Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 10.08.2001, Az.: 6 U 41/01

Anhaltspunkt; Aufsichtspflichtverletzung; Depression; Krankenhaushaftung; Krankenhausvertrag; Patient; psychiatrisches Krankenhaus; schizoaffektive Psychose; Schizophrenie; selbstschädigende Handlung; Selbstschädigung; Unvorhersehbarkeit; Verhaltensstörung; Verkehrssicherungspflichtverletzung

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
10.08.2001
Aktenzeichen
6 U 41/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 40449
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG - 02.02.2001 - AZ: XX
nachfolgend
BGH - 14.05.2002 - AZ: VI ZR 316/01

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 2. Februar 2001 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Jedoch kann die Klägerin die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 13.000 DM abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in entsprechender Höhe Sicherheit leistet.

Der Wert der Beschwer übersteigt 60.000 DM.

Tatbestand:

1

Die Klägerin nimmt das beklagte Land als Träger des N... Landeskrankenhauses W... auf Schadensersatz in Anspruch.

2

Seit 1993 mußte die Klägerin sich mehrfach wegen erheblicher Depressionen im Landeskrankenhaus W... behandeln lassen. Sie litt an einer schizoaffektiven Psychose. Auch in der Zeit ab 11.12.1998 befand sie sich im Landeskrankenhaus, und zwar im Wachsaal einer Frauenstation. Am 17.2.1999 wurde sie nach dem selbständig eingenommenen Abendessen gegen 18.05 Uhr zur Toilette geschickt. Sie ging dorthin, entkleidete sich, setzte sich in eine vom WC aus zugängliche Badewanne und stellte den Heißwasserhahn an. Etwa 10 Minuten später wurde sie von einer Pflegekraft in der Wanne sitzend entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich Verbrennungen 2. Grades im Genital- und Gesäßbereich sowie an den Unterseiten der Beine und Hacken zugezogen. Sie wurde deshalb vom 17. bis 18.2. und vom 22.2. bis 19.4.1999 in einem anderen Krankenhaus stationär behandelt und anschließend in das Landeskrankenhaus zurückverlegt.

3

Die Klägerin wirft dem Beklagten eine Verletzung seiner Verkehrssicherungspflicht und Aufsichtspflicht vor. Sie hat geltend gemacht, sie hätte wegen der ihr verabreichten Medikamente ständig beaufsichtigt werden müssen. Es sei unverantwortlich, daß aus dem Heißwasserhahn im Bad 47 Grad heißes Wasser austrete. Sie habe längere Zeit erhebliche Schmerzen gehabt. Wegen ihrer noch nicht behobenen Verletzungen könne sie sich weder sportlich betätigen noch am Strand baden gehen. Auch ihr psychischer Zustand habe sich dadurch erheblich verschlechtert.

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Mit ihrer Klage hat die Klägerin Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes, Ersatz ihres materiellen Schadens in Höhe von 25.388,03 DM nebst Zinsen sowie die Feststellung begehrt, daß der Beklagte zum Ersatz ihres künftigen materiellen und immateriellen Schadens verpflichtet ist.

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Der Beklagte ist dem entgegengetreten. Er hat vorgetragen, mit dem selbstschädigenden Verhalten der Klägerin sei nicht zu rechnen gewesen.

6

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, eine Verletzung der Aufsichts- oder Verkehrssicherungspflicht sei nicht bewiesen. Die Bediensteten des Beklagten hätten mit dem Unglück am Vorfallstag nicht rechnen müssen. Das für einen Außenstehenden unverständliche Verhalten der Klägerin, nämlich das Sitzenbleiben in heißem Wasser, sei nach den Ausführungen des Sachverständigen nur mit ihrer schweren psychischen Grunderkrankung zu erklären. Der Beklagte sei zwar für die Sicherheit der Patienten im Landeskrankenhaus verantwortlich. Gefahren könnten aber nur im therapeutisch vertretbaren Rahmen verhindert bzw. eingeschränkt werden. Auch die Tatsache, daß so heißes Wasser aus dem Kran gelaufen sei, daß die Klägerin sich habe verletzen können, begründe keine Haftung. Die an eine Grundsicherung zu stellenden Anforderungen dürften nicht überspannt werden und das Maß des Vorhersehbaren nicht übersteigen. Auch von psychiatrischen Krankenhäusern könne nicht verlangt werden, daß jedes weit entfernt liegende Risiko, das sich nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen verwirklichen könne, erkannt und ausgeschlossen werde. Anderenfalls bliebe nur eine Fixierung der Patientin; eine solche Maßnahme wäre für die Klägerin als unverhältnismäßig anzusehen und sicherlich vom Vormundschaftsgericht auch nicht genehmigt worden.

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Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung.

8

Sie trägt vor, das Landgericht sei zur Frage der Vorhersehbarkeit des Vorfalls allein den Ausführungen des Sachverständigen gefolgt, ohne eine eigene Wertung vorzunehmen. Außerdem habe die Beklagte geeignete Vorkehrungen unterlassen, um vergleichbare Vorfälle zu verhindern. Die Badewanne hätte mit einem Mischventil ausgestaltet werden müssen, und zwar mit einer Temperaturbegrenzung, die Verbrennungen mit heißem Wasser verhindert hätte.

