Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 20.01.2000, Az.: 1 A 104/97

Auspruch eines Beamten auf Gewährung von Regelbeihilfen als einer alimentativen Fürsorgeleistung hergeleitet aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn; Anspruch auf Neubescheidung durch die Beihilfefestsetzungsstelle des Dienstherrn unter Berücksichtigung von Notwendigkeit und Angemessenheit; Beurteilung der Angemessenheit von Aufwendungen des Beamten für eine im Ausland durchgeführte Operation durch vergleichende Betrachtung. Berechnung und Festsetzung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
20.01.2000
Aktenzeichen
1 A 104/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2000, 11645
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2000:0120.1A104.97.0A

Fundstelle

  • NdsVBl 2000, 253-254

Verfahrensgegenstand

Beihilfe

Prozessführer

Frau ...

Prozessgegner

Nds. Landesamt für Bezüge und Versorgung ...

In dem Rechtsstreit
hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 1. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 20. Januar 2000
durch
den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht ...,
die Richterin am Verwaltungsgericht ... und
den Richter am Verwaltungsgericht ... sowie
die ehrenamtlichen Richter Herr ... und
Frau ...
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Beklagte wird unter Aufhebung der Beihilfebescheide vom 29. Februar, 8. Juli und 29. September 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juni 1997 und in der Fassung des Bescheides vom 5. August 1997 verpflichtet, die Klägerin hinsichtlich ihrer Beihilfeanträge vom 20. Januar, 4. Juli und 22. September 1996 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

  2. 2.

    Die Verfahrenskosten hat die Beklagte zu tragen; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

  3. 3.

    Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, sofern nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1

Die Klägerin erstrebt eine Neubescheidung bezüglich ihrer Beihilfeanträge aus dem Jahre 1996.

2

Im Jahre 1995 erlitt die Klägerin beim Skilaufen in Österreich einen Unfall, in dessen Folge - wegen eines Bänderrisses im Kniegelenk - an Ort und Stelle ein arthroskopischer Eingriff am Kniegelenk erforderlich war, der noch in Österreich durchgeführt wurde. Mit ihren Anträgen vom 20. Januar, 4. Juli und 22. September 1996 machte die Klägerin Heilbehandlungskosten aus Rechnungen der Krankenanstalt ... GmbH & Co KG in Höhe von 53.433,70 österr. Schilling sowie des Arztes ... in Höhe von 6.283,50 österr. Schilling geltend und erbat dafür eine Beihilfe. Durch Bescheide vom 29. Februar, 8. Juli und 26. September 1996 wurde ihr bei Ansatz eines Gesamtbetrages von 1.621,15 DM eine Beihilfe von insgesamt 1.013,29 DM gewährt. Während des Klageverfahrens wurden die genannten Bescheide noch nachträglich abgeändert und zusätzlich eine Beihilfe in Höhe von 211,96 DM gewährt.

