Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 02.08.2006, Az.: 1 A 228/05

Abschiebung; Abschiebungsschutz; Arznei; Asyl; Asylantrag; Asylfolgeverfahren; Asylverfahren; Folgeantrag; Gesundheit; gesundheitliche Beeinträchtigungen; Gesundheitszustand; Iran; konkrete Gefahr; Krankenversicherung; Medikamente; medizinische Versorgung; psychische Erkrankung; Suizid; Wiederaufgreifen; Wiederaufgreifen des Verfahrens

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
02.08.2006
Aktenzeichen
1 A 228/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 53227
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Die Klägerin begehrt im dritten Asylfolgeverfahren die Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG.

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Die am 1. Juli 1942 in Ghoryeh geborene Klägerin ist iranische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit und christlichen Glaubens. Sie reiste am 2. Juli 1994 unter Verwendung eines Deutschen Visums über den Flughafen Frankfurt/Main in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 24. Juli 1995 beantragte sie unter dem Namen C. ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte das Begehren der Klägerin mit Bescheid vom 21. September 1995 ab. Ihre dagegen gerichtete Klage blieb ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht München wies sie mit Gerichtsbescheid vom 25. Januar 1997 (Az: M 9 K 95.52457) ab.

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Bereits zuvor, am 27. März 1996, hatte die Klägerin bei der Außenstelle Oldenburg des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge einen Asylantrag unter dem Namen D., geboren am 1.7.1942, gestellt. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 4. Juni 1996 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Auf die dagegen von der Klägerin am 13. Juni 1996 erhobene Klage hob das Verwaltungsgericht Lüneburg - Einzelrichter - mit Urteil vom 27. November 1997 den Bescheid des Bundesamtes teilweise auf und verpflichtete die Beklagte festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Iran vorliegen, und wies die weitergehende Klage ab (Az: 1 A 592/97). Die mit Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 8. Februar 2000 (Az: 5 L 688/98) zugelassene Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hatte Erfolg. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht änderte mit Urteil vom 9. Januar 2001 (Az: 5 L 462/00) das Urteil des Verwaltungsgerichts, soweit der Klage stattgegeben worden war, und wies die Klage insgesamt ab. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts verwarf das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 25. April 2001.

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Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 21. September 2001 beantragte die Klägerin die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens mit dem Ziel festzustellen, dass die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG vorliegen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte mit Bescheid vom 26. Oktober 2001 die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und die Abänderung des Bescheides vom 4. Juni 1996 bezüglich der Feststellung zu § 53 AuslG ab. Die dagegen am 8. November 2001 erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Lüneburg - Einzelrichterin - mit Urteil vom 28. November 2002 (Az.: 6 A 419/01) ab.

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Mit Schriftsätzen vom 28. Februar 2005 sowie 5. April 2005 beantragte die Klägerin unter Vorlage mehrerer ärztlicher Atteste erneut, ein weiteres Asylverfahren durchzuführen und ihr Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu gewähren. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen an: Sie leide an einer schweren Depression mit erheblicher krankheitsbedingter Suizidgefahr sowie einer hochgradigen degenerativen Gelenkerkrankung. Im Iran sei eine Behandlung nicht sichergestellt, zumal sie zum christlichen Glauben übergetreten sei.

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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte mit Bescheid vom 13. Juli 2005 die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens sowie die Abänderung des Bescheides vom 4. Juni 1996 bezüglich der Feststellung zu § 53 AuslG ab. Es lägen weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für die Durchführung eines weiteren Asylverfahren noch die Voraussetzungen des § 49 VwVfG für eine Abänderung der nach § 53 AuslG getroffenen Entscheidung vor. Die Klägerin habe nicht belegt, dass sich ihr Gesundheitszustand derart verschlechtert habe, dass eine Weiterbehandlung im Iran nicht möglich sei.

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Am 18. Juli 2005 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Während des Klageverfahrens hat sie weitere ärztliche Atteste vorgelegt.

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Die Klägerin beantragt,

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den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juli 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für sie hinsichtlich des Iran Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG bestehen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ergeben sich aus der Anlage zur gerichtlichen Verfügung vom 11. Juli 2006 sowie der gerichtlichen Verfügung vom 19. August 2005. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt dieser Gerichtsakte sowie den der Gerichtsakte 6 A 419/01 und den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet.

