Verwaltungsgericht Osnabrück
Urt. v. 18.06.2003, Az.: 3 A 193/02

Angemessenheit; Beihilfe; Brücke; höhere Aufwendungen; Implantat; Nachbarzähne; Notwendigkeit; Zahn; zahnmedizinische Sicht; überkronungsbedürftig

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
18.06.2003
Aktenzeichen
3 A 193/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 48236
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bereits überkronte und dadurch in ihrer Kaufunktion auf längere Sicht erhaltene Nachbarzähne einer Einzelzahnlücke sind nicht im Sinne der Nr. 4 Abs. 1 li. a) der Anlage 2 zu § 6 Abs. 1 Nr.1 BhV überkronungsbedürftig, wenn die zahnprothetische Alternative zu einer Implantatversorgung der Einzelzahnlücke mit wesentlich höheren Aufwendungen verbunden ist als die Implantatversorgung.

Gründe

1

Der gegenüber dem Land Niedersachsen beihilfeberechtigte Kläger unterzog sich einer zahnärztlichen Behandlung, bei der ihm der tief frakturierte Zahn 24 entfernt und an seiner Stelle ein Implantat eingesetzt wurde. Mit Bescheiden vom 30.07.2002 und 27.09.2002 versagte der Beklagte dem Kläger eine Beihilfe zu den implantologischen Leistungen mit der Begründung, eine für die Beihilfefähigkeit erforderliche Indikation habe nicht vorgelegen. ...

2

Der Kläger hat Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt: Nach den Beihilfevorschriften sei eine implantologische Versorgung einer Einzelzahnlücke beihilfefähig. Um eine solche Versorgung habe es sich bei ihm gehandelt. Die benachbarten Zähne 11 bis 23 und 25 bis 27 seien ausnahmslos überkront, die Zähne 11 bis 23 in einem Block. Das Schließen der Zahnlücke 24 mit einer Brücke hätte eine vollständige erneute Überkronung der Zähne 11 bis 23 mit um Vielfaches höheren Aufwendungen als die implantologische Versorgung vorausgesetzt.

3

Der Beklagte trägt vor: Die nach den Beihilfevorschriften allein in Betracht zu ziehende Indikation der Versorgung einer Einzelzahnlücke mit einem Implantat sei hier nicht gegeben. Das Schließen einer Einzelzahnlücke durch Implantat sei nur beihilfefähig, wenn die benachbarten Zähen nicht überkronungsbedürftig seien. Letzteres sei bei dem Kläger aber der Fall. Überkronungsbedürftig seien auch Zähne, die bereits überkront seien. Unerheblich sei, ob eine alternative, aber beihilfefähige Behandlung wesentlich höhere Aufwendungen nach sich zöge.