3

Gegen die Beihilfefestsetzung erhob die Klägerin mit der Begründung Widerspruch, die ihr in Österreich entstandenen Aufwendungen seien sowohl dem Grund wie auch der Höhe nach beihilfefähig, da bei einem Verbleiben in der Bundesrepublik Deutschland entsprechende Kosten entstanden wären wie sie ihr in Österreich auch entstanden seien. Eine "Umschreibung" der österreichischen Rechnungen gemäß der Deutschen Gebührenordnung (GOÄ) sei ihr jedoch nicht zumutbar, da sie dazu nicht in der Lage sei. Insoweit bedürfe sie der Hilfe der Beihilfestelle, die über die erforderliche Fachkompetenz verfüge. Soweit es um OP-Benutzungsgebühren sowie Pflege- und Anstaltsgebühren gehe, sei zu betonen, dass vergleichbare Kosten auch nach deutschem Recht entstünden und wohl im Rahmen von Belegarztbehandlungen abgerechnet würden. Unverständlich sei, dass die Kosten für Heilgymnastik als nicht beihilfefähig eingestuft worden seien. Durch Widerspruchsbescheid vom 3. Juni 1997 wurde der Widerspruch zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die ausländischen Belege seien zunächst nicht ausreichend spezifiziert, also mit Erklärungen der Krankenanstalt zu den stationären Aufwendungen und zu den Wahlleistungen (Ein- oder 2-Bett-Zimmer, Pflegesätze und Zuschläge pp.) versehen gewesen. Nachdem insoweit Unterlagen beigebracht worden seien, sei die Beihilfe gem. unter Heranziehung von Kostensätzen des Krankenhauses Dannenberg bis zu der Höhe festgesetzt worden, bis zu der sie in Deutschland bei einem Verbleiben am Wohnort auch entstanden und beihilfefähig gewesen wäre. Eine Reihe von Gebührenpositionen - u.a. OP-Benutzungsgebühren, Pflege- und Anstaltsgebühren, die nach dt. Recht mit Pflegesatz und Arzthonorar abgegolten seien - habe jedoch nicht berücksichtigt werden können.

4

Zur Begründung ihrer am 7. Juli 1997 erhobenen Klage trägt die Klägerin vor, bei ihrer Krankenkasse herrsche Unverständnis über die Behandlung der Sache bei der Beihilfestelle. Sie habe sich bei der Privatverrechnungsstelle für Ärzte in Lüneburg eine Gegenüberstellung nach der GOÄ erstellen lassen, auf die sie Bezug nehme. Von der Beihilfestelle müsse erwartet werden, dass sie Rechnungen aus Ländern der Europ. Union auch umrechnen könne.

5

Die Klägerin beantragt,

die Beihilfebescheide der Beklagten vom 29. Febr., 8. Juli und 29. September 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juni 1997 und des Teilabhilfebescheides vom 5. August 1997 aufzuheben, soweit sie den Anträgen der Klägerin vom 20. Januar, 4. Juli und 22. September 1996 nicht entsprechen, und die Beklagte zu verpflichten, die Klägerin hinsichtlich ihrer Beihilfeanträge unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

6

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Zur Begründung verweist er auf die angefochtenen Bescheide und führt aus, bei den geltend gemachten Aufwendungen handele es sich um solche, die von der Klägerin im Sinne einer Obliegenheit prüffähig gemacht werden müssten, bevor eine Erstattung in Betracht komme. Daran fehle es hier für einen Teil der Positionen. Auch bei einigen Krankenkassen bestehe nach den Versicherungsbedingungen die Pflicht, spezifizierte und "übersetzte" Rechnungen einzureichen. In geeigneten Fällen sei eine Auslandskrankenversicherung abzuschließen.

8

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Neubescheidung.

10

Auszugehen ist hier davon, dass die Klägerin grundsätzlich einen aus der Fürsorgepflicht ihres Dienstherrn (Art. 33 Abs. 4 und 5 GG, §§ 48 BRRG, 79 BBG, 87 NBG) hergeleiteten Rechtsanspruch auf Gewährung von Regelbeihilfen (§ 1 Abs. 3 S. 1 BhV) als einer alimentativen Fürsorgeleistung hat, wobei die Beihilfevorschriften (BhV) grundsätzlich als eine ausreichende Konkretisierung der Fürsorgepflicht betrachtet werden können. Die Beihilfefestsetzungsstelle des Dienstherrn hat diesem Anspruch durch eine eigene Entscheidung über die Notwendigkeit und Angemessenheit gem. § 5 Abs. 1 S. 4 BhV Rechnung zu tragen. Hierzu können von ihr Stellungnahmen und Gutachten eingeholt werden, uzw. grundsätzlich "von allen dafür geeignet erscheinenden Stellen" (Topka-Möhle, Beihilfevorschriften, Landeskommentar Niedersachsen, 5. Aufl./Std: Okt. 1999, § 5 Rdn. 5.2) - also in entsprechenden Zweifelsfällen von Amts- oder Vertrauensärzten, von Ärzte-, Zahnärzte- oder Apothekerkammern, ggf. vom Fachverband der Heilpraktiker.