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1) Die Voraussetzungen für die Durchführung eines Asylfolgeverfahrens nach § 71 Abs.1 Satz 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1-3 VwVfG liegen vor.

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Stellt ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1-3 VwVfG vorliegen (§ 71 Abs.1 Satz 1 AsylVfG). Nach § 51 Abs. 3 VwVfG können grundsätzlich nur solche Wiederaufgreifensgründe berücksichtigt werden, die der Betroffene drei Monate, nachdem er von ihnen erfahren hat, geltend gemacht hat.

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Das Wiederaufnahmeverfahren nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, § 51 Abs. 1-3 VwVfG ist gestuft: Voraussetzung für die Wiederaufnahme ist lediglich ein glaubhafter und substantiierter Vortrag von Tatsachen, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1-3 VwVfG ergibt (§ 71 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens bedarf noch nicht eines Beweises des neuen Vortrages. Auch ist es für die Frage des Wiederaufgreifens nicht von Bedeutung, ob der neue Vortrag tatsächlich zutrifft, die Verfolgungsfurcht begründet und die Annahme einer asylrechtlich relevanten politischen Motivierung der Verfolgung gerechtfertigt ist. Diese Fragen sind Gegenstand des eigentlichen Asylbegehrens, die erst zu klären sind, wenn das Verfahren wieder aufgenommen worden ist. Zwar kann ein Folgeantrag dann als unbeachtlich angesehen werden, wenn das Vorbringen glaubhaft und substantiiert, jedoch von vornherein ungeeignet ist, zur Asylberechtigung zu verhelfen, eine solche Ausnahme beschränkt sich jedoch auf Sachverhalte, deren fehlende Asylerheblichkeit auf der Hand liegt (BVerfG, Beschluss v. 11.5.1993 - 2 BvR 2245/92 -, DVBl. 1994, 38; Beschluss v. 13.3.1993 - 2 BvR 1988/92 -, InfAuslR 1993, 229).

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Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist für die Klägerin hinsichtlich der Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, weil der Umfang, die Dauer und die Entwicklung ihrer Erkrankung seit dem letzten Folgeverfahren neue Tatsachen im Sinne der Vorschriften zum Asylfolgeverfahren sind, die sie in den vorangegangenen Verfahren noch nicht hat geltend machen können. Diese Umstände sind auch nicht ohne weiteres ungeeignet, Abschiebungsschutz nach den genannten Bestimmungen zu begründen.

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Sind die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens - etwa hinsichtlich der Gewährung von Abschiebungsschutz - erfüllt, so muss das Gericht unter Berücksichtigung der Verpflichtung nach § 77 Abs. 1 AsylVfG die Sache im gerichtlichen Verfahren spruchreif machen (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.2.1998 - 9 C 28.97 - BVerwGE 106, 171).

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2) Die Klägerin hat nunmehr auch einen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsschutz im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG.

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Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen der obersten Landesbehörde nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Diese so genannte Sperrwirkung des § 60 a Abs. 1 AufenthG (vgl. hierzu zum inhaltsgleichen § 54 AuslG etwa BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324; Urt. v. 8.12.1998 - 9 C 4.98 -, InfAuslR 1999, 266) lässt eine positive Individualentscheidung außerhalb des § 60 a Abs. 1 AufenthG nur zu, wenn diese durch Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG deshalb geboten ist, weil der Ausländer in seinem Heimatstaat anderenfalls einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Fall seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde (BVerwG, Urt. v. 8.12.1998, a. a. O., m. w. N.).

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Individuelle Gefährdungen des Ausländers, die sich aus einer allgemeinen Gefahr i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ergeben, können auch dann nicht als Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden, wenn sie auch durch Umstände in der Person oder den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt werden, aber gleichwohl insgesamt nur typische Auswirkungen der allgemeinen Gefahrenlage sind. § 60 a Abs. 1 AufenthG lässt es nicht zu, den Ausländer aus der allgemein gefährdeten Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe auf Grund zusätzlicher individueller Besonderheiten oder Umstände auszugliedern, die bei wertender Betrachtung eine solche Differenzierung nicht rechtfertigen, weil sie lediglich zu einer Realisierung der allgemeinen Gefahr für den Einzelnen führen und die eine politische Leitentscheidung bedingende Typik unberührt lassen (vgl. zu § 54 AuslG BVerwG, Urt. v. 8.12.1998, a. a. O., S. 268). Darüber hinaus ist die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auch dann zu beachten, wenn ein zielstaatsbezogener Abschiebungsschutz bereits nach § 60 a AufenthG gewährt wird (BVerwG, Urt. v. 12.7.2001 - 1 C 2.01 -, NVwZ 2001, 1420 zur Rechtslage nach dem AuslG). Grund hierfür ist, dass in diesem Fall eine die verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten des Ausländers rechtfertigende verfassungswidrige Schutzlücke nicht vorhanden ist.

