Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 22.10.2014, Az.: 2 B 306/14

Abwesenheit; vorübergehende Abwesenheit; Wegfall des Bedarfs; seelische Behinderung; Psychotherapie; Rahmenvertrag; Unzumutbarkeit; finanzielle Unzumutbarkeit; betreute Wohnform

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
22.10.2014
Aktenzeichen
2 B 306/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 42553
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Der Bedarf für eine Hilfe nach § 35a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII entfällt nicht dadurch, dass ein Leistungsberechtigter eine stationäre Psychotherapie im Sinne von § 40 SGB VIII beginnt, wenn es für diese Therapie unabdingbar ist, dass der Leistungsberechtigte seinen Wohnplatz behält.

Tenor:

Dem Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung aufgegeben, dem Antragsteller vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache zuzusagen, dass er seinen Bescheid vom 23. April 2014 in der Fassung des Bescheides vom 1. August 2014, mit dem er dem Antragsteller Eingliederungshilfe in Form einer vollstationären Unterbringung bis zum 4. April 2015 bewilligt hat, nicht aufheben wird, wenn und soweit der Antragsteller eine stationäre Psychotherapie am E. F. G., Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, beginnt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwalt C. aus H. beigeordnet.

Gründe

Der Antrag,

dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, dem Antragsteller vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache zuzusagen, dass die Übernahme der Kosten der Unterbringung und Betreuung in einer Wohngruppe nicht aufgehoben wird, falls der Antragsteller für den Zeitraum von mehr als zwei Monaten an einer stationären Therapie im E. F. G. teilnimmt,

hat wie tenoriert Erfolg.

Der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt voraus, dass die begehrte Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Hierfür ist sowohl ein Anordnungsgrund, die Dringlichkeit der begehrten Regelung, als auch ein Anordnungsanspruch, die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Anspruch besteht, glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO). Beides ist dem Antragsteller gelungen.

Einen Anordnungsgrund hat der Antragsteller dadurch glaubhaft gemacht, dass er dargetan hat, zur Abwendung schwerer gesundheitlicher Schäden sofort auf gerichtliche Hilfe angewiesen zu sein.

Die – unstreitig gebotene – medizinische Therapie im E. F. G. kann der Antragsteller nach den dortigen Aufnahmebedingungen nur beginnen, wenn er die schriftliche Zusage des Jugendhilfeträgers vorlegt, dass sein Wohnplatz im Rahmen der stationären Eingliederungshilfe während der Therapie in G. erhalten bleibt. Dies hat der Antragsgegner mit zwei inhaltsgleichen Bescheiden vom 23. April und 1. August 2014 abgelehnt. Ohne die tenorierte vorläufige gerichtliche Verpflichtung des Antragsgegners wäre dem Antragsteller der Therapiebeginn mithin unmöglich.

Die gerichtliche Entscheidung ist auch eilbedürftig. Im Erörterungstermin vom 8. Oktober 2014 hat der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters im F. G., Dr. med. I., überzeugend dargelegt, dass es zur Abwendung schwerer gesundheitlicher Schäden und einer dadurch möglicherweise drohenden sozialen Verwahrlosung des Antragstellers, bis hin zu Obdachlosigkeit dringend geboten ist, den Antragsteller jetzt und nicht erst nach Abschluss eines etwaigen Hauptsacheverfahrens zu behandeln. Er hat nachvollziehbar vorgetragen, dass die Behandlung der beim Antragsteller vorliegenden frühkindlichen Störung in Anbetracht des fortgeschrittenen Alters des Antragstellers von etwas über 18 Jahren unbedingt zeitnah beginnen müsse. Dieses medizinische Erfordernis duldet einen Aufschub der Entscheidung nicht.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch gegen den Antragsgegner glaubhaft gemacht. Denn der Antragsteller hat einen Anspruch darauf, dass der Antragsgegner seinen Bewilligungsbescheid vom 23. April 2014 in der Fassung des Bescheides vom 1. August 2014 nicht deshalb aufhebt bzw. die Kostentragung für die Maßnahme nur deshalb verweigert, weil der Kläger die – absehbar länger als zwei Monate dauernde - Therapie in G. beginnt.