11

Im Rahmen des hier einschlägigen § 13 BhV hat die entscheidungsbefugte und -verpflichtete (zuständige) Beihilfestelle einen Vergleich vorzunehmen zwischen den Kosten, wie sie im Einzelfall tatsächlich berechnet worden sind (bei Umrechnung von öS in DM) und den Kosten, wie sie bei entsprechenden Leistungen im Inland - hypothetisch - entstanden wären. Im Rahmen dieses Vergleichs sind die allgemeinen Grundsätze über die Notwendigkeit und Angemessenheit von Aufwendungen heranzuziehen.

12

Die Notwendigkeit steht hier außer Frage, so dass es nur auf die Angemessenheit ankommt. Vgl. dazu BayVGH (Urt. v. 07.12.1987 - Nr. 3 B 87.02028):

"Man darf sich dabei nicht dadurch irreführen lassen, dass § 13 Abs. 1 als inländischen Vergleichswert für die Beihilfeberechnung die Kosten vorschreibt, die "in der Bundesrepublik Deutschland beim Verbleiben am Wohnort" entstanden wären. Das heißt nämlich nicht, der Beamte sei im Beihilferecht so zu stellen, als sei er nicht auf eine Urlaubsreise gegangen, sondern zu Hause geblieben. Diese Regelung ist im Gegenteil einzig und allein deshalb notwendig geworden, weil der Wohnort der einzige vertretbare inländische Anknüpfungspunkt zur Gewinnung eines Vergleichswertes ist."

13

Allerdings können Schwierigkeiten bei der Berechnung dadurch entstehen,

"... dass die ausländischen Ärzte nicht nach der GOÄ liquidieren und auch die Beihilfeberechtigten in den meisten Fällen keine verwertbaren, detaillierten Angaben machen können. Ein starres Festhalten an dem Grundsatz, dass der Beihilfeberechtigte den prüfbaren Nachweis zu erbringen habe, wenn er eine Beihilfe beansprucht, dürfte nicht in jedem Falle mit der Fürsorgepflicht zu vereinbaren sein. Doch sollte auf Angabe der Diagnose und der angewendeten Behandlungsmaßnahmen nicht verzichtet werden, um eine vergleichsweise Überprüfung mit den in der Bundesrepublik geltenden Gebührenordnungen zu ermöglichen." (Topka-Möhle, Beihilfevorschriften, 5. Aufl., § 13 Erl. 3.2).

14

Diagnose wie auch Behandlungsmaßnahmen sind hier von der Klägerin unter Vorlage von Rechnungen im einzelnen dargelegt worden, so dass die - bisher nicht erstattete - Operation mit Narkose, aber auch weitere Positionen noch einer beihilferechtlichen Beurteilung zuzuführen sind. Wenn es in der Anlage zum Beihilfebescheid v. 8.7.96 u.a. heißt,

"Die ausländischen Belege müssen ausreichend spezifiziert sein, um einen Vergleich durchführen zu können",

