Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 06.08.2007, Az.: L 8 B 139/07 AS

Beschwerde wegen unangemessener Verzögerung des Verfahrens bei einem Streit über die Bewilligung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts; Unangemessene Verzögerung eines Verfahrens in der deutschen Sozialgerichtsbarkeit im Klageverfahren und Berufungsverfahren; Erhebung einer Untätigkeitsbeschwerde

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
06.08.2007
Aktenzeichen
L 8 B 139/07 AS
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2007, 40395
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2007:0806.L8B139.07AS.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim - AZ: S 43 AS 80/05

Fundstelle

  • NordÖR 2008, 20-21 (Volltext mit amtl. LS)

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Die Beschwerde wegen unangemessener Verzögerung des Verfahrens (sog. Untätigkeitsbeschwerde) ist unzulässig. Es fehlt an der erforderlichen Rechtsgrundlage.

  2. 2.

    Ein Verstoß gegen Art 6 Abs. 1 MRK ist zu vermuten, wenn Verfahren der deutschen Sozialgerichtsbarkeit länger als drei Jahren je Gerichtsinstanz andauern.

Tenor:

Die Beschwerde der Kläger wegen Untätigkeit des Sozialgerichts Hildesheim in dem Rechtsstreit S 43 AS 80/05 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

Die Kläger und Beschwerdeführer (im Folgenden: Kläger) begehren im Hauptsacheverfahren die Bewilligung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Die Klage gegen den Bescheid der Agentur für Arbeit Göttingen vom 7. Dezember 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 17. Februar 2005 wurde am 4. März 2005 beim Sozialgericht (SG) Hildesheim erhoben und ist dort weiter rechtshängig.

2

Mit Schriftsatz vom 31. Mai 2007 haben die Kläger beim Landessozialgericht (LSG) Beschwerde wegen unangemessener Verzögerung des Verfahrens erhoben und beantragt, dem SG eine Entscheidungsfrist zu setzen. Die Verfahrensverzögerung stelle eine Verletzung ihrer Rechte aus Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) und Art 6 Abs. 1 der Europäischen Menschrechtskonvention (EMRK) dar. Überall würden SGB II-Verfahren sogar höchstrichterlich innerhalb von zwei Jahren entschieden, es könne sich also nur um ein gegen sie - die Kläger -gerichtetes "gewillkürtes Hängenlassen zum Ausbluten" handeln.

3

Die Beschwerde ist unzulässig.

4

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in einer ähnlichen Fallgestaltung mit Beschluss vom 21. Mai 2007 - B 1 KR 4/07 S - (im Folgenden zitiert nach [...]) ausgeführt:

"Eine Untätigkeitsbeschwerde ist derzeit im Gesetz nicht vorgesehen. Bei den vom Kläger zitierten Normen handelt es sich um Referentenentwürfe, die nicht in Kraft getreten sind. Unter solchen Umständen sieht es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) - jedenfalls außerhalb des Bereichs gerichtlicher Untätigkeit bei freiheitsentziehenden Maßnahmen - als fraglich an, ob die gesetzlich nicht geregelte Untätigkeitsbeschwerde dem aus dem Rechtsstaatsgebot abzuleitenden Gebot der Rechtsmittelklarheit genügen kann (vgl BVerfG 1. Kammer 1. Senat , Beschluss vom 10.6.2005 - 1 BvR 2790/04 - NJW 2005, 2685 RdNr. 29; generell ablehnend: Beschluss des Plenums des BVerfG vom 30.4.2003, BVerfGE 107, 395, 416 [BVerfG 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02] = SozR 4-1100 Art 103 Nr. 1). Danach müssen die Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sein (Beschluss des Plenums des BVerfG, BVerfGE 107, 395, 416) [BVerfG 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02].