Unstreitig hat der Antragsteller als junger Erwachsener wegen einer mindestens drohenden seelischen Behinderung Anspruch auf Bewilligung einer Eingliederungshilfemaßnahme nach §§ 35 a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4, 41 SGB VIII. Dies bringen die Bewilligungsbescheide vom 23. April und 1. August 2014 zum Ausdruck. Dieser Bedarf entfällt nicht oder wird von dritter Seite dadurch befriedigt, dass der Antragsteller eine stationäre, medizinisch indizierte Psychotherapie am F. G. beginnt. Dies ist rechtlich schon dadurch ausgeschlossen, dass es sich um zwei verschiedene Bedarfe handelt; zum einen die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Menschen nach § 35 a SGB VIII, zum anderen die Krankenhilfe nach § 40 SGB VIII, zu der der Antragsgegner ebenfalls, wenngleich auch nachrangig gegenüber dem Krankenversicherungsträger, verpflichtet ist.

Zum anderen besteht der jugendhilferechtliche Förderbedarf des Antragstellers auch während seines Aufenthalts in G. fort.

Diese Feststellung beruht auf den übereinstimmenden Bekundungen des Dr. med. I. und der Dipl. Psychologin J. – die für den Antragsteller in Aussicht genommeine Therapeutin – in dem Erörterungstermin vom 8. Oktober 2014. Aus diesen Aussagen ergibt sich, dass der Antragsteller auch während der Therapie in G. auf seinen “Wohnort“ im Rahmen der Eingliederungshilfe angewiesen sein wird. Hieraus folgt die Verpflichtung des Antragsgegners, diesen Ort für den Antragsteller vorzuhalten.

Zum Gelingen der Psychotherapie gehört nach dem Behandlungskonzept der Klinik ein strenges Ordnungskonzept, in das sich die Patienten einzufügen haben. Dies deshalb, weil die zu behandelnden Erkrankungen oft zu einem Verlust an Tagesstruktur im Leben der Patienten führen. Bei Verstößen gegen diese Ordnung wendet das Klinikum abgestuft verschiedene Sanktionsmaßnahmen an. Eine dieser Maßnahmen ist die sog. “Beabstandung“. Dies meint, dass der Patient vorübergehend nach Hause geschickt wird, um Gelegenheit zu erhalten, über seine Therapiebereitschaft nachzudenken und ggf. neu motiviert in die Behandlung zurückzukehren. Ohne eine solche Sanktionsmöglichkeit scheitern nach Erfahrungen des Herrn Dr. med. I. und der Frau J. überproportional viele Therapien; dies sei auch der Grund, weshalb die Klinik vor Aufnahme eines Patienten aus einer Jugendhilfeeinrichtung die Zusage des Jugendhilfeträgers verlange, dass diese Unterbringung erhalten bleibe.

Unabhängig davon bedürften nach den fachmedizinischen Äußerungen der genannten Personen Menschen mit frühkindlichen Störungen, wie dem Antragsteller, eines Zuhauses, in dem sie sich – losgelöst von der Psychotherapie – wohl und geborgen fühlen könnten; dies sei zum Gelingen der Therapie von großer Bedeutung.

Dieses “Zuhause“ werde auch benötigt, um an sog. “Belastungswochenenden“, die dort verbracht würden, herauszufinden, ob und welche Fortschritte die Therapie mache. Bei all dem komme den Betreuern der stationären Jugendhilfeeinrichtung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Denn sie seien sowohl für die Patienten als auch für die Therapeuten wichtige Gesprächspartner und Unterstützer.

Daraus folgt, dass der Antragsteller auch während seiner Therapie am F. daneben einen jugendhilferechtlichen Bedarf auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Unterbringung in einer Einrichtung hat.

Die dagegen vom Antragsgegner vorgebrachten Argumente überzeugen nicht.

Zum einen unterliegt der Antragsgegner nach dem Dargestellten einem Irrtum, wenn er meint, er könne auf den Antragsteller im Rahmen der Jugendhilfe nicht – mehr einwirken, wenn er die Therapie in G. beginne. Das Gegenteil ist der Fall, weil der Antragsteller regelmäßig in die Jugendhilfeeinrichtung zurückkehren wird und dort der Betreuung bedarf. Zwar wird der Betreuungsbedarf nicht so ausgeprägt sein, als wenn der Antragsteller täglich in der Einrichtung wäre; er fällt jedoch auch nicht weg, sondern wandelt sich nur in seiner Erscheinungsform. Der Antragsgegner bedenkt bei seiner Argumentation nicht hinreichend den Unterschied zwischen einer Heimerziehung nach § 34 SGB VIII und der Heimunterbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35 a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII. § 34 SGB VIII spricht von der Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht oder in einer sonstigen betreuten Wohnform. Demgegenüber gewährt § 35 a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII Hilfe nach dem Bedarf im Einzelfall in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen. Dadurch, dass es sich nicht notwendig um eine betreute Wohnform handeln muss, bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass je nach individuellem Bedarf auch alle sonstigen Formen der Unterbringung, z.B. auch solche mit Teilbetreuung oder gar auch ohne Betreuung, als Maßnahme der Eingliederungshilfe in Betracht kommen. Dies mag mit dem Erscheinungsbild der stationären Einrichtungen in der Praxis nur schwer in Einklang zu bringen sein, kann dem Antragsteller jedoch nicht entgegengehalten werden, wenn und soweit er einen entsprechenden individuellen Bedarf hat, der anderweitig nicht befriedigt werden kann. Dies ist nach dem Gesagten der Fall.

