Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 17.09.1998, Az.: L 6 U 222/98

Entschädigung einer beruflich verursachten Gesundheitsstörung gemäß einer Berufskrankheit (BK); Darlegung des wahrscheinlichen Ursachenzusammenhangs zwischen der Erkrankung und der beruflichen Tätigkeit ; Verursachung einer arbeitsbedingten Einwirkung in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ; Besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen; Anzeichen für eine erhöhte generelle Eintrittswahrscheinlichkeit einer Krankheit; Verzicht auf eine statistisch nachgewiesene Gruppentypik; Seltenheit des Hypothenar-Hammer-Syndroms (HHS)

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
17.09.1998
Aktenzeichen
L 6 U 222/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1998, 30879
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:1998:0917.L6U222.98.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - 22.02.1996 - AZ: S 7 U 80/93

Fundstelle

  • BB 1998, 2530-2531 (Volltext mit amtl. LS)

Der 6. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
hat ohne mündliche Verhandlung
am 17. September 1998
durch
den Vizepräsidenten des Landessozialgerichts Dr. W.,
den Richter am Landessozialgericht E.,
den Richter am Landessozialgericht S. sowie
die ehrenamtlichen Richter W. und K.
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 22. Februar 1996 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Entschädigung einer beruflich verursachten Gesundheitsstörung wie eine Berufskrankheit (BK).

2

Der 1941 geborene Kläger arbeitete seit 1960 durchgehend als Fußbodenverleger. Zu Beginn seiner Tätigkeit hatte der Kläger überwiegend Kunststoffbeläge aufzubringen. Später verlegte er zunehmend Teppichböden. Sofern bereits ein Fußbodenbelag vorhanden war, mußte dieser entfernt werden. Die nicht durch kräftiges Abziehen zu entfernenden Reste wurden - ungefähr seit 1967 - mit einem Handspachtel vom Kläger entfernt. Dabei wurde der mit einer etwa 60 mm breiten Klinge versehene Spachtel per Hand zwischen Estrich und Teppichboden getrieben. Der Teppichboden wurde dann durch Stoßen von Hand entfernt. Dabei lag der Spachtelgriff in der Innenhand und das Heftende etwa im Handballenbereich. Bis zu dem Einsatz sogenannter Strippermaschinen ungefähr in den Jahren 1972/73 machte die Arbeit mit dem Stoßspachtel mehr als die Hälfte der gesamten Verlegezeit aus. Seitdem wurde für die Entfernung der alten Beläge etwa 30 % der gesamten Verlegezeit benötigt. Der Stoßspachtel mußte weiter in den Bereichen verwendet werden, die mit der sogenannten Strippermaschine nicht erreichbar waren (Heizkörper-, Tür- und Wandbereiche). Des weiteren mußte der Kläger den in das Klebebett ausgerollten Fußbodenbelag unter Druck mit der flachen Hand anreiben. Der Handballenbereich wurde auch bei der Verlegung auf Treppenstufen eingesetzt (vgl. den Bericht des Dipl.-Ing. N. vom 13. November 1991 und die Berufsanamneseerhebung durch Prof. Dr. D. und Prof. Dr. K. im arbeitsmedizinischen Zusammenhangsgutachten vom 14. November 1994, S. 15). Bei den sogeannten Strippermaschinen handelte es sich um Schwingschleifmaschinen, die zu Schwingstärken am Griff der rechten Hand um 35 und am Griff der linken Hand bis zu 57,4 führten (a.a.O., S. 36).

3

Im Jahr 1989 bemerkte der Kläger ein zunehmendes Taubheits- und Kältegefühl im Bereich des Mittel-, Ring- und Kleinfingers der rechten Hand, die bis Ende des Jahres 1990 durch Fingergymnastik jeweils relativ zügig verschwanden. Seit Beginn des Jahres 1991 traten diese Beschwerden über längere Zeit auf, ohne daß sie sich durch Gymnastik besserten. Während des stationären Aufenthaltes in der Herz-Kreislauf-Klinik B. wurde ein Hypothenar-Hammer-Syndrom (HHS) diagnostiziert. Angiographisch wurde ein distaler Verschluß der Arteria ulnaris rechts mit Verschluß des Hohlhandbogens festgestellt. In dem Krankenbericht vom 29. Juli 1991 führte Prof. Dr. C. aus, daß diese seltene Erkrankung gehäuft bei Handwerken vorkomme, die eine häufige Hammertätigkeit mit der Hand ausübten. Deshalb erstattete der Stationsarzt Dr. E. die ärztliche Anzeige über eine BK vom 8. August 1991. Da die konservative Behandlung zu keinem Erfolg führte, erfolgte im Oktober 1991 die operative Rekonstruktion der verschlossenen Arteria ulnaris durch einen Venenersatz. In seiner handchirurgischen Stellungnahme vom 21. Oktober 1991 vermerkte Prof. Dr. B.-G., daß auch der intraoperative Befund für die in Bad B. erhobene Diagnose eines HHS spreche, welches als BK anzuerkennen sei. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte er auf 20 vom Hundert (vH - Krankenbericht vom 18. März 1992).

