Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 02.05.2006, Az.: S 22 AS 263/06 ER

Rechtmäßigkeit einer Einstellung der Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts; Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren; Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
02.05.2006
Aktenzeichen
S 22 AS 263/06 ER
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 33578
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOSNAB:2006:0502.S22AS263.06ER.0A

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 6. April 2006 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5. April 2006 wird im Wege einstweiligen Rechtsschutzes angeordnet. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I.

Die Antragstellerin wendet sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Einstellung der Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit vom 30. April 2006 bis 31. Mai 2006. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der ab 1. April 2006 geltenden Fassung - n.F. - (Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, BGBl. I, S. 558) Anwendung findet.

2

Die am 16. Oktober 1969 in C. geborene Antragstellerin, die italienische Staatsbürgerin ist, war - nach eigenen Angaben - von 1986 bis 1987 in einer Fleischfabrik in D. beschäftigt. Anschließend bezog sie von 1987 bis 1989 Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz. Von Juli 1999 bis Mai 2003 war sie im Gastronomiebereich selbständig tätig. Im Juni 2003 verließ sie das Bundesgebiet und zog mit ihrem Ehemann und den drei Kindern nach Italien. Von dort reiste sie am 1. Februar 2006 mit ihren drei Kindern wieder in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im Rahmen der Aufenthaltsanzeige bei der Stadt D. gab sie als Grund für ihre Einreise "Arbeitsplatzsuche" an.

3

Am 3. Februar 2006 beantragte sie für sich und ihre drei Kinder Leistungen nach dem SGB II. Der Beklagte bewilligte daraufhin für die Zeit vom 3. Februar 2006 bis 31. Mai 2006 die beantragten Leistungen nach dem SGB II. In der Zeit vom 15. Februar 2006 bis 15. März 2006 war die Klägerin als Reinigungskraft bei der Firma E ... KG F. in G. beschäftigt (vgl. befristeter Arbeitsvertrag in der Verwaltungsakte des Antragsgegners).

4

Ohne die Antragstellerin zuvor gemäß § 24 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) angehört zu haben, stellte der Antragsgegner mit Bescheid vom 5. April 2006 die Leistungen gemäß § 48 SGB X zum 1. Mai 2006 unter Hinweis auf die gesetzliche Neuregelung des § 7 Abs. 1 SGB II ein. Über den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 6. April 2006 ist - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden worden.

5

Die Antragstellerin hat am 7. April 2006 einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Sie trägt vor, dass sie nicht mehr wisse, wie sie die Miete bezahlen und ihre Kinder und sich ernähren solle.

6

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 6. April 2006 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5. April 2006 im Wege einstweiligen Rechtsschutzes anzuordnen.

7

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

8

Er hält an seiner Entscheidung fest. Die Antragstellerin halte sich zur Arbeitsplatzsuche in der Bundesrepublik Deutschland auf und sei deshalb als Ausländerin vom Leistungsbezug auszuschließen.

9

II.

Der zulässige Antrag ist begründet. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 6. April 2006 gegen den Bescheid vom 5. April 2006 ist anzuordnen, denn die Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind erfüllt.

10

Grundsätzlich haben Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung, sofern nicht durch Bundesgesetz anderes geregelt ist (§ 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG). § 39 SGB II enthält eine solche abweichende Regelung für Fälle, in denen der angefochtene Verwaltungsakt über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet. Hierunter fallen auch Entscheidungen über die Aufhebungen von Bewilligungsbescheiden nach § 48 SGB X. Ein solcher Fall liegt hier vor, so dass der Widerspruch vom 6. April 2006 gegen den Bescheid vom 5. April 2006 keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Diese kann durch das Gericht gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ganz oder teilweise angeordnet werden.

11

Das Gericht entscheidet dabei nach eigenem Ermessen und aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung. Die aufschiebende Wirkung ist in der Regel anzuordnen, wenn das Interesse des Leistungsempfängers an der aufschiebenden Wirkung überwiegt und die Behörde keine Umstände dargelegt hat, die einen Vorrang an alsbaldiger Vollziehung erkennen lassen. Dabei sind auch die Erfolgsaussichten in einem Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen. Ist der angefochtene Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig, wird die aufschiebende Wirkung regelmäßig angeordnet.

12

Unter Beachtung dieser Maßgabe fällt die hiernach vorzunehmende Interessenabwägung zu Lasten des Antragsgegners aus. Der Bescheid vom 5. April 2006 wird sich voraussichtlich als rechtswidrig und der Widerspruch vom 6. April 2006 als begründet erweisen. Dabei kann dahinstehen, aus welchem Anlass entsprechend § 2 Abs. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (BGBl. 2004 I, Seite 1950) die Antragstellerin nach Dissen gezogen ist, denn jedenfalls sind die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht erfüllt.

13

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist. Hierunter fällt auch die Änderung der anspruchsbegründenden Rechtsnorm nach Leistungsbewilligung.

14

Eine solche Änderung der Rechtslage ist vorliegend jedoch nicht anzunehmen. Die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. ist auf die Antragstellerin nicht anzuwenden.

15

Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. sind von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende Ausländer ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt (vgl. hierzu kritisch: Winkel, Soziale Sicherheit 3/2006, S. 103, S. 104). Mit der Neufassung von Satz 2 hat der Gesetzgeber Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (vgl. Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. April 2004, L 158 / 77 ff) umgesetzt (vgl. Bundestagsdrucksache 16/688, S. 13). Danach ist der Aufnahmemitgliedsstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 lit. b) einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. In den Gründen zu der Richtlinie 2004/38/EG heißt es, dass Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen sollen (vgl. Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. April 2004, L 158 / 81, Rn. 10).

16

Hiervon ausgehend ist der Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II im Rahmen einer teleologischen Reduktion dahingehend auszulegen, dass von der Neuregelung nur Ausländer betroffen sind, die sich erstmalig in das Bundesgebiet begeben haben und dort unmittelbar mit dem Zuzug Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Dies ergibt sich aus dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung (vgl. hierzu: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Urteil vom 10. April 1984 - 14/83 - = EuGHE 1984, 1891, 1909; zitiert nach JURIS, Leitsatz 3). Denn das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union sind bei Erlass der Richtlinie 2004/38/EG offensichtlich davon ausgegangen, dass - auch unter Wahrung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 39 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) - von dieser Regelung nur die EU-Bürger umfasst sind, die ihren Aufenthalt zum ersten Mal in einem anderen Mitgliedsstaat nehmen. Hierfür spricht neben der richtlinienkonformen Auslegung auch der Wille des Gesetzgebers. Denn dieser ging bei der Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG ebenfalls davon aus, dass nur der erstmalige Zuzug in das Bundesgebiet einen Ausschlussgrund darstellen sollte (vgl. Bundestagsdrucksache 16/688, S. 13: "Auch die Familienangehörigen eines erstmals in Deutschland arbeitsuchenden EU-Bürgers sind dann vom Bezug von Leistungen nach diesem Buch ausgeschlossen.")

17

Hier hat die Antragstellerin nicht zum ersten Mal ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet, denn sie lebte bereits von Geburt an bis zur ihrem Umzug nach Italien 34 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland und war hier berufstätig. Danach ist nicht davon auszugehen, dass sie sich mit Rückkehr in das Bundesgebiet erstmals in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Eine Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EGV durch § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. kann damit - auch im Hinblick auf den Umstand, dass die Antragstellerin bereits vom 15. Februar 2006 bis 15. März 2006 im Bundesgebiet wieder gearbeitet hat - nicht erfolgen.

18

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.