Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 24.01.2018, Az.: L 2 R 178/17

Antragsfiktion; Mutter-Kind-Maßnahme; Rehabilitationsantrag; Rentenantrag

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
24.01.2018
Aktenzeichen
L 2 R 178/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 73905
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 28.02.2017 - AZ: S 34 R 264/16

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Rentenantragsfiktion nach § 116 Abs. 2 SGB VI wird auch durch einen Rehabilitationsantrag begründet, der bei einem Rehabilitationsträger außerhalb der Rentenversicherung gestellt wird.

Tenor:

Das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 28. Februar 2017 wird auf die Berufung der Klägerin aufgehoben.

Die Beklagte wird unter Abänderung ihres Bescheides vom 9. Dezember 2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9. Juni 2016 verpflichtet, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung bereits ab dem 1. Februar 2015 zu gewähren.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin aus beiden Rechtszügen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen früheren Beginn der für die Zeit ab 1. August 2015 der Klägerin aufgrund eines Leistungsfalls vom 7. August 2014 gewährten Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Bei der am 22. Mai 1968 geborenen Klägerin, die bei der Beklagten renten- und der I. gesetzlich krankenversichert ist, wurde am 7. August 2014 ein malignes Melanom an der Brusthaut entfernt sowie ein Mammacarzinom diagnostiziert und in der Folgezeit mittels ambulanter Chemotherapie (ab August 2014 bis Januar 2015) behandelt. Im März 2015 entfernten die Ärzte ein Fibroadenom und im Juni 2015 die linke Brust.

Auf ihren am 22. Januar 2015 bei der I. eingegangen Antrag vom 17.  Dezember 2014 auf eine Mutter-Kind-Rehabilitation (Bl. 77 VA) absolvierte die Klägerin vom 22. Juli 2015 bis zum 12. August 2015 zu Lasten der I. in der Klinik J., Präventions- und Rehabilitationseinrichtung für Mutter/Vater und Kind, in K. ein stationäres Heilverfahren nach § 41 SGB V im Rahmen der Rehabilitationsmaßnahme für an Brustkrebs erkrankte Mütter und ihre Kinder „gemeinsam gesund werden“ unterstützt von der L. Stiftung. Neben ihren beiden zum damaligen Zeitpunkt 11 und 15 Jahre alten Kindern (M., geboren am 8. Mai 2000, als gesundes Begleitkind, und N., geboren am 16. September 2003, als behandlungsbedürftiges Kind aufgrund einer insulinpflichtigen Diabetes-Mellitus-Typ I-Erkrankung) nahm auch ihr Ehemann zu Lasten seiner Krankenversicherung an dem Heilverfahren teil.

Am 24. August 2015 vereinbarte die Klägerin für den 3. November 2015 einen Termin bei der Beklagten zur Aufnahme ihres Antrags auf Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte gewährte der Klägerin anschließend mit Bescheid vom 9. Dezember 2015 auf ihren Antrag vom 24. August 2015 beginnend ab 1. August 2015 Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund eines Leistungsfalls vom 7. August 2014 zunächst befristet bis zum 30. April 2017 und mit Bescheid vom 17. Januar 2017 als Dauerrente längstens bis zum 31. Mai 2035 (Monat des Erreichens der Regelaltersrente).

