Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 04.05.2009, Az.: S 14 U 60/06

Anforderungen an das Vorliegen eines Versicherungsfalls i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 13a Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII); Anforderungen an die sozialrechtliche Qualifizierung einer auf dem Heimweg erlittenen Verletzung als Arbeitsunfall und Versicherungsfall; Anforderungen an die unfallversicherungsrechtliche Qualifizierung einer vor Beginn einer Massenschlägerei durch Flaschenwurf erlittenen Augenverletzung mit resultierender dauerhafter Sehkraftbeeinträchtigung

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
04.05.2009
Aktenzeichen
S 14 U 60/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2009, 16778
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGBRAUN:2009:0504.S14U60.06.0A

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2006 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass das Unfallereignis des Klägers vom 13. Februar 1999 ein Versicherungsunfall gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII ist. Der Beklagte erstattet dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über das Vorliegen eines Versicherungsfalls.

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Am Samstag, den 13. Februar 1999 fand in der Gaststätte "I." in J., K., eine Musikveranstaltung statt. Es traten zwei Gruppen auf - "L." und "M.". Die Besucher, Anhänger der Oldie-Punk-Szene und zum Teil Skinheads, waren überwiegend deutsche Staatsangehörige. Ein größerer Teil befand sich innerhalb der Gaststätte. Auch auf dem Gehweg und der Straße vor der Gaststätte hielt sich regelmäßig eine Vielzahl von Besuchern auf.

3

Zwischen den Gästen der Musikveranstaltung und überwiegend türkischen Staatsangehörigen ist es im Verlaufe des Abends zu Auseinandersetzungen gekommen, die zu einer Massenschlägerei mit mehreren Verletzten und nicht unerheblichen Sachschäden eskalierte.

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Der am 13. Mai 1966 geborene Kläger mit türkischer Staatsangehörigkeit arbeitete am 13. Februar 1999 bis circa 23:00 Uhr in der Gaststätte seines Schwagers, dem "N." in der O. in J ... Ausweislich der schriftlichen Bestätigung des Inhabers dieser Gaststätte vom 17. August 2005 war der Kläger im Jahre 1999 dort als Küchenhilfe auf Probe beschäftigt und sollte fest eingestellt werden. Hierzu kam es jedoch nicht. Seit dem 1. Februar 2007 bezieht der Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Deutschen Rentenversicherung.

5

Der Kläger wollte nach dieser Arbeit in die Wohnung seines Schwagers in die P. in J., um diesen dort zu besuchen. Hierbei handelt es sich um einen Weg in entgegen gesetzter Richtung zum eigenen Wohnsitz des Klägers; der direkte Heimweg beträgt 0,9 km, der Weg zur Wohnung des Schwagers in anderer Himmelsrichtung 2,4 km.

6

Auf dem Weg dorthin kam er an der Gaststätte "I." vorbei. Eine Schlägerei war in diesem Zeitpunkt noch nicht im Gange. Vielmehr hatten sich viele Personen erregt unterhalten und es wurde herumgeschubst. In dieser Menschenansammlung erkannte der Kläger unter anderem seinen Neffen Q., der sich in Begleitung eines anderen Jungen befand. Da er wissen wollte, was sein Neffe dort mache, bewegte er sich auf die Gruppe zu. Die Situation war bereits angespannt. Auf Grund der Schubsereien befürchtete der Kläger, dass seinem Neffen etwas zustoßen könnte. Der Kläger sagte bei seinem Hinzutreten sinngemäß: "Was ist denn hier los, lasst die Jungen zufrieden!" Ihm wurde daraufhin sofort eine zersplitterte Flasche an den Kopf geworfen. Nach dem Flaschenwurf kam es zu einer Schlägerei.

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In Folge dieses Flaschenwurfes erlitt der Kläger eine Bulbusverletzung des linken Auges. Trotz notfallmäßiger Behandlung in der Augenklinik des R. konnte die Sehfähigkeit nicht wiederhergestellt werden. Es besteht ein Zustand nach Prothesenversorgung links sowie eine Lidfehlstellung. Seither kamen psychologische Beeinträchtigungen hinzu. Der mutmaßliche Täter, circa 17 Jahre alt, kurze stoppelige Haare, Bomberjacke zum Tatzeitpunkt, konnte nicht ermittelt werden. Mit Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 20. August 1999, Aktenzeichen 100 UJs 34758/99, wurde das Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung eingestellt.

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Am 20. Dezember 1999 beantragte der Kläger die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz. Mit rechtskräftigem Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 27. August 2004, Aktenzeichen S 12 VG 19/00, wurde dem Kläger aufgrund des streitigen Ereignisses eine Beschädigtenversorgung seit Februar 1999 auf Dauer nach einer MdE in Höhe von 30 vom Hundert gewährt.

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Am 25. April 2004 wand sich das verurteilte Land an den Beklagten und machte vorsorglich einen Erstattungsanspruch geltend. Gegenüber dem Land teilte der Beklagte mit Schreiben vom 24. November 2004 mit, dass ein Versicherungsfall nicht vorliege.

