Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 15.08.2014, Az.: 6 A 9853/14

inländische Fluchtalternative; Irak; Yeziden; Gruppenverfolgung; Islamischer Staat; Verfolgung; interner Schutz

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
15.08.2014
Aktenzeichen
6 A 9853/14
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 42531
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Angesichts der seit dem 10. Juni 2014 eingetretenen veränderten Sicherheitslage droht Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft in der Provinz Niniwe (Mosul) eine allein an ihren Glauben anknüpfende Verfolgung in der Gestalt von Gefahren für Leib und Leben sowie in der Gestalt von Vertreibung, vor der sie weder effektiven Schutz von Seiten des irakischen Staats noch seitens schutzbereiter Organisationen erhalten können und vor der sie auf absehbare Zeit auch in anderen Gebieten des irakischen Staatsgebiets keinen ausreichenden internen Schutz erlangen.

Tatbestand:

Der am xx. xx. 1996 in Serejka (Bezirk Tel Kef, Provinz Niniwe) geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Abstammung und gehört der Glaubensgemeinschaft der Yeziden an.

Der Kläger verließ den Irak im November 2012 gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in Richtung Türkei. Nachdem er dort von seinen Angehörigen getrennt worden war, gelangte er im Dezember 2012 als unbegleiteter Jugendlicher mit Schleuserhilfe versteckt in einem Lastwagen auf dem Landweg nach Deutschland.

Am 5. Februar 2013 stellte der Kläger einen Asylantrag. Bei der am xx. xx. 2013 durchgeführten persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erklärte der Kläger im Wesentlichen, sein Vater sei vor neun Jahren bei der Arbeit auf seinem Land zusammengeschlagen worden und an den Folgen der Schläge gestorben. Feindliche Araber hätten damals seiner Familie die landwirtschaftlich genutzten Grundstücke weggenommen und die Familie daraufhin in den Folgejahren immer wieder bedroht, weil seine Mutter diesen Leuten die Grundstückspapiere nicht habe aushändigen wollen. Im Juli 2012 habe ihm seine Mutter letztmalig von den Drohungen der Araber berichtet. Seine Familie sei für die Finanzierung ihrer Ausreise aus dem Irak von einem in Sheikhan lebenden Onkel unterstützt worden.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 5. Juni 2014 als unbegründet ab. Es stellte - gestützt auf die bis zum Zeitpunkt des Bescheides vorliegenden Erkenntnisse über die Lage der yezidischen Bevölkerung des Irak - ferner fest, dass dem Kläger weder die Flüchtlingseigenschaft noch der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt werde und dass auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorlägen. Daneben drohte es dem Kläger die Abschiebung in den Irak oder in einen anderen Staat an.

Der Kläger hat am 24. Mai 2013 Klage gegen die Entscheidung des Bundesamtes erhoben, mit der er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung von subsidiärem Schutz, weiter hilfsweise die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote beansprucht. Zur Klagebegründung trägt der Kläger vor, dass im Irak ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zwischen der irakischen Regierung und der islamischen Terrorgruppierung ISIS herrsche. Die Gruppierung habe mehrere Städte und die gesamte Provinz Mosul unter ihrer Kontrolle. Als Folge dieses Konflikts seien bereits mehr als 500.000 Menschen aus der Provinz geflohen. Nach Schätzung der Vereinten Nationen und Berichten der Internationalen Organisation für Migration befänden sich ca. 1 Million Menschen auf der Flucht aus den umkämpften Gebieten. Die religiösen Minderheiten in der Provinz Mosul seien der islamischen Terrorgruppe schutzlos ausgeliefert. Die Gruppe gehe wie in Syrien so auch im Irak mit absoluter Brutalität gegen Menschen, die sich ihrer Sache des Aufbaus eines islamischen Gottesstaates nicht anschlössen, vor. Angehörige religiöser Minderheiten aus der Provinz Mosul wie die Yeziden seien daher in den der Kontrolle der ISIS unterworfenen Gebieten einer verstärkten Verfolgung ausgesetzt.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juni 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise ihm den subsidiären Schutz zuzuerkennen,

weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung des Klageabweisungsantrags bezieht sich die Beklagte auf die Gründe des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juni 2014.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (C.) verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die das Verwaltungsgericht im erklärten Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist gemäß §§ 3 Abs. 4, 30 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG und § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG verpflichtet, die Feststellung zu treffen, dass dem Kläger internationaler Schutz in Gestalt der Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. Der Kläger erfüllt in dem nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die in den §§ 3 ff. AsylVfG näher bestimmten Voraussetzungen eines Flüchtlingsschutzes wegen politischer Verfolgung.

