundschule vom 31. August 2000 bisher - soweit ersichtlich - nicht erhoben worden ist, keine für das gerichtliche Eilverfahren erhebliche Bedeutung zu. Abgesehen davon, dass die Grundschule als unzuständige Behörde über den Antrag befunden hat, soweit eine Ablehnung in Betracht kommt (Nr. 3.6.2. der VwV zu § 63 NSchG), richtet sich das Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Antragsgegnerin.
Schließlich liegt nach der in diesem Verfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sachlage auch ein Anordnungsanspruch des Antragstellers vor, der in einem nachfolgenden Hauptsacheverfahren überwiegender Wahrscheinlichkeit zum Klageerfolg führen würde.
Nach § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG kann der Besuch einer anderen Schule gestattet werden, wenn der Besuch der zuständigen Schule für den betreffenden Schüler oder seine Familie eine unzumutbare Härte darstellen würde (§ 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 NSchG) oder der Besuch der anderen Schule aus pädagogischen Gründen geboten erscheint (§ 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 NSchG). Diese die Erfüllung der Schulpflicht betreffende Regelung lässt nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nur Ausnahmeentscheidungen zu, die sich an dem Sinn und Zweck der Regelung ausrichten (LT-Ds. 13/3635 S.3; Sten.Ber.7/9963, 7/9965). Die Befugnis des Staates zu bestimmen, an welcher Schule die Schulpflicht zu erfüllen ist, schränkt die Grundrechte der Eltern und Schüler aus Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG in zulässiger Weise ein. Das vom Gesetzgeber grundsätzlich als vorrangig bewertete öffentliche Interesse an einer sinnvollen Nutzung der mit öffentlichen Mitteln geschaffenen schulischen Einrichtungen steht dem Interesse des schulpflichtigen Kindes und seiner Eltern gegenüber, die nach ihren persönlichen Wünschen und familiären Gegebenheiten am Besten entsprechende Schule besuchen zu können. Dieser Interessenkonflikt ist in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des erzieherischen Erfordernisses in Bezug auf das betroffene Kind zu lösen.
Nach Maßgabe dieser Grundsätze kann eine besondere individuelle Ausnahmesituation im Sinne des § 63 Abs. 3 NSchG nur angenommen werden, wenn die Nachteile des Besuchs der zuständigen Pflichtschule ungleich schwerer wiegen als das öffentliche Interesse an der Erfüllung der Schulbezirkseinteilung. Eine solche Sachlage ist hier zugunsten des Antragstellers anzunehmen.
Der Besuch der Grundschule würde vor allem für den Antragsteller, aber auch für seine Eltern zu einer individuellen Ausnahmesituation mit nachteiligen Folgen führen, die hinzunehmen ihnen nicht zuzumuten ist. Ungeachtet der Anteile aller Beteiligten im Einzelnen an der derzeitigen Konfliktlage zwischen dem Antragsteller, seinen Eltern und der Grundschule ist das Verhältnis zu dieser Schule derart nachhaltig gestört, dass in Bezug auf den Antragsteller dem Bildungsauftrag an dieser Schule - auch in einer Parallelklasse - nicht mehr sachgerecht entsprochen werden kann. Hierdurch haben sich bei dem Antragsteller Angstzustände gegenüber der Schule entwickelt, die wegen ihrer körperlichen und psychischen Auswirkungen eine ärztliche und psychologische Betreuung des Antragstellers erforderlich werden ließen. Nach der Auffassung der Schulpsychologin und der beteiligten Ärzte ist ein Schulwechsel die am vordringlichsten anzustrebende Maßnahme zur Konfliktlösung und damit pädagogisch geboten. Eine Umsetzung in die Parallelklasse derselben Schule würde eine Begegnung des Schülers mit seiner früheren Klassenlehrerin nicht ausschließen und einem Abbau der Schulangst nicht förderlich sein. Darauf, dass die Entwicklung solcher Angstzustände überzogen sein könnte, kommt es nicht maßgeblich an. Dies kann seinen Grund darin haben, dass der Schüler einen solchen Zustand nicht zu steuern vermag; auch ein fachkundiges Einwirken auf die Psyche des Antragstellers dürfte jedenfalls nach der dem Gericht vorliegenden Erkenntnislage nicht kurzfristig zu einer Änderung der Sinneshaltung gegenüber der Grundschule führen. Hierzu besteht indes in Anbetracht der für solche Fälle vom Gesetz eröffneten Möglichkeit auch kein Grund. Nach Lage des Falles ist davon auszugehen, dass der Antragsteller derzeit an der Grundschule frei von Schulängsten unterrichtet und angemessen gefördert werden kann.
Hinzu kommt, dass ein Vertrauen der Eltern in eine sachgerechte Förderung und Betreuung ihres Sohnes an der Grundschule nicht mehr besteht. Für den Verlust dieses Vertrauens hat die Grundschule die wesentliche Ursache gesetzt, indem sie dem Antragsteller ein fehlerhaftes Zeugnis mit überzogenen Formulierungen zu dem Lernstand erteilt und sich zu einer Umsetzung in eine andere Klasse auch in Kenntnis der sichtbar gewordenen gestörten Beziehungen des Antragstellers zu seiner Klassenlehrerin erst auf Veranlassung der vorgesetzten Schulbehörde bereit erklärt hat. Gerade der Umstand, dass es sich bei dem Antragsteller nicht um einen in jeder Hinsicht problemlosen Schüler gehandelt hat, hätte Veranlassung zu besonders sorgfältiger Prüfung der gebotenen Maßnahmen geben müssen. Ob sich der von den Eltern des Antragstellers gegen die Klassenlehrerin gerichtete Strafantrag als haltlos erweist, ist in diesem Zusammenhang nicht mehr von maßgeblicher Bedeutung.
Dem Antrag ist deshalb mit der der Antragsgegnerin aus § 154 Abs. 1 VwGO nachteiligen Kostenfolge zu entsprechen. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG und beläuft sich auf die Hälfte des in einem Hauptsacheverfahren anzunehmenden Wertes.