4

Maßgeblich für die Beurteilung des materiellrechtlichen Anspruchs des Klägers sind die Beihilfevorschriften des Bundes, die gemäß § 87c des Niedersächsischen Beamtengesetzes auf niedersächsische Landesbeamte anzuwenden sind. Nach Anlage 2 zu § 6 Abs. 1 Nr. 1 BhV sind Aufwendungen für implantologische Leistungen einschließlich aller damit verbundenen weiteren zahnärztlichen Leistungen nur beihilfefähig bei Vorliegen bestimmter Indikationen. Die hier allein in Betracht zu ziehende Indikation lautet: „Einzelzahnlücke, wenn beide benachbarten Zähne intakt und nicht überkronungsbedürftig sind“. Bei dem Kläger hat unstreitig eine Einzelzahnlücke vorgelegen. Fraglich dagegen ist, ob die Nachbarzähne überkronungsbedürftig waren. Der Beklagte bejaht diese Frage unter Bezugnahme auf Nr. 6.19 der Hinweise des niedersächsischen Finanzministeriums zum zahnärztlichen Gebührenrecht (Gem. RdErl. d. MF u. d. MFAS v. 06.08.2001, Nds. MBl. S. 748), wonach bereits überkronte Nachbarzähne als überkronungsbedürftig anzusehen seien. Den Hinweisen der obersten Landesbehörde zur Anwendung der Beihilfevorschriften kommt jedoch nur eine interpretierende Bedeutung zu. Das Bundesverwaltungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Beihilfevorschriften des Bundes als gemäß § 200 BBG zur Konkretisierung der Fürsorgepflicht in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen erlassene allgemeine Verwaltungsvorschriften hinsichtlich ihrer Auslegung und Anwendung der revisionsgerichtlichen Prüfung im gleichen Umfang unterliegen wie revisible Rechtsnormen (vgl. hierzu Urteile vom 18. September 1985 - BVerwG 2 C 48.84 - <BVerwGE 72, 119 = Buchholz 238.911 Nr. 3 BhV Nr. 14 m.w.N.>; vom 28. April 1988 - BVerwG 2 C 58.85 - <BVerwGE 79, 249 = Buchholz 270 § 7 Nr. 1> und vom 13. September 1990 - BVerwG 2 C 20.88 - <Buchholz 442.08 § 27 Nr. 1>). Für die Auslegung und Anwendung der Beihilfevorschriften des Bundes gilt nichts anderes, wenn sie kraft Gesetzes - hier: § 87c NBG - für Landesbeamte gelten. Der Begriffsinhalt zu dem Tatbestandsmerkmal „nicht überkronungsbedürftig“ ist daher nicht einer Konkretisierung durch die Verwaltung zugänglich, sondern wie bei unbestimmten Gesetzesbegriffen im Streitfall durch die Gerichte im Wege der Auslegung zu bestimmen. Aus zahnmedizinischer Sicht lässt der Begriff selbst eine Auslegung im Sinne der Hinweise eher als fernliegend erscheinen. Denn der überkronte Zahn mag zwar vor der Überkronung überkronungsbedürftig gewesen sein. Mit der Überkronung ist aber das Bedürfnis, ihn zu überkronen entfallen, jedenfalls solange, wie die Überkronung auf unbestimmte Zeit die Kaufunktion des Zahnes gewährleistet. Die Auslegung beihilferechtlicher Bestimmungen darf sich indessen nicht auf die Heranziehung (zahn-)medizinischer Begriffsinhalte und Sichtweisen beschränken. Es ist auch der Sinn und Zweck der Einschränkung der Beihilfefähigkeit einer implantologischen Versorgung einer Einzelzahnlücke in den Blick zu nehmen. Die Einzelzahnlücke soll nicht mit einem aufwendigen Implantat versorgt werden, wenn die Nachbarzähne nicht intakt sind und zur Erhaltung oder Wiederherstellung ihrer Kaufunktion einer Überkronung bedürfen. Dann soll die weniger aufwendige Versorgung mit einer Brücke, die auf den zu überkronenden Nachbarzähnen verankert ist, genügen. Dies entspricht dem das Beihilferecht beherrschenden und deshalb die Interpretation des Begriffes „überkronungsbedürftig“ mitbestimmenden Grundsatz des § 5 Abs. 1 Satz 1 BhV, wonach Aufwendungen beihilfefähig sind, wenn sie dem Grunde nach notwendig und soweit sie der Höhe nach angemessen sind. Dieser Grundsatz ist aber auch dann zu beachten, wenn die beiden Nachbarzähne der Einzelzahnlücke bereits überkront sind und dadurch ihre Kaufunktion auf längere Sicht erhalten oder wiederhergestellt worden ist. Insofern kann sich aus § 5 Abs. 1 Satz 1 BhV die erneute Überkronungsbedürftigkeit der Nachbarzähne ergeben, wenn sich nämlich die Entfernung der vorhandenen Kronen und ihre Ersetzung durch Brückenanker für die Schließung der Einzelzahnlücke durch eine Brücke als kostengünstiger im Vergleich mit einer Implantatversorgung erweist. In diesem Fall wären die Nachbarzähne nicht zur Herstellung oder Erhaltung ihrer Kaufunktion, wohl aber aus der Sicht eines die wirtschaftlichen Aspekte der verschiedenen Behandlungsarten abwägenden Zahnarztes und Patienten überkronungsbedürftig. Die Frage nach der Notwendigkeit und der Angemessenheit einer bestimmten Behandlung kann sich jedoch anders stellen, wenn die Versorgung der Einzelzahnlücke durch eine Brücke viel höhere Aufwendungen nach sich zieht, als eine implantologische Versorgung. Dann würde der zur Interpretation des Begriffes „überkronungsbedürftig“ heranzuziehende Grundsatz des § 5 Abs. 1 Satz 1 BHV in sein Gegenteil verkehrt, wenn sich Zahnarzt und Patient mit Rücksicht auf das Beihilferecht einer viel aufwendigeren und wohl auch belastenderen Behandlung zuwenden müssten, die überdies den Haushalt des Dienstherrn mehr belastete, als eine implantologische Versorgung. In diesem Fall sind die Nachbarzähne weder aus zahnmedizinischer Sicht noch mit Rücksicht auf Sinn und Zweck der Begrenzung der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für eine implantologische Versorgung einer Einzelzahnlücke überkronungsbedürftig.

5

Im vorliegenden Fall hat der Kläger unbestritten vorgetragen, dass eine Schließung der Zahnlücke durch eine Brücke die Entfernung der Krone Nr. 25 und des gesamten Kronenblocks Nr. 13 bis 23 vorausgesetzt hätte, was mit Aufwendung in Höhe von ca. 7.500,00 EUR, also in Höhe des Fünffachen der Implantatversorgung, verbunden gewesen wäre. Trifft dies zu, wovon mangels substantiierten Widerspruchs des Beklagten auszugehen ist, so waren die Nachbarzähne zu der zu schließenden Zahnlücke aus der Sicht des Beihilferechts nicht überkronungsbedürftig.