Das rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns führt zu dem Gebot, dem Rechtsuchenden den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen klar vorzuzeichnen (vgl BVerfGE 49, 148, 164 [BVerfG 09.08.1978 - 2 BvR 831/76]; 87, 48, 65; 107, 395, 416) [BVerfG 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02]. Die rechtliche Ausgestaltung des Rechtsmittels soll dem Bürger insbesondere die Prüfung ermöglichen, ob und unter welchen Voraussetzungen es zulässig ist (vgl BVerfGE 107, 395, 416) [BVerfG 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02]. Deshalb geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) davon aus, eine richterrechtlich begründete außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde sei kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 8.6.2006, NJW 2006, 2389 ff [EGMR 08.06.2006 - - 75529/01]). Im Hinblick auf diese Entscheidungen verbleibt kein Raum dafür, zur Vermeidung eines Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention ohne gesetzliche Grundlage durch Richterrecht eine Untätigkeitsbeschwerde zu schaffen, um auf ein laufendes Verfahren einzuwirken (aA - bezüglich der nachträglichen Feststellung einer Untätigkeit - vor dem Urteil des EGMR vom 8.6.2006 noch BSG (4. Senat) SozR 4-1500 § 160a Nr. 11 RdNr. 21 ff). Dementsprechend haben auch der Bundesfinanzhof (BFH, Beschluss vom 4.10.2005 - II S 10/05 - RdNr. 4; Beschluss vom 24.5.2006 - VII S 12/06 - RdNr. 5) und das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Beschluss vom 5.12.2006 - 10 B 68/06 - RdNr. 1) entschieden, dass es ein Rechtsinstitut der "verfassungsrechtlich gebotenen Untätigkeitsbeschwerde" nicht gibt."

5

Der Senat teilt die vom 1. Senat des BSG vertretene Rechtsansicht. Ergänzend und im Hinblick auf den hier zu entscheidenden Fall ist noch zu beachten, dass auch nach der Auffassung des 4. Senats des BSG (Beschluss vom 13. Dezember 2005 - B 4 RA 220/04 B SozR 4-1500 § 160a Nr. 11 RdNr. 21 ff) eine generelle Grenze, bei deren Überschreiten in der deutschen Sozialgerichtsbarkeit im Klage- und Berufungsverfahren ein Verstoß gegen Art 6 Abs. 1 MRK zu vermuten sein soll, bei drei Jahren je Gerichtsinstanz liegt. Bei der im März 2005 erhobenen Klage ist diese Zeitspanne noch nicht erreicht.

6

Die vom 2. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 22. Mai 2007 - L 2 B 31/07 R , zugänglich über [...]) vertretene Ansicht, dass bei über dreijähriger Verfahrensdauer das LSG dem SG aufgeben kann, das Verfahren mit besonderem Vorrang zu bearbeiten und insbesondere Termin zur mündlichen Verhandlung bis zu einem vom LSG bestimmten Termin anzuberaumen (so der Tenor der Entscheidung), wird vom Senat nicht geteilt. Unabhängig davon, dass es für eine solche richterliche Maßnahme an einer Rechtsgrundlage fehlt (siehe oben), überschreitet das Beschwerdegericht seine Kompetenzen, wenn es dem SG derartige Vorgaben macht. Selbst im Falle einer Zurückverweisung hat das SG nur die rechtliche Beurteilung, die Grundlage der Aufhebung ist, seiner Entscheidung zu Grunde zu legen ( § 159 Abs. 2 SGG). Es liegt im sachgerechten Ermessen des SG, wann und in welcher Form (mit oder ohne mündliche Verhandlung) es den Rechtsstreit entscheidet; es ist auch nicht gehindert, beispielsweise in einem Erörterungstermin auf eine einvernehmliche Lösung des Rechtsstreits hinzuwirken. Darüber hinausgehende Vorgaben verstoßen gegen die richterliche Unabhängigkeit (Art 97 Abs. 1 GG: "Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen") und dürften selbst den Rahmen von zulässigen dienstaufsichtsrechtlichen Maßnahmen überschreiten.

7

Der Senat hatte deshalb keine Veranlassung, Erhebungen über die allgemeine und besondere Belastung des SG Hildesheim bzw. der zuständigen Kammervorsitzenden anzustellen. Dem Senat ist aber auf Grund seiner Zuständigkeit für das Rechtsgebiet des SGB II von Beginn an bekannt, dass Verfahrensdauern von über zwei Jahren in Hauptsacheverfahren nichts Ungewöhnliches sind.

8

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

9

Der Beschluss ist unanfechtbar ( § 177 SGG).