Der angegriffene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juni 2014 ist, soweit er der Verpflichtung des Bundesamtes entgegensteht, rechtswidrig. Er verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aus diesem Grund nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO insoweit aufzuheben, was die Aufhebung der Abschiebungsandrohung mit der Zielstaatsbezeichnung des Irak einschließt.

Ein Ausländer kann internationalen Schutz in Gestalt der Feststellung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG in Anspruch nehmen, wenn er Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist. Dies ist der Fall, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. In diesem Fall darf er nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht in den Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit aus den vorstehend genannten Verfolgungsgründen bedroht sind.

Die begründete Furcht vor einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG kann auch auf Tatsachen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, wobei es für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ohne Belang ist, ob diese auf einem eigenen Verhalten des Schutzsuchenden oder auf von ihm nicht zu beeinflussenden Umständen beruhen (§ 28 Abs. 1a AsylVfG). Insoweit kommt es allein darauf an, ob er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Herkunftslandes aufhält. Hat der so Schutz Suchende sein Herkunftsland unverfolgt verlassen, muss er glaubhaft machen, dass ihm wegen vorgetragener Nachfluchtgründe mit beachtlicher, also überwiegender Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgung droht, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 -, BVerwGE 128, 199 ff. = NVwZ 2007 S. 1089 ff.). Dies entspricht dem für die für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG ist, unionsrechtlich einheitlichen Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr eines Schadenseintritts (BVerwG Urteil vom 11.06.2011 - 10 C 25/10 -, BVerwGE 140, 22 ff. = NVwZ 2011 S. 1463 ff.).

In Anwendung dieser Grundsätze kann der Kläger glaubhaft machen, dass ihm mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Yeziden die Gefahr von Verfolgung droht, wenn er in sein Heimatland Irak zurückkehrt.

Die Kammer hat angesichts der seit dem 10. Juni 2014 in den nördlichen Landesteilen des Irak eingetretenen veränderten Sicherheitslage keinen Zweifel daran, dass Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft in der Provinz Niniwe (Mosul) eine allein an ihren Glauben anknüpfende Verfolgung in der Gestalt von Gefahren für Leib und Leben sowie in der Gestalt von Vertreibung droht, vor der sie weder effektiven Schutz von Seiten des irakischen Staats noch seitens schutzbereiter Organisationen erhalten können und vor der sie auf absehbare Zeit auch in anderen Gebieten des irakischen Staatsgebiets keinen ausreichenden internen Schutz erlangen.

Ausgelöst wird die Verfolgung der Yeziden in der Gestalt massenhafter Vertreibung, willkürlicher Tötungen, Gewaltanwendung oder durch den bedrohungsbedingten Zwang zur Aufgabe des eigenen Glaubens durch die am 10. Juni 2014 aus Syrien in den Irak eingedrungenen bewaffneten Kampftruppen der Dschihadistengruppe Islamischer Staat (IS oder ISIS, auch Islamischer Staat in der Levante genannt). Diese haben in den vergangenen zwei Monaten neben weiteren Teilen des irakischen Staatsgebiets nahezu vollständig die Provinz Niniwe (Mosul) und - nach dem Rückzug der kurdischen Peshmerga-Truppen - auch die dort befindlichen Siedlungsgebiete der Yeziden in den Bezirken Sinjar, Tel Kef, Sheikhan und Al-Sheikhan unter ihre Kontrolle gebracht und treten durch besondere Grausamkeit gegenüber der nichtmuslimischen Bevölkerung in Erscheinung. Die Dschihadistengruppe soll Berichten zufolge Gräueltaten auch an der yezidischen Bevölkerung der Provinz Niniwe, hier auch in der Stadt Sinjar, verübt haben (Spiegel online vom 05.08.2014 „Teuflische Taktik gegen religiöse Minderheiten“). Mehrere Hunderte Männer und Frauen seien bereits auf offener Straße ermordet und ebenso viele verschleppt worden (medico international, www.medico.de vom 08.08.2014 „Massaker an Yeziden im Irak“). Dabei ist von erschreckenden Berichten über die von der Dschihadistengruppe teilweise in Internetvideobotschaften öffentlich bekannt gemachten Gewalttaten die Rede, wonach die Milizen der IS Familien zusammentreiben, Massenerschießungen durchführen und Yeziden-Frauen versklaven (tagesschau.de vom 08.08.2014 „Kämpfe im Nordirak - Obama genehmigt Luftangriffe gegen IS“).

