Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 27.09.2023, Az.: 2 ORs 82/23

Zulässige Zulassung eines Polizeibeamten zu nichtöffentlicher Verhandlung bei Sachnähe; Parallele Festnahme zur Vollstreckung eines Untersuchungshaftbefehls als Teilnahmegrund für nichtöffentliche Hauptverhandlung; Präklusion von Verfahrensrügen bei fehlender Geltendmachung im Hauptverhandlungstermin

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
27.09.2023
Aktenzeichen
2 ORs 82/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 55525
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2023:0927.2ORS82.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
AG Hannover - 07.06.2023 - AZ: 325 Ds 19/23

Fundstellen

  • NStZ 2024, 115-118
  • StRR 2023, 3
  • StraFo 2023, 434-437
  • ZAP EN-Nr. 657/2023
  • ZAP EN-Nr. 657/2023
  • ZAP 2023, 1159-1160

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Zulassung von Polizeibeamten zu einer nichtöffentlichen Hauptverhandlung gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG ist nicht ermessensmissbräuchlich, wenn diese mit der Festnahme der Angeklagten zur Vollstreckung eines Untersuchungshaftbefehls in einem gesonderten Verfahren beauftragt sind.

  2. 2.

    Die Anordnung des Vorsitzenden gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG kann in der Hauptverhandlung gem. § 238 Abs. 2 StPO beanstandet werden; unterbleibt die mögliche Anrufung des Gerichts ist die Verfahrensrüge präkludiert (obiter dictum).

Tenor:

Die Revision der Angeklagten wird als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO).

Es wird davon abgesehen, der Angeklagten die Kosten ihres Rechtsmittels aufzuerlegen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Hannover - Jugendrichterin - hat die Angeklagte mit Urteil vom 7. Juni 2023 wegen Diebstahls schuldig gesprochen und gegen sie einen Dauerarrest von 2 Wochen verhängt, der infolge verbüßter Untersuchungshaft bereits vollständig vollstreckt ist.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Angeklagte mit dem Rechtsmittel der Sprungrevision. Sie erhebt neben der allgemeinen Sachrüge, mit der insbesondere beanstandet wird, die Notwendigkeit des angeordneten Dauerarrestes als Zuchtmittel werde von den Urteilsgründen nicht getragen, die Verfahrensrüge der Verletzung von § 337 i.V.m. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision gem. § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen.

II.

Die Revision ist unbegründet, weil die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat.

1.) Der Senat kann - entgegen der im Schriftsatz des Verteidigers vom 24. September 2023 geäußerten Rechtsauffassung - nach § 349 Abs. 2 StPO über die Revision durch Beschluss entscheiden.

Zwar ist der Antrag gem. § 349 Abs. 2 StPO eine zwingende Voraussetzung für die Beschlussverwerfung, so dass ein ohne Antrag erlassener Beschluss gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt (BVerfG, Beschluss vom 10. November 1981 - 2 BvR 1060/81 -, BVerfGE 59, 98-104). Es ist in der Rechtsprechung jedoch anerkannt, dass Ausführungen in der Begründungsschrift eines Antrages auf Verwerfung als unzulässig gemäß § 349 Abs. 1 StPO zur Unbegründetheit des Rechtsmittels als hilfsweise gestellter Verwerfungsantrag nach § 349 Abs. 2 StPO verstanden werden können (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Februar 2023 - 5 StR 408/22 -, juris; BGH, Beschluss vom 1. Februar 2023 - 5 StR 487/22 -, juris; BGH, Beschluss vom 30. September 2021 - 2 StR 354/20 m.w.N).

Hieran gemessen ist in der Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 6. September 2023 ein hilfsweise gestellter Antrag auf Verwerfung der Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO enthalten, denn darin wird zugleich umfangreich zur Unbegründetheit des Rechtsmittels im Übrigen ausgeführt.