Mit ihrem am 11. Januar 2016 eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass der Rehabilitationsantrag vom 17. Dezember 2014 aufgrund der Rentenantragsfiktion zu einem früheren Beginn der Rente führen müsse. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 2016 als unbegründet zurück. Die Anwendung des § 116 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI setze voraus, dass der Rentenversicherungsträger die Leistungen als zuständiger oder zweitangegangener Träger durchgeführt oder die Kosten der Maßnahme gegenüber einem anderen Träger zu erstatten habe. Die Rehabilitationsmaßnahme vom 22. Juli 2015 bis 12. August 2015 sei von der I. durchgeführt worden und der Rentenversicherungsträger sei auch nicht zur Erstattung der Kosten für die Maßnahme verpflichtet. Deshalb seien die Voraussetzungen zur Umdeutung des Antrages auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in einen Rentenantrag nach § 116 Abs. 2 SGB VI nicht erfüllt und es verbleibe beim Datum der Rentenantragsstellung am 24. August 2015. Der Leistungsfall der Rente wegen voller Erwerbsminderung sei am 7. August 2014 (Aufnahme in das Universitätsklinikum O. in P.) eingetreten. Gemäß § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI werde eine Rente grundsätzlich von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien. Nach § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI beginne die Rente jedoch erst mit dem Antragsmonat, wenn der Antrag nicht bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats gestellt werde, indem die Voraussetzungen erfüllt seien. Daher sei der Klägerin die Rente aufgrund des am 24. August 2015 gestellten Antrags ab 1. August 2015 zu gewähren.

Die hiergegen am 27. Juni 2016 bei dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhobene Klage wies das SG mit Urteil vom 28. Februar 2017 ab.

Gegen das der Klägerin am 17. März 2017 zugestellte Urteil hat diese am 28. März 2017 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, dass dem Versicherten nicht angelastet werden könne, dass er den Rehabilitationsantrag in Unkenntnis bei einem unzuständigen Träger gestellt habe. Die Klägerin weist darauf hin, dass die Klinik J. ein einzigartiges Projekt für an Brustkrebs erkrankte Mütter verfolge und die gesamte Familie mit einbeziehe. So sei ihr Mann seinerzeit über seine Krankenversicherung auch mit zur „Kur“ gefahren. Ihre Tochter sei auch schwerbeschädigt und hilfebedürftig; eine andere Möglichkeit, zur Kur zu fahren, habe es für sie nicht gegeben. Das Ziel des Projekts der Klinik J. sei es, auch krebskranken Müttern mit Kindern eine Rehabilitationsmaßnahme zu ermöglichen. Die Kombination einer Mutter-Kind-Kur als Rehabilitationsmaßnahme sei äußerst selten und werde nicht von der Rentenversicherung getragen.

Die Klägerin beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 28. Februar 2017 aufzuheben und

2. die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 9. Dezember 2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9. Juni 2016 zu verpflichten, ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund des Leistungsfalls am 7. August 2014 ausgehend von ihrem Antrag auf eine Mutter-Kind-Rehabilitationsmaßnahme vom 17. Dezember 2014 bei der I. bereits ab dem 1. Februar 2015 zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig. Die Voraussetzungen für eine Umdeutung eines Antrages auf Leistungen zur Teilhabe in einen Rentenantrag nach § 116 Abs. 2 SGB VI seien nicht erfüllt. Der von der Klägerin am 17. Dezember 2014 bei der I. gestellte Antrag auf eine Mutter-Kind-Rehabilitation sei kein Antrag auf Leistungen zur Teilhabe im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung. Medizinische Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen für Mütter und Väter würden ausschließlich von den Krankenkassen im Rahmen der §§ 24, 41 SGB V erbracht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der I. Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung, über die der Senat nach § 124 Abs. 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Der Klägerin steht auch für den Zeitraum Februar 2015 bis Juli 2015 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI zu, so dass die angefochtenen Bescheide entsprechend abzuändern sind.

Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind und in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben und wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert im Sinne einer vollen oder teilweisen Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 bzw. 2 SGB VI ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI hingegen nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Voraussetzung für einen solchen Rentenanspruch ist nach den genannten gesetzlichen Vorgaben des Weiteren, dass der Versicherte in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hatte. Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich nach § 43 Abs. 4 SGB VI um Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Berücksichtigungszeiten, Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach § 43 Abs. 4 Nummer 1 oder 2 liegt, und Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung. Die vorstehend genannten Zeiten sind nur zu berücksichtigen, soweit sie nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind.