4

Auf Anregung des gewerbeärztlichen Dienstes holte die Beklagte das Gutachten des Leitenden Arztes der Abteilung für Hand- und rekonstruktive Chirurgie der Roland-Klinik B. Dr. P. vom 28. Juli 1992 ein. Der Gutachter gelangte nach Auswertung der Literatur ebenfalls zu dem Ergebnis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem HHS und der Tätigkeit des Klägers als Fußbodenverleger. Die zur Anerkennung dieses seltenen Syndroms erforderliche lange und punktuelle Belastung der ulnaren Handkante liege vor. Weiterhin seien Gefäßerkrankungen und ein Nikotinabusus - der Kläger ist seit Jahrzehnten Nichtraucher - als Ursache der Erkrankung ausgeschlossen worden. Schließlich sei der komplette Verschluß der Arteria ulnaris histologisch und präoperativ belegt. Die Erkrankung verursache eine MdE um 20 vH und sei wie eine BK gemäß § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu entschädigen. Dieser Auffassung schloß sich der Gewerbearzt Longerich in seiner Stellungnahme vom 29. Oktober 1992 an. Der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften teilte der Beklagten auf ihre Anfrage mit, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine neuen gesicherten medizinischwissenschaftlichen Erkenntnisse über die berufliche Verursachung eines HHS bestünden. Die Frage, ob bestimmte Personengruppen wie Bodenleger durch ihre berufliche Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung der Gefahr ausgesetzt seien, an dieser Gesundheitsstörung zu erkranken, sei vom Verordnungsgeber nicht geprüft worden, weil dazu weder aufgrund klinischer Beobachtungen noch aufgrund der Fachliteratur Veranlassung bestanden habe (Schreiben vom 24. Februar 1993). Mit dieser Begründung lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen ab (Bescheid vom 15. März 1993). In dem Widerspruchsbescheid vom 29. April 1993 hob die Beklagte hervor, daß zwar ein Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der versicherten Tätigkeit des Klägers bestehe. Entscheidend sei aber, daß § 551 Abs. 2 RVO nur dann eine Entschädigung ermögliche, wenn zum einen die Gefährdung einer bestimmten Gruppe vorliege und zum anderen diese Gefährdung auch in einem erheblich höheren Grade als bei der übrigen Bevölkerung bestehe. Diese Feststellung könne jedoch nicht getroffen werden.

5

Dagegen richtet sich die Rechtzeitig vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhobene Klage, die an das örtlich zuständige SG Stade verwiesen worden ist (Beschluß vom 14. Mai 1993). Das SG hat zu den Arbeitsbedingungen und dem Gesundheitszustand des Klägers umfangreich Beweis erhoben. Prof. Dr. Ritter hat sich in seinem nervenärztlichen Gutachten vom 20. Juli 1993 dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen im Verwaltungsverfahren angeschlossen: Der ursächliche Zusammenhang des HHS mit der beruflichen Tätigkeit sei mit der notwendigen Sicherheit gegeben. Die dadurch bedingte MdE liege bei 20 vH. Prof. Dr. D. und Prof. Dr. K. bestätigten diese Wertung in ihrem arbeitsmedizinischen Zusammenhangsgutachten vom 14. November 1994: Zwar stelle die Verwendung des Stoßspachtels für beide Hände keine Gefährdung im Sinne der BKen Nrn. 2103 und 2104 (Erkrankungen durch Erschütterung bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen und vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen) dar. Auch sei eine Gefährdung der rechten Hand durch die hochfrequenten Schwingungen der sogenannten Strippermaschine im Gegensatz zu der linken Hand nicht gegeben, da die Schwingstärken im Bereich der rechten Hand unterhalb des Grenzwertes, ab dem eine Gesundheitsgefährdung bestehe, lagen. Des weiteren wirkten diese Schwingungen im wesentlichen im Weichteilgewebe der Fingerinnenseiten. Das rechtsseitig bestehende Krankheitssymptom sei jedoch ein arterielles Verschlußsyndrom der Arteria ulnaris. Es könne aber mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß die beruflichen Arbeiten des Klägers als Fußbodenleger mit dem Stoßspachtel für das HHS im Bereich der rechten Hand verantwortlich seien. Zu dieser Einschätzung gelangte auch Prof. Dr. W. in seinem auf Antrag des Klägers erstatteten handchirurgischen Gutachten vom 31. August 1995. Auch dieser Sachverständige schätzte die MdE auf Dauer mit 20 vH ein.