2.) Die Revision ist zwar zulässig (vgl. im Folgenden die Ausführungen zu Ziffer a), aber in der Sache nicht begründet (vgl. im Folgenden Ziffer b).

a) Soweit die Revision die Verletzung materiellen Rechts rügt, ist die fristgerecht eingelegte und begründete Revision aufgrund der Regelung gem. § 55 Abs. 1 S. 1 JGG unzulässig.

aa) Nach dieser Vorschrift kann eine Entscheidung des Jugendgerichts, in der lediglich Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel angeordnet wurden, nicht wegen des Umfangs der Maßnahmen und nicht deshalb angefochten werden, weil andere Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel hätten angeordnet werden sollen.

Deshalb kann ein Rechtsmittel gegen ein allein derartige Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts verhängendes Urteil lediglich darauf gestützt werden, dass die Schuldfrage rechtlich oder tatsächlich falsch beantwortet oder die Sanktion selbst rechtswidrig ist. Wegen dieser sachlichen Beschränkung hat der Revisionsführer sein Anfechtungsziel eindeutig klarzustellen, um dem Revisionsgericht die Prüfung zu ermöglichen, ob mit dem Rechtsmittel ein zulässiges Ziel verfolgt wird (BGH, Beschluss vom 21. Juli 2021 - 5 StR 112/21 -, juris; BGH, Beschluss vom 21. April 2020 - 4 StR 67/20 -, juris).

Der Anwendungsbereich von § 55 Abs. 1 S. 1 JGG ist vorliegend eröffnet, da mit dem angefochtenen Urteil lediglich ein Zuchtmittel, nämlich ein Dauerarrest gem. § 16 Abs. 4 JGG verhängt wurde.

Die Revision erhebt zwar explizit die uneingeschränkte allgemeine Sachrüge; die nähere Begründung der Sachrüge erschöpft sich jedoch ausschließlich darin darzulegen, weshalb die Verhängung des angeordneten zweiwöchigen Dauerarrestes im Urteil nicht ausreichend begründet worden sei. In einer derartigen Konstellation kann keineswegs ausgeschlossen werden, dass es der Revision nur um ein unzulässiges Ziel geht (OLG Dresden, Beschluss vom 31. Januar 2003 - 1 Ss 708/02 -, juris). Denn es wird - auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Angeklagte geständig war und die Jugendrichterin ihre Feststellungen auf ihre geständigen Angaben gestützt hat - deutlich, dass das Ziel der Angeklagten im Rahmen der erstrebten Neuverhandlung allein eine geringere Ahndung ihrer Tat ist. Dem steht jedoch § 55 Abs. 1 S. 1 JGG entgegen, denn mit derartigen Revisionsausführungen wird eine unzulässige Umgehung der gesetzlichen Regelung in § 55 Abs. 1 S. 1 JGG angestrebt (OLG Nürnberg, Beschluss vom 30. März 2016 - 1 OLG 8 Ss 49/16 -, juris).

bb) Die Verfahrensrüge der Verletzung von § 48 Abs. 2 S. 3 JGG ist hingegen zulässig erhoben.

Ihr liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:

Die zur Tatzeit 15jährige Angeklagte wurde zur gem. § 48 JGG nicht öffentlichen Hauptverhandlung vor der Jugendrichterin des Amtsgerichts Hannover von Justizwachtmeistern aus der Haft vorgeführt, da sie trotz ordnungsgemäßer Ladung zur Hauptverhandlung am 12. Mai 2023 nicht erschienen war und infolgedessen ein Haftbefehl gem. § 230 StPO gegen sie ergangen und nach dessen Verkündung am 23. Mai 2023 auch vollstreckt worden war. Zugleich betraten zwei in zivil gekleidete Beamte der Polizeiinspektion H. den Sitzungssaal und teilten der Vorsitzenden mit, gegen die Angeklagte bestehe ein weiterer Untersuchungshaftbefehl des Amtsgerichts Hildesheim, der u.a. auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt sei. Sie seien infolgedessen beauftragt, die Angeklagte festzunehmen und dem zuständigen Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Hildesheim vorzuführen. Nachdem der Verteidiger der Angeklagten auf den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit hingewiesen und ein fehlendes Anwesenheitsrecht der Polizeibeamten geltend gemacht hatte, wurde die Sache gem. § 243 Abs. 1 S. 1 StPO aufgerufen, die Anwesenheit gem. § 243 Abs. 1 S. 2 StPO festgestellt und durch Anordnung der Vorsitzenden die beiden Polizeibeamten der Polizeiinspektion H. zur Hauptverhandlung zugelassen.