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Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze droht der Klägerin eine der in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG genannten Gefahren im Iran. Ihr droht eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben deshalb, weil ihr aufgrund ihrer psychischen Erkrankung derzeit im Iran schwerste gesundheitliche Beeinträchtigungen drohen.

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Allerdings weist das Bundesamt zu Recht darauf hin, dass die medizinische Versorgung im Iran grundsätzlich ausreichend bis - vor allem in Teheran - befriedigend ist, wenn sie auch nicht internationalen Anforderungen entspricht (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom März 2006). Behandelbar sind auch psychische Erkrankungen wie Depressionen und Gelenkerkrankungen wie Gonarthrose (vgl. Deutsches Orient-Institut, Auskunft vom 22.12.2003 an das Bundesamt). Die für diese Erkrankungen erforderlichen Medikamente sind - zumindest vom Wirkstoff her - im Iran ebenfalls verfügbar. Das Bundesamt hat aber nicht hinreichend in den Blick genommen, dass die Klägerin inzwischen 64 Jahre alt und verwitwet ist und im Iran sich nicht mehr auf Angehörige stützen kann. Von dem prinzipiell im Iran bestehenden Krankenversicherungsschutz wird die Klägerin, die aufgrund ihrer Erkrankungen nicht mehr arbeiten kann, grundsätzlich nicht erfasst. Das bedeutet, dass die Klägerin sowohl für ihre Behandlung als auch für die erforderlichen Medikamente selbst aufkommen müsste. Selbst wenn sie Krankenversicherungsschutz erhalten würde, wäre sie auf hohe Eigenaufwendungen angewiesen, da die Behandlungskosten deutlich über den Versicherungsleistungen liegen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom März 2006) und Medikamente grundsätzlich selbst bezahlt werden müssen (vgl. Deutsches Orient-Institut, Auskunft vom 22.12.2003 an das Bundesamt). Im Hinblick darauf, dass die Klägerin seit Jahren an einer - auch amtsärztlich bestätigten - schweren depressiven Störung leidet, die in letzter Zeit nach dem ärztlichen Gutachten von Dr. S. vom 17. Oktober 2005 und vom 16. Mai 2006 zugenommen hat, und die angesichts von bereits vier dokumentierten Suizidversuchen eine hohes Suizidrisiko beinhaltet, so dass eine Dosisreduzierung der kostenintensiven Antidepressiva (Paroxetin und Trazodon) nicht möglich ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin die erforderliche psychiatrische Behandlung im Iran - aus finanziellen Gründen - erhalten wird. Angesichts der Schwere der Erkrankung ist nach den Gutachten von Dr. S. (ebenso schon Gutachten vom 3.5.2005) von einer sehr langen wenn nicht dauernden Behandlungsbedürftigkeit auszugehen, so dass selbst eine kurzzeitige Kostenzusage aus deutschen Sozialhilfemitteln keine andere Situation bewirken würde. An dieser Einschätzung ändert auch nichts die Tatsache, dass Medikamente im Iran zum Teil kostengünstiger als in Deutschland zu erhalten sind, da dass zur Verfügung stehende Einkommen im Iran auch deutlich niedriger ist (vgl. Deutsches Orient-Institut, Auskunft vom 22.12.2003 an das Bundesamt), und die besondere Situation der Klägerin befürchten lässt, das sie im Iran auch ohne Erkrankung am Existenzminimum wird leben müssen. Hinzu kommt, dass die Klägerin zur Zeit nicht einmal in der Lage ist, ihre täglichen Dinge vollständig selbst zu erledigen, und sie daher im Iran für längere Zeit auf fremde Hilfe angewiesen ist. Diese Hilfe ist im Iran - schon aus finanziellen Gründen - nicht auf Dauer gesichert.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.