6

Das SG hat durch Urteil vom 22. Februar 1996 festgestellt, daß das HHS des Klägers wie eine BK zu behandeln sei und die Beklagte verurteilt, Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH zu zahlen: Nach übereinstimmender ärztlicher Ansicht sei das HHS der rechten Hand eine Folge der versicherten Tätigkeit als Fußbodenleger. Auch aus der medizinischen Literatur gehe hervor, daß diese Erkrankung bei Personen auftrete, die die ulnare Seite der Hand als Hammer verwendeten. Sie komme gehäuft bei Handwerkern vor, die eine häufige Hammertätigkeit mit der Hand ausübten. Zu diesen besonders gefährdeten Handwerkern gehöre der Kläger als Fußbodenleger.

7

Gegen das ihr am 4. April 1996 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit der am 22. April 1996 eingelegten Berufung. Sie hält daran fest, daß neue Erkenntnisse über die besondere Gefährdung einer bestimmten Personengruppe nicht vorliegen würden.

8

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Stade vom 22. Februar 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

9

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Stade vom 22. Februar 1996 zurückzuweisen,

10

hilfsweise,

Prof. Dr. Dupuis zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens zu laden.

11

Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren die handchirurgische Stellungnahme des Prof. Dr. W. vom 10. Februar 1997 eingeholt. Der Sachverständige hat darauf hingewiesen, daß die operativ gebesserte Durchblutungssituation der rechten Hand durch einen erneut nachgewiesenen Verschluß der Ellenarterie, die dominant für die Durchblutung der Hand sei, wieder beeinträchtigt worden sei. Über Umgehungskreisläufe sei zwar eine Durchblutung gewährleistet, die das Überleben der Hand bei Schonung ermöglichten. Diese Durchblutung reiche aber bei Belastung nicht aus, so daß dann eine vorzeitige Ermüdbarkeit, ein Kraftverlust, Schmerzen und Sensibilitätsbeeinträchtigungen auftreten würden. Deshalb sei die MdE mit 20 vH einzuschätzen. Diese Wertung bestätigte Dr. Paschmeyer in seinem handchirurgischen Gutachten vom 29. August 1997, das die Beklagte in dem aufgrund des Gutachtens des Prof. Dr. D. und des Prof. Dr. K. eingeleiteten Verwaltungsverfahrens zur Anerkennung der Gesundheitsstörung an der linken Hand des Klägers als BK eingeholt hat.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (Schriftsätze vom 7. und 8. Juli 1998).

13

Dem Senat haben neben den Prozeßakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

14

Die statthafte Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Der Senat kann mit Einverständnis der Beteiligten über das Rechtsmittel ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Daran ändert auch der nach den Erklärungen des Einverständnisses zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung eingegangene Schriftsatz des Klägers vom 12. August 1998 nichts, selbst wenn er als Widerruf der Einverständniserklärung des Klägers ausgelegt wird. Denn ein Widerruf ist - insbesondere aus Gründen der Prozeßökonomie (BSG Breithaupt 1968, 718, 719 f.) - nur möglich, wenn sich die Prozeßlage wesentlich geändert hat (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl. 1998, § 124 Abs. 3 d m.w.N.), was hier aber nicht der Fall ist.

15

Das Rechtsmittel der Beklagten hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Denn die - hinsichtlich des Feststellungsantrages gemäß § 55 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) - zulässige Klage ist begründet. Das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, das HHS der rechten Hand des Klägers wie eine BK zu entschädigen (§ 551 Abs. 2 der nach Art. 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch auf den vorliegenden Sachverhalt noch anzuwendenden RVO).