Die Verfahrensrüge genügt den Anforderungen von § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Der Beschwerdeführer war im vorliegenden Fall nicht gehalten, im Rahmen seines Rügevortrags (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) darzulegen, dass er die auf § 48 Abs. 2 S. 3 JGG gestützte Anordnung der Vorsitzenden, die beiden Polizeibeamten der Polizeiinspektion H. zur Hauptverhandlung zuzulassen, mit dem sog. Zwischenrechtsbehelf gem. § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hat.

Denn in der gegenwärtigen Rechtsprechung und Kommentarliteratur wird insoweit übereinstimmend vertreten, dass es gegen die Gestattung der Anwesenheit nach § 48 Abs. 2 S. 3 JGG keinen Rechtsbehelf gebe (Schatz in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Auflage 2020, § 48, Rn. 39; Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 14. Auflage 2023, § 48 Nichtöffentlichkeit, Rn. 23; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 175 GVG, Rn. 7; Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel, 24. Aufl. 2023, JGG § 48 Rn. 29; Schady in Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 11. Auflage 2021, § 48, Rn. 20; BeckOK JGG/Putzke C., 30. Ed. 1.8.2023, JGG § 48 Rn. 22; Krauß in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2022, § 175, Rn. 17; Schmidt in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 6. Auflage 2018, § 175 GVG, Rn. 4; Trüg in: Meier/Rössner/Trüg/Wulf, Jugendgerichtsgesetz, 2. Auflage 2014, § 48, Rn. 22; BGH, Urteil vom 5. August 1975 - 1 StR 283/75 -, juris), weshalb auch für den Angeklagten und seinen Verteidiger nicht die Anrufungsmöglichkeit nach § 238 Abs. 2 StPO gegeben sei (Trüg in: Meier/Rössner/Trüg/Wulf a.a.O., Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel a.a.O., Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., Schmidt in: Gercke/Julius/Temming/Zöller).

Zudem bedurfte es eines in der Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 6. September 2023 vermissten konkreten Vortrages dazu, inwieweit die Angaben der Angeklagten durch die Anwesenheit der Polizeibeamten konkret beeinflusst worden sind und ob sich die Angeklagte durch die Anwesenheit der Polizeibeamten gehalten sah, Angaben nicht, nicht vollständig oder wahrheitswidrig zu tätigen, nicht.

Denn ausreichend und allein erforderlich gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO ist die - hier erfolgte - Angabe der den Verfahrensmangel selbst enthaltenden Tatsachen; Ausführungen zum Beruhen bedarf es - abgesehen von der erfolgten Darlegung der Tatsachen, aufgrund derer die Beruhensfrage durch den Senat geprüft werden kann - gerade nicht (BGH, Beschluss vom 16. November 2021 - 6 StR 502/21 -, juris; BGH, Beschluss vom 11. Februar 2021 - 6 StR 25/21 -, juris; BGH, Urteil vom 24. Juli 1998 - 3 StR 78/98 -, BGHSt 44, 138-143; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 344, Rn. 27).

b) Die erhobene Verfahrensrüge ist indes nicht begründet.

aa) Eine Verletzung von § 338 Nr. 6 StPO scheidet von vornherein aus, da dieser absolute Revisionsgrund in Fällen einer hier gerügten unzulässigen Erweiterung der Öffentlichkeit nicht anwendbar ist (BGH, Urteil vom 21. November 1969 - 3 StR 249/68 -, BGHSt 23, 176-194).

