Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 06.07.2004, Az.: 3 B 156/04

Anspruchsbefriedigung; Barbetrag; Bedarf; Behandlung; Eilrechtsschutz; Eilverfahren; Einrichtung; Erhöhung; Gehbehinderung; Geldleistung; Hauptsachenvorwegnahme; Lebensunterhalt; Mehrbedarf; Notlage; Regelsatz; Sozialhilfe; vollstationäre Behandlung; vorläufiger Rechtschutz; Vorwegnahme der Hauptsache

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
06.07.2004
Aktenzeichen
3 B 156/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 51055
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Bewilligung eines Mehrbedarfs nach § 23 BSHG (hier § 23 Abs. 1 Nr. 2 BSHG) kommt bei stationärer Unterbringung im Rahmen von § 72 BSHG nicht in Betracht.

2. Wird ein ungedeckter außergewöhnlicher laufender Bedarf in Bezug auf persönliche Bedürfnisse glaubhaft gemacht, ist allenfalls eine Erhöhung des Barbetrages gemäß § 21 Abs. 3 BSHG im Wege einer Ermessensentscheidung möglich.

Tenor:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Die Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei. Außergerichtliche Kosten der Beteiligten werden nicht erstattet.

Gründe

1

1. Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der der Antragsgegner verpflichtet werden soll, dem Antragsteller einen behinderungsbedingten Mehrbedarf nach § 23 Abs. 1 Nr. 2 BSHG zu gewähren, ist nicht begründet.

2

Der Antragsteller hat den für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) erforderlichen Anordnungsanspruch, d. h. die überwiegende Wahrscheinlichkeit für die materielle Berechtigung seines Begehrens, nicht glaubhaft gemacht.

3

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese Regelung, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Da nach Wesen und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die vorläufige Regelung grundsätzlich die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf, kann eine Verpflichtung zur Erbringung von Geldleistungen - wie sie im vorliegenden Fall von dem Antragsteller begehrt wird - im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur ausgesprochen werden, wenn der Antragsteller die tatsächlichen Voraussetzungen für einen entsprechenden Anspruch (Anordnungsanspruch) und weiterhin glaubhaft macht, er befinde sich wegen fehlender anderer Geldmittel in einer existentiellen Notlage und sei deswegen - mit gerichtlicher Hilfe - auf die sofortige Befriedigung seines Anspruchs dringend angewiesen (Anordnungsgrund).

4

Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes angezeigten summarischen Prüfung steht dem Antragsteller der geltend gemachte Anspruch nicht zu.

5

Die Anerkennung eines Mehrbedarfs über § 23 Abs. 1 Nr. 2 BSHG kommt nicht in Betracht, da die Vorschrift keine Anwendung auf Personen findet, die vollstationär untergebracht sind. Dies ergibt sich nach Ansicht der Kammer aus § 27 Abs. 3 BSHG. Dort ist bestimmt, dass Hilfe in besonderen Lebenslagen (hier § 72 BSHG) dann, wenn die Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung oder in einer Einrichtung zur teilstationären Betreuung gewährt wird, auch den in der Einrichtung gewährten Lebensunterhalt einschließlich der einmaligen Leistungen nach Abschnitt 2 umfasst. Rechtsfolge ist, dass die Hilfe zum Lebensunterhalt Bestandteil der Hilfe in besonderen Lebenslagen wird, so dass nunmehr allein die Vorschriften des Abschnitts 3 über die Hilfe in besonderen Lebenslagen zur Anwendung kommen; die Vorschriften des Abschnitts 2 kommen nicht zur Anwendung, es sei denn, es wird auf sie ausdrücklich verwiesen bzw. es gibt entsprechende Sonderregelungen (vgl. Armborst in LPK, BSHG: § 27 Rn. 23).