10

Am 6. September 2005 wandte sich der Kläger an den Beklagten direkt und machte Ansprüche nach dem SGB VII auf Grund des angeschuldigten Ereignisses geltend. Mit Bescheid vom 27. Oktober 2005 lehnte der Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom "14. Februar 1999" - hierbei dürfte es sich um ein redaktionelles Versehen handeln - als Versicherungsfall ab. Der Widerspruch des Klägers hiergegen wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19. April 2006 zurückgewiesen.

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Der Kläger hat am 22. Mai 2006 Klage erhoben. Mit Beschluss der Kammer vom 8. September 2008 hat das Gericht die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel & Gaststätten zum Verfahren beigeladen. Diese hat mit Bescheid vom 7. Oktober 2008 ebenfalls das Vorliegen eines Versicherungsfalls abgelehnt. Der Kläger hat die gegen die Beigeladene gerichtete Klage in der mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2009 zurückgenommen.

12

Der Kläger beantragt weiterhin,

  1. 1.

    den Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2006 aufzuheben und

  2. 2.

    sein Unfallereignis vom 13. Februar 1999 als Versicherungsfall festzustellen.

13

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

14

Außer der Gerichtsakte haben der den Kläger betreffende Verwaltungsvorgang des Beklagten sowie die beigezogene Verfahrensakte des Sozialgerichts Braunschweig, Aktenzeichen S 12 VG 19/00, vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlungen und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Akten sowie die Sitzungsniederschriften vom 1. August 2008 sowie insbesondere vom 4. Mai 2009 ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist gegenüber dem Beklagten begründet.

16

Das Unfallereignis des Klägers vom 13. Februar 1999 ist ein Versicherungsfall gemäß §§ 7 Abs. 1, 1. Alternative, § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII. Die Tenorierung erfolgte insoweit etwas unglücklich; gleichwohl erscheint sie nicht missverständlich; § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII begründet den Versicherungsschutz kraft Gesetzes für die Tätigkeit des Klägers zum Zeitpunkt der von ihm erlittenen Körperverletzung. Es liegt ein Versicherungsfall im Sinne eines Arbeitsunfalls vor. Der Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

17

Die dritte Alternative des § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII ist einschlägig. Der Kläger wollte am späten Abend des 13. Februar 1999 seinen Neffen Q. aus einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr für dessen Gesundheit retten. Das Verwandtschaftsverhältnis des Klägers zu seinem Neffen ist hierbei unschädlich. Seine Handlungstendenz war eindeutig auf die Rettung des Neffen gerichtet. Die aufgeheizte Stimmung am Unfallort, bereits gekennzeichnet durch Pöbeleien und Schubsereien, entwickelte sich dramatisch. Es war aus Sicht des Klägers nicht ausgeschlossen, dass Gefahren für die körperliche Integrität seines Neffen bestanden. Eine gegenwärtige Gefahr für dessen Gesundheit ist festzustellen. Bei der Ansprache der Gruppe durch den Kläger wurde dieser Opfer des Flaschenwurfs. Bereits auf dem Weg zu seinem Neffen stand der Kläger unter Versicherungsschutz.

18

Der Hilfeleistungstatbestand im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII setzt ein aktives Handeln zu Gunsten eines Dritten voraus. Hierzu kann bereits ein verbaler Eingriff ausreichen, um den Tatbestand der Hilfeleistung zu erfüllen. Zur versicherten Tätigkeit gehört auch der Weg zur Rettungshandlung; im Unterschied zu nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII als Beschäftigte oder nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII als Unternehmer freiwillig Versicherten gehört bei den nach § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII als Retter aus einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr versicherten Personen der Weg zur Rettungshandlung schon zu der versicherten Tätigkeit selbst und ist nicht nur eine ihr vorgelagerte Tätigkeit; ab der Wahrnehmung der Notlage und dem Entschluss zu helfen beginnt die Rettungshandlung, und der Weg zu der Person in der erheblichen gegenwärtigen Gefahr für ihre Gesundheit ist hierdurch geprägt; dieser Weg bildet mit der Rettungshandlung einen einheitlichen Lebensvorgang und unterscheidet sich von daher grundsätzlich von den Wegen anderer Versicherter zu oder im Rahmen ihrer versicherten Tätigkeit; dies gilt auch für die Betriebswege zum Beispiel als Beschäftigter, weil es bei diesen im Regelfall einer besonderen Eilbedürftigkeit aufgrund der erheblichen gegenwärtigen Gefahr mangelt, während eine solche Eilbedüftigkeit den Weg des Versicherten nach § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII geradezu prägt (siehe Bundessozialgericht , Urteil vom 12. Dezember 2006, Aktenzeichen B 2 U 39/05 R).

19

Der Kläger nahm die für seinen Neffen gefährliche Situation wahr und hat sich in vorbildlicher Weise dazu entschlossen, diesen aus der Gefahrensituation zu befreien. Zu Recht versuchte der Kläger, zunächst mündlich deeskalierend einzuwirken, was bedauerlicher Weise scheiterte. Auf dem Weg in die Gefahrenzone ist er Opfer des Flaschenwurfs geworden. Dieses Hinzutreten war bereits Bestandteil der Rettungshandlung, die ihrerseits eine versicherte Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII ist.

20

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

21

Die Berufung ist zulässig, § 143 SGG.