Im vorliegenden Fall geht die Beklagte in medizinischer Hinsicht von einem Versicherungsfall am „07.08.2014 (Aufnahme in das Universitätsklinikum O. in P.)“ aus. Diese Einschätzung erachtet der Senat im Ausgangspunkt für überzeugend. In der gebotenen Gesamtwürdigung ist als nachgewiesen anzusehen, dass die Klägerin seit der Aufnahme der Behandlung im Universitätsklinikum O. in P. aufgrund der durch die Krebserkrankung und die Nebenwirkungen der intensiven Therapie bedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen dauerhaft nicht mehr zu einer arbeitstäglich jedenfalls dreistündigen Teilnahme am Erwerbsleben auf dem ersten Arbeitsmarkt in der Lage gewesen ist. Einer Korrektur bedarf diese medizinische Einschätzung der Beklagten nur in einem Detailpunkt: Nach Aktenlage wurde die Behandlung der Klägerin im Universitätsklinikum nicht erst am 7. August 2014, sondern bereits am 28. Juli 2014 aufgenommen (vgl. Bl. 14 med.VV). Daran anknüpfend entspricht es einer lebensnahen Einschätzung des Sachverhalts, auch den rentenrechtlichen Leistungsfall bereits dem 28. Juli 2014 zuzuordnen.

Im Juli 2014 erfüllte die Klägerin, die bis September 2013 noch Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung nach § 57 SGB VI zurückgelegt hat, auch die erläuterten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen; wegen der Einzelheiten ihres rentenrechtlichen Versicherungsverlaufs verweist der Senat auf die entsprechende Dokumentation auf Bl. 45 ff. der Verwaltungsvorgänge.

Bezogen auf den mit der Berufung angestrebten Beginn der Erwerbsminderungsrente bereits im Februar 2015 hat die Klägerin auch das Erfordernis einer vorausgegangenen Rentenantragstellung nach § 99 Abs. 1 SGB VI erfüllt. Unter Berücksichtigung der Rentenantragsfiktion des § 116 Abs. 2 SGB VI beinhaltete der bei der I. am 22. Januar 2015 eingegangene Antrag der Klägerin auf Gewährung einer sog. Mutter-Kind-(Rehabilitations-)Maßnahme zugleich den nach § 99 Abs. 1 SGB VI erforderlichen Rentenantrag.

Nach § 116 Abs. 2 SGB VI gilt der Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben als Antrag auf Rente, wenn Versicherte vermindert erwerbsfähig sind und

1. ein Erfolg von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht zu erwarten ist oder

2. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht erfolgreich gewesen sind, weil sie die verminderte Erwerbsfähigkeit nicht verhindert haben.

Diese Antragsfiktion findet vorliegend Anwendung. Die Regelung des § 116 Abs. 2 SGB VI korrespondiert - ebenso wie § 115 Abs. 4 SGB VI - mit § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VI und § 8 Abs. 2 SGB IX (in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung, heute: § 9 Abs. 2 SGB IX), wonach der Rehabilitation Vorrang vor der Rente wegen Erwerbsminderung zu geben ist.

In Literatur und Rechtsprechung werden allerdings unterschiedliche Auffassungen zu der Frage vertreten, ob eine Rentenantragsfiktion nach § 116 Abs. 2 SGB VI auch mit solchen Anträgen auf Gewährung von medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen verbunden ist, die sich nicht an einen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern an einen anderen Sozialleistungsträger, d.h. in der Praxis typischerweise - wie auch im vorliegenden Fall - an die Krankenkasse des Versicherten, richten (vgl. im Sinne einer Maßgeblichkeit allein von an Träger der Rentenversicherung gerichteten Anträgen, die auf Leistungen nach den Vorschriften der §§ 9 ff., 15, 16 und 31 Abs. 1 SGB VI abzielen: LSG Niedersachsen, Urteil vom 27. Februar 2002 – L 2 RJ 238/01 –, Rn. 33, juris, sowie LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Januar 2006 - L 8 R 79/05 - Rn. 23 ff., juris; für eine Einbeziehung auch von gleichgerichteten Anträgen an Krankenkassen hingegen Fichte in Hauck/Noftz, § 116 SGB VI, Rn. 14, sowie Kater in Kasseler Kommentar, § 116 Rn. 7; offen gelassen - bezogen auf die Vorgängervorschrift des § 18d Abs. 3 und 4 AVG - im Urteil des BSG vom 23. Mai 1995 – 12 RK 35/93 –, SozR 3-2200 § 1420 Nr. 4, Rn. 15).