Aber auch eine Verletzung von § 337 i.V.m. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG ist nicht gegeben.

Denn die von der Vorsitzenden getroffene Ermessensentscheidung, die beiden Polizeibeamten gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG zur Hauptverhandlung zuzulassen, ist in der Sache nicht zu beanstanden.

Nach dieser Vorschrift kann die Vorsitzende bei Vorliegen eines besonderen sachlichen Grundes, wobei das Gesetz insoweit lediglich beispielhaft Ausbildungszwecke benennt, sonstige, in § 48 Abs. 2 S. 2 JGG nicht aufgezählte Personen zur Hauptverhandlung zulassen. Maßgeblich ist stets ein angehobenes Teilnahmeinteresse, das über das normale Informationsbedürfnis deutlich ("besonders") hinausgeht (Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel, a.a.O., § 48, Rn. 24).

Ein solches hat die Vorsitzende vorliegend ermessensfehlerfrei bejaht. Denn Polizeibeamte waren bis zum Inkrafttreten des Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes (1. JGGÄndG) vom 30.08.1990 noch Bestandteil des Kataloges von Personen, denen kraft Gesetzes ein Teilnahmerecht zugewiesen wurde. Grund für die Herausnahme der Polizeibeamten aus diesem Katalog war allein der Umstand, dass die Belange der Strafverfolgungsbehörden in der Hauptverhandlung durch den anwesenden Staatsanwalt ausreichend gewahrt sind (BT-Drucksache 11/5829, S. 26). In den Gesetzgebungsmaterialien wird jedoch explizit betont, dass Beamten der Kriminalpolizei in besonders gelagerten Fällen die Anwesenheit richterlich gestattet werden kann (BT-Drucksache a.a.O.).

Vorliegend steht außer Frage, dass hier ein besonders gelagerter Fall im o.g. Sinne gegeben war. Denn die Zulassung der beiden Polizeibeamten war zur Sicherung der Festnahme der Angeklagten erforderlich, zumal der im vorliegenden Verfahren ergangene Haftbefehl gemäß § 230 StPO allein der Sicherung und Beendigung des aktuellen Strafverfahrens diente und mit dem Abschluss der Hauptverhandlung gegenstandslos wurde. Vor diesem Hintergrund reichte auch die Hinzuziehung von Gerichtswachtmeistern nicht, deren Aufgabe sich in der Bewachung der Angeklagten während des Gerichtsprozesses erschöpfte. Individuell stark ausgeprägte entwicklungspsychologische oder jugendpädagogische Erwägungen, die einer Zulassung der Polizeibeamten zur Verhinderung einer Flucht der Angeklagten nach Abschluss der Hauptverhandlung entgegengestanden hätten (vgl. hierzu: Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel, a.a.O., § 48, Rn. 25), sind weder dargelegt noch erkennbar.

bb) Auch wenn es für die zu treffende Entscheidung nicht mehr darauf ankam, gibt der vorliegende Fall dem Senat Anlass zu folgenden Ausführungen (obiter dictum):

Der Senat erachtet die Anrufung des Gerichts gem. § 238 Abs. 2 StPO gegen die Entscheidung des Vorsitzenden gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG entgegen der übereinstimmenden Auffassung in der Kommentarliteratur für eröffnet und diese auch für erforderlich, um eine Präklusion der Verfahrensrüge der unzulässigen Erweiterung der Öffentlichkeit in der Revisionsinstanz zu verhindern.

