Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 15.04.2015, Az.: 2 Ws 34/15

Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung ohne sofortige Freilassung zur Erprobung von Vollzugslockerungen

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
15.04.2015
Aktenzeichen
2 Ws 34/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 20076
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2015:0415.2WS34.15.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Lüneburg - 30.01.2015

Fundstellen

  • NStZ 2016, 99-100
  • StV 2018, 364
  • StraFo 2015, 304-305

Amtlicher Leitsatz

Im Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Verurteilten und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit haben die Gerichte im Aussetzungsverfahren auf die Vollzugsbehörde einzuwirken, um gebotene Vollzugslockerungen durchzusetzen.

Dies kann geschehen durch eine Anordnung nach § 454a StPO, wonach eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung möglich ist, ohne dass dies zur sofortigen Freilassung des Betroffenen führt.

Tenor:

1.) Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg vom 30.01.2015 aufgehoben.

2.) Die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Stade vom 20.11.2000 wird mit Ablauf des 15.07.2015 zur Bewährung ausgesetzt.

3.) Die Dauer der Bewährungszeit wird auf 5 Jahre festgesetzt.

4.) Es werden folgende Weisungen erteilt:

a) Der Verurteilte wird der Aufsicht und Leitung des für seinen künftigen Wohnort zuständigen Bewährungshelfers / der zuständigen Bewährungshelferin unterstellt. Die namentliche Bestellung erfolgt gesondert.

b) Dem Verurteilen wird aufgegeben, keinen Alkohol und keine illegalen Betäubungsmittel zu konsumieren.

c) Der Verurteilte wird angewiesen, während der Bewährungszeit jeden Wechsel seines Wohnortes oder ständigen Aufenthaltsortes der Strafvollstreckungskammer unter Angabe des Aktenzeichens sowie dem Bewährungshelfer sofort unaufgefordert mitzuteilen.

5.) Die Belehrung über die Reststrafenaussetzung zur Bewährung und die Bedeutung der Bewährung wird dem Leiter der JVA U. übertragen.

6.) Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die insoweit entstandenen eigenen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers werden der Landeskasse auferlegt.

7.) Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer ist durch Urteil des Landgerichts Stade vom 20.11.2000 wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Eine besondere Schwere der Schuld hat das Landgericht Stade nicht festgestellt.

15 Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe werden am 08.05.2015 vollstreckt sein.

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 30.01.2015 hat die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg es nach Anhörung des Verurteilten vom selben Tag abgelehnt, die Vollstreckung der restlichen lebenslangen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Stade vom 20.11.2000 zur Bewährung auszusetzen und den Verurteilten bedingt aus der Strafhaft zu entlassen. Eine bedingte Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe könne unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit derzeit noch nicht verantwortet werden, da der Verurteilte in keinerlei Vollzugslockerungen erprobt, die Entlassungssituation vollkommen ungewiss und ein sozialer Empfangsraum nicht vorhanden sei.

Gegen die Versagung der Reststrafenaussetzung zur Bewährung richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 12.02.2015.

Die Generalsstaatsanwaltschaft Celle hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.

Der angefochtene Beschluss war aufzuheben und die Vollstreckung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe mit Ablauf des 15.07.2015 zur Bewährung auszusetzen.

1.) Unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit kann eine Strafaussetzung zur Bewährung nach §§ 57a Abs. 1 Nr. 3, 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 StGB verantwortet werden.

Eine Gewissheit künftiger Straffreiheit ist im Rahmen der prognostischen Gesamtwürdigung insoweit nicht erforderlich. Vielmehr kann auch im Rahmen einer positiven Sozialprognose ein vertretbares Restrisiko eingegangen werden, sofern dabei dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit in angemessener Weise Rechnung getragen wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.10.2009, Az.: 2 BvR 2549/08; OLG Nürnberg, StraFo 2000, 210; OLG Düsseldorf, NStZ 1988, 272).