16

Wie schon das SG zutreffend dargelegt hat, haben alle in diesem Rechtsstreit gehörten Ärzte nachvollziehbar und überzeugend einen wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang zwischen dieser Erkrankung und der beruflichen Tätigkeit des Klägers als Fußbodenleger begründet (Krankenbericht des Prof. Dr. C. vom 29. Juli 1991, handchirurgische Stellungnahme des Prof. Dr. B.-G. vom 21. Oktober 1991, Gutachten des Dr. P. vom 28. Juli 1992 und 29. August 1997, Stellungnahme des Gewerbearztes L. vom 29. Oktober 1992, nervenärztliches Gutachten des Prof. Dr. R. vom 20. Juli 1993, arbeitsmedizinisches Zusammenhangsgutachten des Prof. Dr. D. und des Prof. Dr. K. vom 14. November 1994, handchirurgisches Gutachten des Prof. Dr. W. vom 31. August 1995). Ihre Wertung ist auch vor dem Hintergrund der Pathogenese des HHS einleuchtend (vgl. die Übersichtsarbeit von Willekens u.a., Bl. 11 ff. VA). Im übrigen geht auch die Beklagte davon aus, daß der Zusammenhang zwischen Erkrankung und versicherter Tätigkeit gegeben ist (S. 1 des Widerspruchsbescheides vom 29. April 1993). Eine Entschädigung dieser Krankheit als BK ist nicht möglich, weil sie nicht von den von er Bundesregierung in der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) bezeichneten Krankheiten - nur diese sind BKen (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO) - erfaßt wird (S. 33 ff. des arbeitsmedizinischen Zusammenhangsgutachtens des Prof. Dr. D. und des Prof. Dr. K.). Entgegen der Auffassung der Beklagten sind neben dem wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang zwischen der Gesundheitsstörung und der beruflichen Tätigkeit des Klägers jedoch auch die besonderen Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO für eine Entschädigung wie eine BK erfüllt.

17

Nach dieser Norm sollen die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) im Einzelfalle eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK entschädigen, wenn neben dem ursächlichen Zusammenhang der Krankheit mit der beruflichen Tätigkeit, für die nach den §§ 539 f. und 543, 545 RVO Versicherungsschutz besteht (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO), der Versicherte zu einer bestimmten Personengruppe gehört, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist, die Krankheiten solcher Art verursachen, und das Vorliegen neuer Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung der bestimmten Personengruppe bestehen (§ 551 Abs. 1 Satz 3 RVO). Das ist hier der Fall.

18

Ob eine Krankheit in einer bestimmten, beruflich exponierten Personengruppe erheblich häufiger als in der übrigen Bevölkerung auftritt - sogenannte Gruppentypik -, erfordert nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der sich der erkennende Senat anschließt, in der Regel den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine lange zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um mit Sicherheit daraus schließen zu können, daß die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt (vgl. z.B. BSGE 59, 295, 298; BSG Urteil vom 27. Mai 1997 - 2 RU 33/96 = HVBG RdSchr VB 70/97; ebenso BVerfG SozR 2200 § 551 Nr. 11). Damit ist zwar die statistische Evidenz das erstrangige Anzeichen für eine erhöhte generelle Eintrittswahrscheinlichkeit einer Krankheit. Das bedeutet aber keine ausschließliche Festlegung auf die Epidemiologie als wissenschaftliche Erkenntnismethode, weil sonst in besonders gelagerten Fällen - z.B. bei kleinen Kollektiven und langen Latenzzeiten - zu hohe Hürden für die Entschädigung einer Krankheit wie eine BK errichtet würden. Deshalb kann ausnahmsweise bei fehlender epidemiologischer Evidenz einerseits und bei biologischer bzw. toxikologischer Evidenz andererseits zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse der Verzicht auf eine statistisch nachgewiesene Gruppentypik in Betracht kommen (vgl. dazu BSGE 52, 272, 275; BSG SozR 3-2200 § 551 Nr. 9, S. 20 f.; BSG, Beschluß vom 27. Mai 1997 - 2 BU 43/97 = BAGUV RdSchr. 72/97; siehe hierzu ausführlich auch Koch in: Schulin, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 2 Unfallversicherung, § 35 Rn. 8 und § 37 Rn. 6 ff.; Woitowitz, Die BG 1994, 156, 159). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor. Denn infolge der Seltenheit des HHS können medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse durch statistisch abgesicherte Zahlen nicht erbracht werden. Die generelle Geeignetheit der manuellen Tätigkeit des Klägers mit der rechten Hand für die Entstehung des HHS ist aber aus Einzelfallstudien und eigenen Fallbeobachtungen der den Kläger behandelnden Ärzte gesichert. Insbesondere Dr. P. (Gutachten vom 28. Juli 1992, S. 10 f.) hat nach sorgfältigem Literaturstudium die besondere Gefährdung des Klägers herausgearbeitet. In der Übersichtsarbeit von Willekens u.a. (Bl. 11 ff. VA) wird einleuchtend beschrieben, daß bei Personen, die - wie der Kläger - die ulnare Seite der Hand als Hammer verwenden, das Krankheitsbild des HHS gehäuft auftritt. Auch in dem Krankenbericht des Prof. Dr. C. vom 29. Juli 1991 wird darauf hingewiesen, daß die seltene Erkrankung des HHS gehäuft bei Handwerkern vorkommt, die eine häufige Hammertätigkeit mit der Hand ausüben. Deshalb überzeugt die Wertung aller Ärzte, Gutachter und Sachverständigen, die sich mit dem Krankheitsbild der rechten Hand des Klägers befaßt haben, daß die generelle Geeignetheit der manuellen Tätigkeit des Klägers für die Entstehung des HHS als gesichert angesehen werden kann.