Die Gewalttaten und Vertreibung gegenüber Yeziden betreffen eine Zahl von vielen Tausend Menschen (Spiegel online vom 14.08.2014 „Uno-Schätzung: Rund 1000 Jesiden harren noch im Gebirge aus“). Hinsichtlich der Größenordnung der Zahl der von Vertreibung betroffenen oder bedrohten Yeziden ist darauf hinzuweisen, dass die Gesamtzahl der im Bezirk Sinjar lebenden Yeziden nach neueren Erkenntnissen anhand der Zahl ausgegebener Lebensmittelkarten mit etwa 291.000 ermittelt worden ist (Savelsberg und Hamo, EZKS, Gutachten vom 16.09.2013 für das OVG Münster). Die Zahl der in der Sheikhan-Region der Provinz Niniwe lebenden Yeziden ist von sachverständiger Seite auf ca. 65.000 geschätzt worden (Savelsberg und Hamo, EZKS, Gutachten vom 20.11.2011 für das VG Düsseldorf). Allerdings belaufen sich die Schätzung des UNHCR für den Nordirak auf eine Gesamtzahl von ca. 550.000 Yeziden im Nordirak (Savelsberg und Hamo, a. a. O.). Auch wenn diese Zahl möglicherweise zu hoch angesetzt worden ist, ist nach der Erfahrung der Kammer aus zahlreichen Klageverfahren festzustellen, dass auch ein erheblicher Anteil der yezidischen Bevölkerung in den von Yeziden und Christen bewohnten Bezirken Tel Kef (Provinz Niniwe) und Sumel (Provinz Dohuk) beheimatet ist (s. auch die Aufstellung yezidischer Siedlungen in „Yezidi villages in Kurdistan, Iraq“ in https://maps.google.co.uk). Nachdem infolge der Eroberung der Millionenstand Mosul durch die IS zunächst rund 500.000 der mehrheitlich sunnitisch-muslimischen Einwohner Mosuls geflohen waren, lösten zu Beginn des Monats August 2014 die militärischen Niederlagen der kurdischen Peshmerga-Einheiten, die bis zu jenem Zeitpunkt die großen yezidischen Siedlungen in der Provinz Niniwe bewacht hatten (Savelsberg und Hamo, EZKS, Gutachten vom 17.02.2010 für das VG München), eine panische Massenflucht unter der yezidischen Bevölkerung aus (s. Frankfurter Neue Presse, www.fnp.de vom 08.08.2014 „Chronologie: IS-Terror im Namen des Glaubens“). Von der Massenflucht soll der größte Teil der yezidischen Bevölkerung betroffen sein, wobei die dadurch bedingte Lage in der autonomen Region Kurdistan - Irak, soweit diese von der Bevölkerung Niniwes auf ihrer Flucht erreicht worden ist, als chaotisch beschrieben wird (medico international, www.medico.de vom 12.08.2014 „Nordirak: Helfen Sie den Flüchtlingen“).