Dem liegen nachfolgende Erwägungen zugrunde: Gem. § 238 Abs. 2 StPO können grundsätzlich gerade die Maßnahmen, mit denen der Vorsitzende auf den Verfahrensablauf und die Verfahrensbeteiligten einwirkt, mit dem sog. Zwischenrechtsbehelf gem. § 238 Abs. 2 StPO beanstandet werden (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O, § 238, Rn. 11). Der Begriff der Anordnung erfasst im Kern Verfügungen, mit denen der Vorsitzende einem Verfahrensbeteiligten ein bestimmtes Verhalten ge- oder verbietet; ihm unterfallen alle Maßnahmen, die auf den Fortgang des Verfahrens Einfluss gewinnen können (KK-StPO/Schneider, 9. Aufl. 2023, StPO § 238 Rn. 11, 12). Hierzu zählen vor allem Belehrungen, Hinweise, Vorhalte, Ermahnungen und auch Fragen (OLG Hamm, Beschluss vom 14. März 2019 - III-5 RVs 21/19 -, juris). Gerade Maßnahmen des Vorsitzenden, denen ein Ermessensmissbrauch zugrunde liegt, können gemäß § 238 Abs. 2 StPO als unzulässig beanstandet werden (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O, § 238, Rn. 17).

Hieran gemessen liegt nach Auffassung des Senates eine Maßnahme i.S.v. § 238 Abs. 2 StPO vor, denn eine Entscheidung über die Zulassung von Personen zu einer nicht öffentlichen Hauptverhandlung gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG ist eine Angelegenheit der Prozessleitung, über die der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen zu befinden hat (BGH, Urteil vom 5. August 1975 - 1 StR 283/75 -, juris).

Dabei hat der Senat nicht verkannt, dass die Anordnung der Vorsitzenden, die beiden Polizeibeamten gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG zur Hauptverhandlung zuzulassen, nicht der sachlichen Förderung des Verfahrens selbst diente. Indes steht die früher herrschende Ansicht, dass die allein § 238 Absatz 2 StPO unterfallenden sachleitenden Anordnungen nach abstrakten Kriterien von den sonstigen prozessleitenden Maßnahmen abzugrenzen seien, nicht in Einklang mit dem Regelungszweck der Norm; da durch den Zwischenrechtsbehelf der Anrufung des Gerichts die Verantwortung des gesamten Spruchkörpers für die Gesetzmäßigkeit des Ablaufs der Hauptverhandlung aktiviert werden soll mit dem Ziel, zur Gewährleistung prozessordnungsgemäßer Urteilsfindung etwaige Verfahrensfehler des Vorsitzenden instanzintern zu korrigieren, kann es für dessen Zulässigkeit nicht auf die begriffliche Zuordnung der jeweils in Rede stehenden Anordnung zu bestimmten Kategorien von prozessleitenden Maßnahmen ankommen, sondern allein darauf, ob sich die Maßnahme im konkreten Fall auf die Urteilsfindung des Gerichts auswirken kann, weil sie die sachliche Erarbeitung des Verfahrensstoffs oder die Wahrnehmung von Verfahrensrechten eines Prozessbeteiligten zu beeinflussen vermag (MüKoStPO/Arnoldi, 1. Aufl. 2016, StPO § 238 Rn. 16ff.; Becker in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 238, Rn. 19). Da potentiell jeder Verstoß gegen die Justizförmigkeit des Verfahrens später auch die sachliche Urteilsfindung beeinträchtigen kann, ist nach heute herrschender Rechtsauffassung kaum eine Maßnahme des Vorsitzenden vorstellbar, gegen die mangels Relevanz für die Urteilsfindung von vornherein die Anrufung des Gerichts nach Absatz 2 ausgeschlossen wäre; die Anrufung des Gerichts gem. § 238 Abs. 2 StPO kommt nach Aufgabe der Differenzierung zwischen der formellen Verhandlungsleitung und der materiellen Sachleitung grundsätzlich gegen jede Maßnahme des Vorsitzenden im weitesten Sinne in Betracht, sofern der jeweilige Verfahrensbeteiligte plausibel darzutun vermag, dass er durch eine Anordnung des Vorsitzenden in seiner prozessualen Rechtsstellung oder in seinen schutzwürdigen Interessen beeinträchtigt wird (Becker in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., Rn. 20; KK-StPO/Schneider, 9. Aufl. 2023, StPO § 238 Rn. 9).