19

Diese Erkenntnisse sind - entgegen der Auffassung der Beklagten - auch neu i.S.d. § 551 Abs. 2 RVO. Dem steht nicht entgegen, daß die Verordnungsgeberin das Krankheitsbild des HHS bei den Änderungen der BK-Liste nicht berücksichtigt hat. Zwar ist das Erfordernis "neuer" Erkenntnisse im Grundsatz erst dann erfüllt, wenn die Erkenntnisse nach dem Erlaß der letzten Änderung der BKV gewonnen wurden oder zu diesem Zeitpunkt zwar im Ansatz vorhanden waren, sich aber erst danach zur "BK-Reife" verdichtet haben. Voraussetzung ist aber, daß sich die Verordnungsgeberin bei den Änderungen der BKV mit den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen auch befaßt hat. Erst wenn die Verordnungsgeberin aufgrund der vorliegenden Ermittlungen es abgelehnt hat, den Versicherungsschutz listenmäßig zu erweitern, sind diese Erkenntnisse nicht mehr neu. Das ist hier jedoch gerade nicht der Fall. Denn aus der von der Beklagten selbst eingeholten Stellungnahme des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 24. Februar 1993 geht hervor, daß die Verordnungsgeberin die Aufnahme des HHS in die BK-Liste nicht geprüft hat. Es besteht auch kein Anhaltspunkt dafür, daß diese Prüfung anläßlich der Verordnung der BKV vom 31. Oktober 1997 (BGBl. I S. 2623 ff.) erfolgt ist. Dieses ist auch von der Beklagten nicht vorgetragen worden. Das Untätigbleiben der Verordnungsgeberin nach Vorliegen neuer Erkenntnisse steht jedoch einer Ablehnung, die Erkrankung in die Liste aufzunehmen, nicht gleich (Urteil des BSG vom 21. Januar 1997 - 2 RU 7/96 - S. 6).

20

Aus diesen Gründen hat das SG insgesamt zu Recht die Gesundheitsstörung des HHS als eine von der Beklagten wie eine BK zu entschädigenden Krankheit festgestellt.

21

Das SG hat die Beklagte unter Zugrundelegung der auch insofern übereinstimmenden Schätzung aller gehörten Ärzte zu Recht verurteilt, dem Kläger Verletztenrente in Höhe von 20 vH der Vollrente zu zahlen. Denn es ist einleuchtend, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers infolge der Minderung der Durchblutung seiner rechten Hand rentenberechtigend um ein Fünftel beeinträchtigt ist. Zwar ist über Umgehungskreisläufe eine Durchblutung gewährleistet, die ein Überleben der rechten Hand unter Bedingungen der Schonung ermöglicht. Diese Durchblutung ist aber für eine Belastung der Hand nicht ausreichend und führt deshalb bei Belastung zu vorzeitiger Ermüdbarkeit, Kraftverlust, Schmerzen und Sensibilitätsbeeinträchtigungen (handchirurgische Stellungnahme des Prof. Dr. W. vom 10. Februar 1997, S. 3). Der auch insoweit abweichenden nicht näher begründeten Auffassung der Beklagten, diese MdE-Schätzung erscheine "wenig überzeugend" (Schriftsatz vom 24. Juni 1998), vermag der Senat deshalb nicht zu folgen.

22

Aus diesen Gründen ist die Berufung insgesamt zurückzuweisen.

23

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

24

Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegt nicht vor.