Der Gesetzgeber hat bei der Ausformulierung des Tatbestandes des § 116 Abs. 2 SGB VI nur die Stellung eines „Antrages auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation“ gefordert. Dabei war dem Gesetzgeber natürlich bekannt, dass solche Anträge nicht nur bei Rentenversicherungsträgern, sondern auch bei anderen insoweit zuständigen Sozialleistungsträgern gestellt werden können (vgl. insbesondere § 6 SGB IX).

Sinn und Zweck der erläuterten gesetzlichen Regelung des § 116 Abs. 2 SGB VI sprechen für eine Einbeziehung auch solcher an Nicht-Rentenversicherungsträger gerichteter Anträge auf Gewährung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, bei denen die begehrte Rehabilitationsleistung im Ausgangspunkt mit einer entsprechenden Leistung des Rentenversicherungsträgers im Sinne des § 15 SGB VI vergleichbar ist (in diesem Sinne auch Fichte, aaO).

Mit der Regelung des § 116 Abs. 2 SGB VI wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass sich die Rehabilitationsbereitschaft der Versicherten rentenrechtlich nicht nachteilig auswirken kann (BT-Drs. 11/4124, S. 179). Die Regelung soll dazu beitragen, in besonderer Weise den Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" zu verwirklichen. Das Interesse des Versicherten an der Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen soll gestärkt werden (BSG, Urteil vom 25. Mai 1993 – 4 RA 26/91 –, SozR 3-2200 § 1304a Nr. 2 zur Vorgängervorschrift des § 18d Abs. 4 AVG). Der Versicherte soll eine Rehabilitationsmaßnahme durchführen können, ohne befürchten zu müssen, er werde bei Erfolglosigkeit der Maßnahme Nachteile erleiden (BSG, Urteil vom 25. Mai 1993, aaO).

Diese Zielrichtung spricht für eine Einbeziehung auch solcher Anträge auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die an Nicht-Rentenversicherungsträger gerichtet werden. Auch bei solchen Anträgen erscheint es in rehabilitationsmedizinischer Hinsicht in gleicher Weise angezeigt, das Interesse der Versicherten an der Durchführung der rehabilitativen Maßnahmen zu stärken und die Rehabilitationsbereitschaft zu fördern. Dementsprechend stellt es sich unabhängig von der jeweiligen Zuständigkeit der Rehabilitationsträger als angezeigt dar, den Versicherten die Furcht zu nehmen, dass eine Teilnahme an einer solchen Maßnahme insbesondere im Falle ihrer Erfolglosigkeit mit Nachteilen verbunden sein könnte.