Zwar beschwert eine Anordnung des Vorsitzenden die - wie hier - nur den äußeren Ablauf der Verhandlung im Allgemeinen betrifft, die Prozesssubjekte nicht; derartige Anordnungen können jedoch im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände eine über die äußere Verhandlungsleitung hinausreichende Wirkung haben, die die Anrufung des Gerichts nach Absatz 2 gestattet (Becker in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 238, Rn. 21). So ist z.B. inzwischen in der Rechtsprechung anerkannt, dass entgegen der früher herrschenden Meinung auch gegen Maßnahmen der Sitzungspolizei die Anrufung des Gerichts gem. § 238 Abs. 2 StPO möglich ist, wenn schlüssig dargetan wird, dass eine solche Maßnahme ausnahmsweise über die mit ihr bezweckte Abwehr einer Störung hinaus unzulässig in Verfahrensrechte eines Beteiligten eingreift (BGH, Beschluss vom 29. Mai 2008 - 4 StR 46/08 -, juris; BGH, Beschluss vom 14. Mai 2013 - 1 StR 122/13 -, juris). Lediglich in Fällen, bei denen eine Beschwer von vornherein nicht plausibel gemacht werden kann, ist die Anrufung des Gerichts unzulässig (OLG Hamm, Beschluss vom 1. Februar 1972, Az.: 3 Ws 27/72, NJW 1972, 1246-1247).

Es kann dahingestellt bleiben, ob eine derartige Beschwer für Personen, die eine ausnahmsweise Zulassung gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG begehren, mangels eines Rechts auf Anwesenheit zutreffend verneint wird (vgl. hierzu: BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2015 - StB 10/15 -, juris; KG, Beschluss vom 14.05.2014 - 4 Ws 33/14 - 141 AR 235/14, BeckRS 2015, 436; Brunner/Dölling, a.a.O., § 48, Rn. 23).

Es erschließt sich jedenfalls nicht, dem jugendlichen Angeklagten eine Beschwerdebefugnis durch die prozessleitende Ermessensentscheidung des Vorsitzenden, entgegen dem in § 48 Abs. 1 JGG geregelten Grundsatz ausnahmsweise Personen zur Hauptverhandlung zuzulassen, von vornherein abzusprechen.