Gegenwärtig befindet sich nach Schätzungen der Vereinten Nationen immer noch eine Zahl von etwa 1.000 yezidischen Flüchtlingen aus Furcht vor den Milizen der IS in der Gebirgsregion des Jabal Sinjar (Spiegel online vom 14.08.2014, a. a. O.), wo sie mit Nahrung und Trinkwasser nur aus der Luft versorgt werden können (tagesschau.de vom 10.08.2014 „Kurden erobern Gebiete zurück“) und ihnen der Tod durch Verhungern und Verdursten oder durch Erschöpfung droht. Nach Einschätzung des Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier übersteigt das Vorgehen des IS-Terrorregimes alles, was bisher an Schreckensszenarien in der Region bekannt war (Süddeutsche.de vom 10.08.2014 „Steinmeier lobt US-Angriffe auf IS-Terrormiliz“). Unter anderem diese Umstände haben den amerikanischen Präsidenten Barack Obama veranlasst, den Befehl für gezielte Luftangriffe gegen die Dschihadistengruppe Islamischer Staat zu erteilen, um ein Massaker an der Zivilbevölkerung zu verhindern (tagesschau.de vom 08.08.2014, a. a. O.), wodurch allerdings der Vormarsch der Dschihadistengruppe auch in Richtung auf die drei autonomen Kurdenprovinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniya bisher nicht angehalten worden ist (Deutsche Welle, www.dw.de vom 11.08.2014 „IS-Milizen im Irak von US-Luftschlägen nicht gestoppt“).

Unter diesen Umständen unterliegen alle Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft aus dem Nordirak einer Gruppenverfolgung durch die die nichtstaatlichen Akteure (§ 3 c Nr. 3 AsylVfG) der radikal-islamistisch ausgerichteten extremistischen Organisation Islamischer Staat. Angesichts der in der ausführlichen tagesaktuellen Berichterstattung übermittelten Tatsachenlage und der Zahlen der betroffenen Menschen kann insoweit an dem Vorliegen der für eine Gruppenverfolgung begriffsbestimmenden Merkmale, nämlich der Vergleichbarkeit der Gefahr eines flüchtlingsrechtlich relevanten Schadenseintritts für jeden Gruppenangehörigen nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit und Verfolgungsdichte (s. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. vom 22.01.2014 - 9 A 2561/10.A - zur bisherigen Situation der Yeziden), kein vernünftiger Zweifel mehr bestehen (Beschl. der Kammer vom 12.08.2014 - 6 A 8946/14 -). Dabei erfüllt neben den akut drohenden weiteren terroristischen Gräueltaten und Versklavungen an der yezidischen Bevölkerung allein schon die gewaltsame Vertreibung der Yeziden aus ihren Städten und Zentraldörfern der Provinz Niniwe durch die Dschihadisten den Tatbestand flüchtlingsrelevanter Verfolgungshandlungen (§ 3a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG). Daran, dass diese allein an die von der radikal-islamistischen Grundeinstellung der Dschihadistengruppe abweichenden Glaubensvorstellungen der Yeziden anknüpfen, hat die Kammer keinen Zweifel, da sich die Glaubensinhalte der yezidischen Religion naturgemäß mit dem Verständnis des unter dem Anführer Abu Bakr al-Bagdadi am 30. Juni 2014 ausgerufenen und ausnahmslos geltenden grenzübergreifenden Kalifats (Frankfurter Neue Presse, www.fnp.de vom 08.08.2014 „Chronologie: IS-Terror im Namen des Glaubens“), in welchem abweichende Glaubensvorstellungen nicht geduldet werden, nicht vereinbaren lassen. Demzufolge sollen den Vereinten Nationen Berichte vorliegen, wonach die Truppen des IS Yeziden und Angehörige anderer Minderheiten systematisch in die Enge treiben (medico international, www.medico.de vom 12.08.2014 „Flüchtlinge im Irak in höchster Gefahr“).

Gegen die Gewalt durch die nichtstaatlichen Akteure (§ 3 c Nr. 3 AsylVfG) der radikal-islamistisch ausgerichteten extremistischen Organisation IS kann die Bevölkerung der Provinz Niniwe und der übrigen betroffenen Gebiet des Nordirak gegenwärtig und auf absehbare Zeit die Hilfe des irakischen Staats nicht in Anspruch nehmen, da sich die irakische Armee - wie allgemein bekannt - aus den von der IS besetzten Gebieten im Norden des Irak vollständig zurückgezogen und sich auf die Verteidigung der arabisch besiedelten Gebiet des Zentralirak nördlich von Bagdad beschränkt hat. Andere effektive Hilfe steht gegenwärtig noch nicht zur Verfügung, weil die kurdischen Peshmerga-truppen die IS bisher nicht aus der Provinz Niniwe vertreiben konnten und ein Ende der Kämpfe auch nach der Lieferung von Waffenhilfe an die Kurden gegenwärtig nicht absehbar ist (Deutsche Welle, www.dw.de vom 11.08.2014, a. a. O.).