a) So hat der psychiatrische Sachverständige Dr. B., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in seinem Sachverständigengutachten vom 28.11.2014 ausgeführt, dass die Anlasstat der Ermordung der Ehefrau als Kulminationspunkt einer langjährigen und pathologischen Beziehungsdynamik zwischen Täter und Opfer anzusehen sei. Dieser Umstand verbessere die Prognose, weil es eine solche Situation derzeit nicht gebe, sie könne sich allerdings wieder entwickeln. Ebenfalls sei es als ausgesprochen prognostisch günstig anzusehen, dass sich bei dem Verurteilten keine Hinweise für eine dissoziale Persönlichkeitsstörung oder langjährige delinquente oder anderweitig normwidrige Verhaltensweisen finden ließen. Zudem sei der Verurteilte Ersttäter und Erstvollzügler, so dass er nach sachverständiger Einschätzung als haftempfindlich zu bewerten sei. Zwar sei eine detaillierte therapeutische Tataufarbeitung nicht erfolgt, dennoch habe sich der Verurteilte im Rahmen seiner Möglichkeiten mit der Tat auseinandergesetzt: Er - der Verurteilte - bewerte diese als ein unverzeihliches Fehlverhalten und emotional belastend. Er verfüge über intakte Gewissensfunktionen und stehe der von ihm verübten Anlasstat keinesfalls indifferent oder bagatellisierend gegenüber. Außerdem handele es sich bei Tötungsdelikten um Delikte mit generell niedrigem Rückfallrisiko (unter 5 Prozent).

Diesen überzeugenden, nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen Dr. B. hat sich der Senat nach eigener kritischer Prüfung und Würdigung angeschlossen.

Angesichts einer solchen positiven Sozialprognose kann eine Strafaussetzung zur Bewährung unter besonderer Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit erfolgen.

b) Die mangelnde Erprobung des Verurteilten in Freiheit und die damit einhergehende mangelnde Vorbereitung eines sozialen Empfangsraums können diese positive Sozialprognose nicht erschüttern.

Denn dem Verurteilten wurden Vollzugslockerungen zu Unrecht verwehrt. Die unberechtigte Versagung von Lockerungen aber begründet ein von der Exekutive zu verantwortendes Prognosedefizit, welches nicht zum Nachteil eines Gefangenen verwertet werden darf.

Besondere Bedeutung für die im Aussetzungsverfahren zu treffende Prognoseentscheidung haben zwar regelmäßig Vollzugslockerungen. Für den Richter im Aussetzungsverfahren erweitert und stabilisiert sich die Basis der prognostischen Beurteilung, wenn dem Gefangenen zuvor Vollzugslockerungen gewährt worden sind. Gerade das Verhalten anlässlich solcher Belastungserprobungen stellt einen geeigneten Indikator für die künftige Legalbewährung dar (vgl. BVerfGE 109, 133 [BVerfG 05.02.2004 - 2 BvR 2029/01] [165 f.]; 117, 71 [108]).

Dieser Umstand begründet besondere Prüfungspflichten der Gerichte im Aussetzungsverfahren. Will das Gericht die Ablehnung der Aussetzung (auch) auf die fehlende Erprobung des Gefangenen in Lockerungen stützen, darf es sich nicht mit dem Umstand einer - von der Vollzugsbehörde zu verantwortenden - begrenzten Tatsachengrundlage infolge einer mangelnden Erprobung des Gefangenen in Freiheit abfinden. Es hat selbstständig zu klären, ob die Begrenzung der Prognosebasis zu rechtfertigen ist, weil die Versagung von Lockerungen auf hinreichendem Grund beruhte (BVerfGE 117, 71 [108]).

Diese Prüfung ergibt hier, dass seitens der Justizvollzugsanstalt die Versagung stets unter Hinweis auf eine bestehende Missbrauchs-, Wiederholungs- und Fluchtgefahr erfolgt ist. Diese Begründung ist indes nicht tragfähig: Nach der unmissverständlichen Bewertung durch den psychiatrischen Sachverständigen Dr. B. handelte es sich bei der Anlasstat um ein singuläres Ereignis, beruhend auf einer langjährigen und pathologischen Beziehungsdynamik zwischen Täter und Opfer. Andere Straf- oder gar Gewalttaten waren dem Verurteilten bis zu der Anlasstat nicht vorzuwerfen, jedenfalls war er damit nicht aufgefallen. Eine Wiederholungs- und Missbrauchsgefahr ist danach jedenfalls prognostisch gering. Einer Fluchtgefahr des Verurteilten hätte man bei begleiteten Ausführungen mit geeigneten Sicherheitsvorkehrungen bei schrittweiser Gewährung von Vollzugslockerungen zur sicheren Überzeugung des Senats hinreichend sicher begegnen können.

c) Die Konsequenzen der infolge der fehlenden Erprobung des Verurteilten bestehenden Prognoseunsicherheit für die Aussetzungsentscheidung sind auf Grundlage einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles und vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen dem Freiheitsanspruch des Gefangenen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit, das auch hier nach einem vertretbaren und gerechten Ausgleich verlangt, zu finden.