6

Die Anwendung des in Abschnitt 2 geregelten Mehrbedarfs auf Personen in stationärer Unterbringung widerspräche auch dem Regelungsgefüge der Vorschriften. Insoweit bestimmt § 22 Abs. 1 BSHG ausdrücklich, dass laufende Leistungen zum Lebensunterhalt außerhalb von Anstalten, Heimen und gleichartigen Einrichtungen nach Regelsätzen gewährt werden. Sie sind abweichend von den Regelsätzen zu bemessen, soweit dies nach der Besonderheit des Einzelfalles geboten ist. In unmittelbarem Zusammenhang dazu trifft § 23 BSHG eine Regelung über den pauschalen Mehrbedarf für bestimmte Personengruppen, denen der in § 22 BSHG geregelte pauschalierte Bedarf nach Regelsätzen nicht gerecht wird (vgl. Schellhorn, BSHG, § 23 Rn. 1). Dementsprechend werden die in § 23 BSHG geregelten Mehrbedarfe für bestimmte Personengruppen anhand des für den Betroffenen jeweils tatsächlich maßgeblichen Regelsatzes durch eine prozentuale Erhöhung errechnet. Insoweit ist z. B. davon auszugehen, dass der Bedarf von nachgewiesen Gehbehinderten und voll Erwerbsgeminderten unter 65 Jahren, die nicht stationär oder teilstationär untergebracht sind, in der Regel pauschal 20 % höher anzusetzen ist, als der Bedarf, d. h. die Regelsatzleistungen für Gesunde, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. Die in § 23 BSHG geregelten Mehrbedarfe stehen dementsprechend in Relation zu den Regelsätzen nach § 22 BSHG. Da der Lebensunterhalt abgesehen vom angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung (§ 21 Abs. 3 BSHG) bei teil- oder vollstationärer Unterbringung durch die jeweilige Einrichtung unabhängig von Regelsätzen abgedeckt wird, wäre die Anwendung von § 23 BSHG systemwidrig.

7

Im Übrigen hat der Antragsteller bei im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglicher und zulässiger summarischer Prüfung einen im Vergleich zu den Regelfällen außergewöhnlichen höheren laufenden Bedarf aufgrund seiner körperlichen Behinderung, welcher durch die von ihm bewohnte Einrichtung nicht gedeckt wird, nicht glaubhaft gemacht. Soweit der unstreitig erheblich körperbehinderte Antragsteller geltend macht, es komme wegen der rechtsseitigen Lähmung beim Essen zu einer häufigeren Verschmutzung der Kleidung, was zu einem erheblichen Mehrbedarf führe, kann diesem Bedarf durch die Bewilligung entsprechender einmaliger Leistungen für Bekleidung nach Abschnitt 2 (vgl. § 27 Abs. 3 BSHG) Rechnung getragen werden. Einen in erhöhten laufenden Kosten messbaren höheren Waschbedarf und einen daraus resultierenden erhöhten Bedarf für Waschmittel hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Er hat nicht dargestellt, wie viel öfter er im Vergleich als andere Mitbewohner z. B. waschen muss und um wie viel höher der Bedarf an Waschmittel ist. Dies gilt ebenfalls für den behaupteten höheren Bedarf an Lebensmitteln. In Bezug auf die eingeschränkte Fortbewegungsmöglichkeit des Antragstellers ist nicht nachvollziehbar, warum sich die zwingende Notwendigkeit zum öfteren Aufsuchen eines Cafés ergibt. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass aus der reduzierten Fortbewegungsmöglichkeit resultierende Nachteile sich dadurch relativieren, dass die mit öffentlichen Verkehrsmitteln angebundene Jugendwerksiedlung Freizeitangebote auf dem eigenen Gelände, ein- und mehrtägige Gruppenfahrten sowie den Besuch von Veranstaltungen bietet (vgl. www. D..de „Kurzinfo“). Durch die Behinderung möglicherweise grundsätzlich eingeschränkte Kontaktmöglichkeiten werden durch die Unterbringung in einer Wohngruppe und die spezifischen Angebote der Einrichtung zu sozialer Beratung etc. aufgefangen. Soweit vom Antragsteller zukünftig ein außergewöhnlicher regelmäßiger, d. h. laufender Bedarf in Bezug auf seine persönlichen Bedürfnisse glaubhaft gemacht werden sollte, der als sozialhilferechtlich notwendig anzuerkennen wäre, könnte dem seitens des Antragsgegners allenfalls durch eine nach Ermessen zu entscheidende Erhöhung des dem Antragsteller gewährten Mindestbarbetrages gemäß § 21 Abs. 3 Satz 2 BSHG Rechnung getragen werden (vgl. VGH Kassel, B. v. 17.10.2003, 10 TP 2353/03, recherchiert in Juris).

8

Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt die Kammer auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge Bezug.

9

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

10

2. Die beantragte Prozesskostenhilfe kann nicht bewilligt werden, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den o. g. Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO).

11

Die Kostenentscheidung beruht auf § 188 Satz 2 VwGO i. V. m. § 166 VwGO und § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.