15

so ist mit dem Wort "ausreichend" ein unbestimmter, von der Möglichkeit eines Kostenvergleichs her zu konkretisierender Begriff aufgenommen worden, der seinerseits jedoch im Lichte der Fürsorgepflicht des Dienstherrn (Art. 33 Abs. 4 und 5 GG, § 48 BRRG) auszulegen und einer entsprechenden Interpretation zuzuführen ist. Denn die Beamtinnen und Beamten sind keine "Bittsteller", denen in Fällen eines nur unter Schwierigkeiten anzustellenden Kostenvergleichs im Zweifel die Beihilfeleistungen - wegen angeblich unzureichender "Spezifikation" - vorenthalten werden können, sondern sie sind Berechtigte mit einem Rechtsanspruch auf Gewährung von Beihilfe (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BhV). Da die Beihilfevorschriften keine erschöpfende Regelung der Fürsorgepflicht enthalten, sondern nur als generalisierende, im Einzelfall ggf. fürsorglich zu ergänzende Regelungen zu verstehen sind (OVG Münster ZBR 1985, 81; BVerwGE 22, 163 [BVerwG 07.10.1965 - VIII C 63/63] u. 27, 193 f.), gebietet die Fürsorgepflicht des Dienstherrn jedenfalls in Fällen, in denen die Beihilfebestimmungen einen Erstattungsanspruch des Beihilfeberechtigten schon vorsehen (§ 13 BhV), eine (fürsorglich) wohlwollende Auslegung und Anwendung der Beihilfebestimmungen zu Gunsten des anspruchsberechtigten Beamten. Somit dürfen die Anforderungen an eine vom Beamten zu erbringende "Spezifikation" nicht in der Form überspannt werden, dass mangels angeblicher Einzelheiten zu den Krankheitsaufwendungen eine Beihilfegewährung letztlich (teilweise) unterbleibt. Vielmehr ist unter Heranziehung deutscher Abrechnungsmodalitäten und der von der Klägerin vorgelegten Rechnungen eine vergleichende Betrachtung. Berechnung und schließlich Festsetzung vorzunehmen (§ 5 Abs. 1 Satz 4 BhV).

16

Der in den Bescheiden enthaltene Hinweis (Fußnote), der notwendige Vergleich sei hier "durch die medizinischen Laien bei der Beihilfefestsetzungsstelle nicht möglich", lässt außer Betracht, dass die Festsetzungsstelle für ihre Entscheidung in entsprechenden Fällen Gutachten einzuholen hat (s.o., § 5 Abs. 1 Satz 4 Halbs. 2 BhV), um eine Entscheidung über die Angemessenheit von Aufwendungen treffen zu können. Dieser Entscheidung kann die Festsetzungsstelle nicht mit dem Hinweis auf eigene Unkenntnisse oder auch nur laienhafte Kenntnisse ausweichen. Das hier eingeschlagene Verfahren jedenfalls mit einer Teilversagung von Beihilfe - insbesondere für die Operation am Kniegelenk mit allein schon einem Kostenansatz von 2.942,18 DM - missachtet den aufgezeigten Rechtsanspruch der Klägerin auf Gewährung (fürsorglicher) Beihilfe (§ 1 Abs. 3 S. 1 BhV).

17

Insoweit hat der Beklagte unter Beachtung der Fürsorgepflicht eine Erstattung hinsichtlich der Positionen "Arthroskop. OP am Kniegelenk", "Narkose OP 6", aber auch "Assistenz" und "2. Assistenz", ggf. auch "Regiezuschlag" vorzunehmen, da bei einer vergleichbaren Operation in Deutschland auch mehrere Ärzte tätig geworden wären, jedenfalls nichts für eine übermäßig aufwendige und daher nicht mehr notwendige Operationsgestaltung spricht. Die "OP-Benutzungsgebühr" aber dürfte deshalb berücksichtigungsfähig sein, weil es in Österreich offenbar keine allgemeinen (erhöhten) Pflegesätze des Krankenhauses gibt, in welche diese Gebühr - wie in Deutschland - schon eingearbeitet ist. Die allgemeinen Pflege- und Anstaltsgebühren dagegen sind bereits unter Berücksichtigung der etwa vergleichbaren Kosten des Krankenhauses ... bearbeitet worden (vgl. die Anlage zu den angef. Bescheiden).

18

Demgemäss hat der Beklagte erneut einen beihilferechtlichen Vergleich vorzunehmen und der Klägerin die noch ausstehenden Kosten zu erstatten. Dabei hat er wegen der inzwischen verstrichenen Zeit zugunsten der Klägerin ggf. auch Zinsen in Ansatz zu bringen.

19

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.