Die Aufgabe der Eingliederung der behinderten Menschen unter Einschluss der Gewährung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht einem eigenständigen Zweig des Systems der sozialen Sicherung zugeordnet. Die Leistungen zur Rehabilitation sind vielmehr als Teil-Aufgaben eingebettet in alle Bereiche des gegliederten Systems der sozialen Sicherung (vgl. BT-Drs. 14/5074, S. 93). Der Gesetzgeber hat sich von der Einschätzung leiten lassen, dass ein gegliedertes System den behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen weitergehende und wirkungsvollere Möglichkeiten der Eingliederung zu bieten vermag als andere denkbare organisatorische Lösungen dies könnten. Vor diesem Hintergrund hat er in Kauf genommen, dass Rechtsauslegung, Rechtsanwendung und Nutzung der Vorschriften durch die Betroffenen, insbesondere für die behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen durch das gegliederte System erschwert werden können, wobei der Gesetzgeber diese Nachteile jedoch zugleich durch eine insbesondere mit den Vorgaben des SGB IX vorgegebene zielgerichtete Zusammenarbeit der zuständigen Träger auf der Grundlage harmonisierter Rechtsvorschriften minimiert sehen will (vgl. ebenfalls BT-Drs. 14/5074, S. 93).

In dem gegliederten Rehabilitationssystem der Bundesrepublik Deutschland richtet sich die Zuständigkeit des im Einzelfall betroffenen Trägers vielfach nicht nach der Ausprägung des Rehabilitationsbedarfs, sondern nach anderen nicht selten schwerpunktmäßig historisch zu erklärenden Umständen. So hängt etwa die Zuständigkeit der Rentenversicherungsträger für die Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen im Ausgangspunkt von der Erfüllung der 15jährigen Wartezeit ab (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI; zu gesetzlichen Modifizierungen dieses Ansatzes vgl. insbesondere auch § 11 Abs. 2 SGB VI), obwohl die Erfüllung einer solchen Wartezeit als solche keine Rückschlüsse auf das Vorliegen und die Ausprägung eines Rehabilitationsbedarfs zulässt.

Soweit innerhalb einer Familie mehrere Mitglieder einen Rehabilitationsbedarf aufweisen, kennt zwar das Krankenversicherungsrecht einen ausdrücklichen Anspruch auf spezifisch ausgerichtete gemeinsame Maßnahmen für alle betroffenen Familienmitglieder in § 24 SGB V in Form sog. Mutter-Kind- bzw. Vater-Kind-Maßnahmen. Im Rehabilitationsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung sind solche kombinierten Maßnahmen nicht ausdrücklich vorgesehen, obwohl ein entsprechender gemeinsamer medizinischer Rehabilitationsbedarf auf Seiten mehrerer Familienmitglieder natürlich auch im Zusammenhang mit (jedenfalls einem Mitglied auch gegenüber der Rentenversicherung zustehenden) Rehabilitationsansprüchen im rentenrechtlichen Sinne bestehen kann.

Es ist jedoch kein Sachgrund ersichtlich, weshalb die komplex ausgestaltete Aufgliederung des Rehabilitationssystems Aufschluss über die rechtliche Relevanz eines Rehabilitationsantrages im Sinne seiner Umdeutbarkeit auch in einen Erwerbsminderungsrentenantrag vermitteln soll. Den betroffenen Bürgern sind Einzelheiten der wechselseitigen Zuständigkeit der betroffenen Rehabilitationsträger ohnehin meistens unbekannt. Dementsprechend hängt es oft von Zufälligkeiten ab, an welchen Träger entsprechende Rehabilitationsbegehren gerichtet werden und ob dieser ggfs. Anlass zu einer Weiterleitung insbesondere an den Rentenversicherungsträger sehen mag. Entsprechend den vom Gesetzgeber namentlich auch mit den Regelungen des SGB IX (vgl. insbesondere §§ 14 f., 19 ff., 25 f. SGB IX) verfolgten Zielvorgaben, wonach sich das gegliederte Rehabilitationssystem im Ergebnis möglichst nicht zum Nachteil (sondern letztlich zu Gunsten) der betroffenen Versicherten auswirken soll, ist es auch im vorliegenden Zusammenhang angezeigt, die rechtliche Relevanz eines Rehabilitationsantrages unabhängig von der jeweils bestehenden oder fehlenden Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers zu bestimmen.