Denn der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit in Strafverfahren gegen Jugendliche beruht gerade auf den Informationsbedürfnissen der Allgemeinheit und den Erfordernissen der Justizkontrolle kollidierenden und vorrangigen Gründen, insbes. auf entwicklungspsychologischen und jugendpädagogischen Erwägungen, die einen deutlich geringeren Publizitätsgrad als im allg. Strafverfahren erforderlich machen (Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel, a.a.O., § 48, Rn. 8). § 48 JGG will zudem zur Wahrheitsfindung eine jugendgerechte Kommunikationsatmosphäre schaffen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 14. Oktober 2009 - 1 BvR 2430/09 -, juris; Brunner/Dölling, a.a.O., § 48, Rn. 2). Es liegt auf der Hand, dass im Falle der Zulassung weiterer Teilnehmer gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG an der Hauptverhandlung der jugendliche Angeklagte beeinträchtigt wird, weil die zugelassenen Personen in Abweichung des gesetzlichen Soll-Zustands persönliche bzw. persönlichkeitsrechtsrelevante Informationen über den Angeklagten erfahren (Gerbig, Kinderrechtsbasierte Anforderungen an die (Nicht-) Öffentlichkeit im Jugendstrafverfahren, ZJJ, S. 263f.). Mithin kann eine Beschwerdebefugnis des jugendlichen Angeklagten in nicht öffentlichen Hauptverhandlungen nach Auffassung des Senates jedenfalls gegenüber ermessensfehlerhaften bzw. rechtsmissbräuchlichen Zulassungsentscheidungen i.S.v. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG keinesfalls kategorisch ausgeschlossen werden (so auch Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel, a.a.O., § 48, Rn. 29). Für die Möglichkeit des Angeklagten, die Anordnung des Vorsitzenden gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG gem. § 238 Abs. 2 StPO anfechten zu können, spricht auch der Umstand, dass der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes explizit eine Beschwerdemöglichkeit gegen derartige Entscheidungen verlangt (United Nations, Convention on the Rights of the Child, General Comment No. 10 (2007), Children's rights in juvenile justice v. 25. April 2007, Distr. General, CRC/C/GC/10, Rn. 65). Auch das Bundesverfassungsgericht hat bereits klargestellt, dass Anordnungen nach § 48 Abs. 2 S. 3 JGG - trotz ihres auch sitzungspolizeilichen Charakters - sich auf Vorschriften zur Regelung der Öffentlichkeit von Strafverhandlungen gegen jugendliche Angeklagte stützen, die gegenüber den allgemeinen Regelungen des GVG speziellerer Natur sind, und dass diejenigen Erwägungen, mit der die generelle Unanfechtbarkeit sitzungspolizeilicher Anordnungen begründet wird, nicht zwingend auf die Beurteilung der vom Vorsitzenden gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG zu beantwortenden Frage zu übertragen sind (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 14. Oktober 2009 - 1 BvR 2436/09 -, juris).

Nach alledem erachtet der Senat die Anrufung des Gerichts gem. § 238 Abs. 2 StPO durch den Angeklagten und seinen Verteidiger gegen die Anordnung des Vorsitzenden, gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG aus besonderen Gründen anderen Personen die Teilnahme an einer nichtöffentlichen Hauptverhandlung zu gestatten, für eröffnet.

Eine Verfahrensrüge der unzulässigen Erweiterung der Öffentlichkeit gem. § 337 StPO i.V.m. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG wäre dann, wenn eine derartige Beanstandung der sachleitenden Anordnung des Vorsitzenden unterbleibt, bereits präkludiert, denn Sinn und Zweck der Norm des § 238 Abs. 2 StPO ist es gerade, Fehler des Vorsitzenden i.R.d. Instanz zu korrigieren und Revisionen zu vermeiden (BGH, Urteil vom 16. November 2006 - 3 StR 139/06 -, BGHSt 51, 144-149).

Die in der Rechtsprechung anerkannten Ausnahmen von dem Grundsatz der Rügepräklusion mangels Beanstandung einer im Rahmen der Sachleitungsbefugnis getroffenen Anordnung des Vorsitzenden sind nicht einschlägig. Denn vorliegend geht es nicht um eine vom Vorsitzenden unterlassene unverzichtbare Handlung oder um einen Verstoß gegen eine Verfahrensvorschrift, die keinerlei Ermessensspielraum zulässt. Der Umstand, dass bei Verhandlungen des Jugendrichters Vorsitzender und Gericht identisch sind, lässt die Erforderlichkeit der Anrufung des Gerichts unberührt (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. Januar 1996 - 5 Ss 462/95 - 1/96 I -, juris; Becker in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 238, Rn. 38; Julius/Barrot in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 238, Rn. 26). Auch das jugendliche Alter eines Angeklagten führt zu keiner anderen Beurteilung, wenn diesem in der Hauptverhandlung ein Verteidiger beisteht, so dass auch nicht von einer die Verwirkung des Rügerechts ausschließenden Unkenntnis des Angeklagten von der Beanstandungsmöglichkeit ausgegangen werden kann (OLG Hamm, Beschluss vom 18. Dezember 2002 - 2 Ss 945/02 -, juris).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 74 JGG.