Dabei ist von folgenden Grundsätzen auszugehen: Vor dem Hintergrund dieses Spannungsverhältnisses zwischen dem Freiheitsanspruch des Verurteilten und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit besteht im Aussetzungsverfahren zunächst die Pflicht, auf die Vollzugsbehörde einzuwirken. Ist diese bei der Entscheidung über Lockerungen dem grundrechtlich garantierten Freiheitsanspruch des Gefangenen nicht oder nicht hinreichend gerecht geworden, muss im Aussetzungsverfahren von Verfassungs wegen deutlich gemacht werden, dass Vollzugslockerungen geboten sind (vgl. BVerfGE 117, 71 [108 f.]; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 1998 - 2 BvR 77/97 -, NJW 1998, S. 2202 [BVerfG 22.03.1998 - 2 BvR 77/97] [2204]). Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach ausdrücklich festgestellt, dass zu diesen - vom zuständigen Gericht im Einzelfall zu prüfenden - Möglichkeiten auch ein Vorgehen auf der Grundlage von § 454a Abs. 1 StPO gehört (vgl. BVerfGE 117, 71 [108]; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 1998 - 2 BvR 77/97 -, NJW 1998, S. 2202 [2204]; BVerfGK 15, 390 [406]).

Nach dieser Vorschrift kann die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung angeordnet werden, ohne dass dies zur sofortigen Freilassung des Betroffenen führt. Die Norm gestattet es, den zukünftigen Entlassungszeitpunkt so festzulegen, dass der Vollzugsbehörde eine angemessene Erprobung des Verurteilten in Lockerungen möglich bleibt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 1998 - 2 BvR 77/97 -, NJW 1998, S. 2202 [2204]; BVerfGK 15, 390 [406 ff.]). Die nachteiligen Folgen des Prognosedefizits für das Freiheitsgrundrecht des Gefangenen werden auf diese Weise wirksam beschränkt. Anders als bei bloßen Hinweisen der Gerichte im Aussetzungsverfahren wird sichergestellt, dass eine rechtswidrige Schmälerung der Prognosebasis seitens der Exekutive nicht uneingeschränkt zulasten des Gefangenen geht (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 26. August 2005 - 2 Ws 202/05 -, juris).

Nach alledem hat der Senat die bedingte Entlassung des Verurteilten zum 15.07.2015 angeordnet. In dieser Zeit ist der Verurteilte in Vollzugslockerungen zu erproben sowie ein sozialer Empfangsraum einzurichten bzw. die Entlassungssituation binnen der nunmehr zur Verfügung stehenden Zeit von drei Monaten zu klären.

Der Verurteilte wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in der gesamten dreimonatigen Zeit bis zur bedingten Entlassung eine Korrektur der Aussetzungsentscheidung unter erleichterten Voraussetzungen möglich ist.

Denn nach § 454a Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 StPO kann das Vollstreckungsgericht - ungeachtet der Widerrufsmöglichkeit nach § 56f Abs. 1 StGB - die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes bis zur Entlassung des Betroffenen wieder aufheben, wenn die Strafaussetzung aufgrund neu eingetretener oder bekanntgewordener Tatsachen unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht mehr verantwortet werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. April 1993 - 2 BvR 1706/92 -, NJW 1994, S. 377; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Februar 2001 - 2 BvR 1261/00 -, NJW 2001, S. 2247; BVerfGK 15, 390 [407]).

2.) Die Festsetzung der Bewährungszeit beruht auf § 56a StGB.

Gem. § 56d Abs. 1 StGB war der Verurteilte für die Dauer der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers zu unterstellen. Die übrigen Weisungen beruhen auf § 56c Abs. 1 StGB.

Die Weisung, keinen Alkohol und keine illegalen Betäubungsmittel zu konsumieren, beruht auf § 56c Abs. 1 StGB und ist im Rahmen der Bewährungsaufsicht zulässig (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 16.10.2009, Az.: 2 Ws 228/09, NStZ-RR 2010, 91).

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer analogen Anwendung der §§ 467, 473 Abs. 3 StPO.