Den von der systematischen Vertreibung durch die Dschihadistengruppe betroffenen Yeziden steht in den drei Provinzen der Region Kurdistan - Irak ein interner Schutz vor Verfolgung im Sinne von § 3 e Abs. 1 AsylVfG nach Überzeugung des Gerichts aus drei selbständig tragenden Gründen nicht zur Verfügung.

Zunächst steht der Annahme einer inländischen Fluchtalternative in anderen Gebieten des Irak entgegen, dass es angesichts der Ausdehnung der von den IS-Truppen eingenommenen Gebiete schon an sicheren Fluchtwegen aus den Bezirken der Provinz Niniwe in die autonomen Kurdenprovinzen oder in andere Provinzen des Irak fehlt. Dies hat unter anderem zur Folge, dass nach den Angaben der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak (UNAMI) bisher zwar rund 200.000 Yeziden Zuflucht in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak gefunden haben. Rund 50.000 Yeziden sind aber aus in das benachbarte Bürgerkriegsland Syrien geflohen (Spiegel online vom 14.08.2014, a. a. O.; Süddeutsche.de vom 14.08.2014 „Flüchtlinge im Nordirak Bundeswehr-Hilfsflüge starten am Freitag“), was deutlich macht, dass die Flüchtlinge aus der Provinz Niniwe die Fluchtwege in die kurdischen Nordprovinzen oder in andere Gebiete des Irak angesichts der Ausdehnung des Machtbereichs der IS nicht für ausreichend sicher halten.

Ein weiterer Grund dafür, dass in den autonomen kurdischen Autonomiegebieten Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniya kein den Kriterien des § 3 e AsylVfG und des Art. 8 der Richtlinie (RL) 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337 - Qualifikationsrichtlinie -) entsprechender interner Schutz zu finden ist, besteht darin, dass auch für diese Gebiete eine tatsächliche Sicherheit vor Verfolgung durch die extremistische Dschihadistengruppe nicht prognostiziert werden kann. Die Kampftruppen der IS haben nach neuesten Meldungen nicht nur den Damm des Mosul-Stausees, sondern auch die Stadt Tel Kef in dem gleichnamigen Bezirk in unmittelbarer Nachbarschaft zur kurdisch autonom verwalteten Provinz Dohuk und damit die Hauptverbindungswege in den Norden unter ihre Kontrolle gebracht (Süddeutsche.de vom 07.08.2014 „Kriegserfahrene Ex-Partisanen zwischen allen Fronten“). Das bedeutet, dass auch die nördlich benachbarten Siedlungen der Yeziden im angrenzenden Bezirk Sumel der Provinz Dohuk unmittelbar von einem weiteren Vorrücken der Dschihadisten bedroht sind. In der kurdisch verwalteten Provinz Erbil bemühen sich gegenwärtig die Peshmerga-Truppen mit Hilfe amerikanischer Luftangriffe, die Provinz vor der Dschihadistengruppe zu schützen (tagesschau.de vom 10.08.2014 „Kurden erobern Gebiete zurück“), wobei das Notwendigwerden der Rückeroberung der Städte Makhmur (Provinz At-Tamim) und Al-Quwayr (Provinz Niniwe) zeigt, dass auch die Region Kurdistan - Irak konkret das weitere Vorrücken der Kämpfer der IS fürchten muss und daher gegenwärtig nicht die Voraussetzungen eines nach § 3 e Abs. 2 AsylVfG unzweifelhaft sicheren Schutzortes erfüllt. Dies deckt sich mit der Tatsache, dass mit 20.000 Flüchtlingen ein erheblicher Teil der yezidischen Bevölkerung den Weg hinter die irakisch-türkische Grenze gesucht hat und die türkische Katastrophenschutzbehörde in der Grenzregion bei der irakischen Stadt Zacho ein Flüchtlingslager für 16.000 Menschen errichten lassen will (Spiegel online vom 14.08.2014, a. a. O.).