Die von der Klägerin im Januar 2015 beantragte und ihr daraufhin von Seiten der Krankenkasse im Zeitraum 22. Juli bis 12. August 2015 gewährte stationäre Rehabilitationsmaßnahme beinhaltete unter dem Titel „Gemeinsam gesund werden“ ein spezielles Rehabilitationsprogramm für Mütter mit Brustkrebs. Es liegt auf der Hand, dass entsprechende onkologische Erkrankungen typischerweise - wie auch im vorliegenden Fall - mit Minderungen oder jedenfalls Gefährdungen der Erwerbsfähigkeit im Sinne auch von § 10 SGB VI einhergehen. Dementsprechend werden in den Rehabilitationskliniken der Rentenversicherungsträger viele Krebskranke betreut. Auch ihrem Inhalt nach hätte die der Klägerin gewährte rehabilitative Behandlung, die in der Klinik entsprechend dem im Entlassungsbericht erläuterten Therapieplan vorgenommen worden ist, in vergleichbarer Form auch in einer Rehabilitationsklinik der Rentenversicherungsträger erbracht werden können.

Ohnehin gehören nach den gesetzlichen Vorgaben des § 42 Abs. 3 SGB IX bei allen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und damit auch bei entsprechenden Leistungen der Rentenversicherungsträger zum Leistungsinhalt (im Rahmen des jeweils Erforderlichen) insbesondere auch Hilfen zur Aktivierung von Selbsthilfepotentialen, eine Beratung von Partnern und Angehörigen des Leistungsberechtigten (mit dessen Zustimmung) und beispielsweise Hilfen zur seelischen Stabilisierung und zur Förderung der sozialen Kompetenz, unter anderem durch Training sozialer und kommunikativer Fähigkeiten und im Umgang mit Krisensituationen.

Ein maßgeblicher Unterschied zur Rehabilitationspraxis der Rentenversicherungsträger, soweit sich letztere nach Aktenlage und dem Vortrag der Beteiligten erschließt, bestand im Ergebnis nur in der Form, dass neben der Klägerin auch ihre an einer schwer wiegenden Diabeteserkrankung leidende Tochter N. aufgrund des auch in ihrer Person bestehenden Rehabilitationsbedarfs zeitgleich mit in die Klinik aufgenommen worden ist und ihrerseits an einer sog. präventiven Kindertherapiegruppe teilgenommen hat. Eine solche gemeinsame Aufnahme eines Elternteils und eines Kindes sehen die Rehabilitationsangebote der Rentenversicherungsträger jedenfalls für den Regelfall nicht vor.

Im vorliegenden Zusammenhang kann dahingestellt bleiben, ob nicht ohnehin auch die Rentenversicherungsträger - insbesondere angesichts der gesetzlichen Verpflichtungen zur Berücksichtigung berechtigter Wünsche der Leistungsberechtigten und ihrer familiären Bedürfnisse nach § 8 Abs. 1 SGB IX - gehalten sind, für entsprechende Bedarfslagen solche kombinierten Rehabilitationsmaßnahmen anzubieten. Jedenfalls vermag die zeitgleiche Behandlung mehrerer Familienangehöriger als solche keinen Sachgrund zu beinhalten, aufgrund dessen die betroffene Maßnahme aus dem Anwendungsbereich des § 116 Abs. 2 SGB VI zu nehmen sein könnte.

Das bedeutet im Hinblick auf den Anspruch der Klägerin auf eine zunächst befristete Gewährung einer Erwerbsminderungsrente (§ 102 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 SGB VI), dass aufgrund der Rentenantragsfiktion des gem. § 116 Abs. 2 SGB VI als Rentenantrag geltenden Antrags auf medizinische Rehabilitation bei der I. vom 22. Januar 2015 Rentenbeginn der 1. Februar 2015 ist, d. h. frühestens mit Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit - im Fall der Klägerin dem 28. Juli 2014 - (§ 101 Abs. 1 SGB VI).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision ist nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.