9

Die Klägerin beantragt,

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das angefochtene Urteil zu ändern und

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1) an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 50.000 DM, zuzüglich 4% Zinsen seit dem 13.12.1999 zu zahlen,

12

2) an die Klägerin 25.388,03 DM zuzüglich 4% Zinsen auf 25.292,21 DM seit dem 13.06.2000 und auf weitere 95,82 DM 5% über dem Basiszinssatz nach

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§ 1 des Diskontüberleitungsgesetzes seit dem 2.6.2000 zu zahlen,

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3) festzustellen, daß das beklagte Land verpflichtet ist, der Klägerin allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihr aus dem Vorfall vom 17.2.1999 noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.

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Der Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Er tritt dem Berufungsvorbringen entgegen.

18

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung hat keinen Erfolg.

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Die Klage ist aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils nicht begründet. Das Berufungsvorbringen rechtfertigt keine abweichende Entscheidung.

21

Es ist nicht festzustellen, daß Mitarbeiter des Beklagten ihre Aufsichts- oder Verkehrssicherungspflicht gegenüber der Klägerin verletzt hätten.

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Der vom Landgericht zugezogene Sachverständige Dr. F... hat in seinem Gutachten vom 7.9.2000 und bei seiner Anhörung am 12.1.2001 ausgeführt, der Vorfall vom 17.2.1999, bei dem die Klägerin sich im Bad mit heißem Wasser verbrühte, sei aus medizinischer Sicht nicht vorhersehbar gewesen. Diese Ansicht hat er näher begründet und dabei die Erkrankung der Klägerin, ihre medikamentöse Behandlung und das Verhalten vor dem Unfall berücksichtigt. Aufgrund der nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen ist davon auszugehen, daß die Bediensteten des Beklagten mit einem selbstschädigenden Verhalten der Klägerin, wie es sich am Unfalltag zeigte, nicht rechnen mußten. Die von der Berufung angeführten Vorfälle, bei denen sich die Klägerin im Zusammenhang mit dem Bad auffällig verhielt, rechtfertigen keine andere Beurteilung.

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Das Landgericht hat in seinem Urteil aus der Pflegedokumentation des Landeskrankenhauses die Fälle aufgelistet, in denen die Klägerin während des Krankenhausaufenthaltes vom 11.12.1998 bis zum 17.2.1999 sich eigenmächtig ins Bad begab, sich dort entkleidete, in die Wanne kletterte oder dies versuchte und Badewasser einließ. Von den neun Vorfällen (vor dem 17.2.1999) gab es nur einen, bei dem die Klägerin sich heißes Wasser über die Beine laufen ließ. Daß sie sich dabei verbrüht hätte oder deshalb hätte behandelt werden müssen, ist in der Dokumentation nicht festgehalten und wird von der Klägerin auch nicht, jedenfalls nicht konkret nach Art und Umfang, behauptet. (In der Berufungsverhandlung hat der Klägervertreter dazu ausgeführt, ein Vorfall, d.h. der dem 17.2.1999 vorangegangene, sei zum Glück ohne Schaden ausgegangen.) Letztmalig kletterte Klägerin am 19./20.1.1999 mehrfach in die Wanne; am 23.1. zog sie sich lediglich im Bad aus, am 2.2.1999 stellte sie im Bad das Wasser an. Von diesen Vorfällen unterschied sich die Situation am 17.2.1999. An diesem Tag wurde sie medikamentös neu eingestellt. Nachmittags badete sie und nahm später das Abendessen selbständig ein. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen war an diesem Tag auch im Hinblick auf die zurückliegenden Vorfälle und die Krankheitsentwicklung nicht vorhersehbar, daß die Klägerin am Abend einen Gang zur Toilette zum Anlaß nahm, in das von dort zugängliche Bad zu gehen, sich zu entkleiden und mit heißem Badewasser zu verbrühen.

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Das plötzliche heftige Auftreten der Verhaltensstörungen änderte an der Vorhersehbarkeit nichts; es erforderte auch keine besonderen Sicherungsmaßnahmen. Immerhin war die Klägerin in einem Wachsaal der Frauenabteilung untergebracht, stand dort somit unter Beobachtung. Ein Abschließen des Bad- und Toilettenbereichs war, wie der Sachverständige ausgeführt hat, mit dem erstrebten Behandlungserfolg nicht zu vereinbaren.

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Unter den gegebenen Umständen reichte es aus, den Badewannenstöpsel wegzuschließen. Weitere Vorkehrungen zur Sicherung der Klägerin waren nicht geboten. Eine Fixierung wäre angesichts ihres damaligen Allgemeinzustands unangebracht und unverhältnismäßig; sie hätte besonderer gerichtlicher Genehmigung bedurft, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu erlangen gewesen wäre. Das Krankenhaus konnte der Klägerin - aus wirtschaftlichen Erwägungen - eine ständige Pflegerin nicht zur Seite stellen. Allerdings hätte im Bad ein Mischventil mit einer Temperaturbegrenzung für heißes Wasser angebracht werden können, wie es inzwischen offenbar auch geschehen ist. Eine solche Vorkehrung war jedoch vor dem Unfall nicht zur Sicherung der Klägerin erforderlich. Zum einen kann ein psychiatrisches Krankenhaus generell nur eine gewisse Grundsicherheit für die Patienten bieten und nicht jede denkbare Gefährdung ausschließen. Zum anderen lagen  Anhaltspunkte für eine Selbstschädigung nicht vor. Dagegen sprach auch das in der Patientendokumentation festgehaltene gebesserte, selbständige Verhalten der Klägerin.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.