Schließlich ist allein schon die Dimension des Flüchtlingsstromes ein weiterer selbständiger Grund dafür, dass für yezidische Flüchtlinge aus der Provinz Niniwe in der Region Kurdistan - Irak gegenwärtig keine „vernünftigerweise“ zu erwartenden Zumutbarkeit eines internen Schutzes in der Region Kurdistan - Irak im Sinne von § 3 e Abs. 1 und 2 AsylVfG und Art. 8 RL 2011/95/EU angenommen werden kann. Schon für die in den Zeiten des früheren irakischen Regimes verzeichneten Flüchtlingsströme in die Nordprovinzen hatte die Rechtsprechung festgestellt, dass angesichts der begrenzten Ressourcen und Aufnahmemöglichkeiten des kurdischen Autonomiegebietes dort nur dann eine inländische Fluchtalternative für Flüchtlingen aus anderen Gebieten des Irak besteht, wenn der Flüchtling über verwandtschaftliche und/oder wirtschaftliche Beziehungen zum Autonomiegebiet verfügt und so sein unabweisbares Existenzminimum sichern kann; ein Aufenthalt in den dort bestehenden Lagern für Binnenvertriebene im Nordirak genügte schon bisher regelmäßig nicht den Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative (Bay. VGH, Urt. vom 09.10. - 15 B 99.32230 -, juris, m. w. N.). Dies gilt angesichts der jetzt aktuellen Zahlen der Binnenvertriebenen im Nordirak mehr denn je, zumal der Bedarf an humanitärer Hilfe dort allgegenwärtig ist (vgl. medico international, www.medico.de vom 12.08.2014 „Nordirak: Helfen Sie den Flüchtlingen“). So haben die Vereinten Nationen für den Irak die höchste Notstandsstufe ausgerufen; der zuständige UN-Sonderbeauftragte hat insoweit auf den Umfang der humanitären Katastrophe im Irak hingewiesen, wonach vor allem Nahrung und Wasser für die Zehntausenden Menschen, die vor der Offensive der Terrormiliz "Islamischer Staat" IS auf der Flucht sind, bereitgestellt werden sollen (Deutsche Welle www.dw.de vom 14.08.2014 „UN rufen höchste Notstandsstufe für Irak aus“).

Diese Situation, wonach es für vertriebene Yeziden in der Regel gegenwärtig eine menschenwürdige Existenz in den Autonomiegebieten nicht gibt, kennzeichnet auch die Lage des Klägers des vorliegenden Verfahrens. Er stammt aus der von Yeziden bewohnten Siedlung Serejka (Serishkan) im Bezirk Tel Kef der Provinz Niniwe. Ausweislich seiner Angaben bei der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt verfügt er in den Nordprovinzen nicht über verwandtschaftlichen Beziehungen. Im Irak lebte bisher nur noch ein Onkel mütterlicherseits in der benachbarten Stadt Sheikhan. Im Übrigen hat die Familie des Klägers mit der Ausreise seiner Mutter und seiner Geschwister den Irak vollzählig verlassen. In der autonomen Provinz Sulaimaniya hat der Kläger nur vorübergehend als auswärtiger Arbeiter in dem Restaurant gewohnt, in welchem er als Jugendlicher im Alter von 14 bis 16 Jahren vorübergehend beschäftigt war, um zum Unterhalt seiner Familie beizutragen. Über verwandtschaftliche oder wirtschaftliche Beziehungen in die autonomen Kurdenprovinzen, die ihm dort ein Leben über dem Existenzminimum ermöglichen könnten, verfügt der Kläger danach nicht.

Hat der Kläger Anspruch auf die mit dem Hauptantrag verfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, braucht auf die Voraussetzungen des Vorliegens eines subsidiären Schutzes, die nach der Rechtsprechung der Kammer (Beschl. vom 12.08.2014 - 6 A 8946/14 -) gegenwärtig bei Flüchtlingen aus der Provinz Niniwe erfüllt sind, nicht eingegangen zu werden.

Infolge des Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist die im Bescheid des Bundesamtes vom 5. Juni 2014 verfügte Abschiebungsandrohung rechtswidrig, soweit darin der Irak als Zielstaat der gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verbotenen Abschiebung bezeichnet wird. Soweit dem Kläger im Übrigen die Abschiebung in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht worden, bleibt die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung von dem Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG unberührt (§ 59 Abs. 3 Satz 3 AufenthG).