Schließlich verfängt der Einwand des Antragstellers nicht, die Kosten der Unterbringung des Antragstellers in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung seien unverhältnismäßig und unzumutbar. Gleiches gilt für den Verweis des Antragsgegners auf den Rahmenvertrag nach § 78 f SGB VIII zwischen Vertretern der Träger der örtlichen Jugendhilfe und verschiedenen Verbänden der Einrichtungsträger vom 4. Mai 2012.

Ein Grundsatz des Jugendhilferechts lautet, dass ein erkannter Jugendhilfebedarf im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften – hier § 35 a SGB VIII – zu befriedigen ist. Die Kosten einer solchen Maßnahme spielen gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII nur insoweit eine Rolle, als dadurch das grundsätzlich bestehende Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten beschränkt wird. Darum geht es hier jedoch nicht. Der Antragsgegner hat nicht aufgezeigt, welche finanziell günstigere, fachlich gleich geeignete Maßnahme er vorhält, um den Bedarf des Antragstellers zu befriedigen.

Ganz abgesehen enthält die Argumentation des Antragsgegners einen logischen Bruch. Denn ihm entstehen die Kosten für das Vorhalten eines vollstationären Einrichtungsplatzes für den Antragsteller weiter, wenn dieser nicht seine Psychotherapie beginnt – allerdings mit der Konsequenz, dass er voraussichtlich zu seinem unstreitigem jugendhilferechtlichen Bedarf schwer erkranken wird.

Schließlich rechtfertigt es auch der genannte Rahmenvertrag nach § 78 f SGB VIII nicht, dem Antragsteller die erforderlichen Hilfemaßnahmen vorzuenthalten.

Zum einen deshalb, weil aus ihm Rechtsfolgen zu Lasten Dritter, hier des leistungsberechtigten Antragstellers, nicht hergeleitet werden dürfen. Dieser in Abschnitt drei des fünften Kapitels des SGB VIII (Vereinbarungen über Leistungsangebote zwischen den Trägern der Jugendhilfe) vorgesehene Vertrag, vermag Rechtsfolgen nur im Verhältnis der freien und öffentlichen Träger der Jugendhilfe untereinander zu entfalten. Rechte der Leistungsberechtigten, insbesondere dasjenige auf sachgerechte Befriedigung eines festgestellten Jugendhilfebedarfs, können dadurch nicht beschränkt werden.

Zum anderen interpretiert der Antragsgegner die Regelung in § 9 Abs. 3 des Rahmenvertrages auch nicht richtig. Danach wird das vereinbarte Entgelt für die Dauer von bis zu 2 Monaten weitergezahlt, wenn der junge Mensch vorübergehend in eine jugendpsychiatrische Einrichtung wechselt oder aus anderen zwingenden Gründen vorübergehend abwesend ist und sich die Einrichtung zu einer Wiederaufnahme verpflichtet. Dies soll nach Satz 2 der Vorschrift nicht gelten, wenn von vorneherein mit einer Abwesenheit von mehr als 2 Monaten zu rechnen ist. Auf diese Vorschrift beruft sich der Antragsgegner ohne allerdings darzutun, warum eine abweichende Einzelfallregelung im Sinne von § 9 Abs. 3 Satz 3 des Vertrages nicht möglich sein soll. Indes findet die Regelung nach Auffassung des Gerichts auf die vom Antragsteller in Aussicht genommene Therapie gar keine Anwendung. Denn die hierin geregelte (vorübergehende) Abwesenheit meint vom Verständnis her nur eine vollständige Abwesenheit, bei der es in der Tat wenig Sinn macht, noch einen Heimplatz vorzuhalten und diesen aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren. Hier wird es nach dem oben Gesagten jedoch so sein, dass der Antragsteller seinen Heimplatz, sei es beim Träger IFAS in Göttingen oder sei es beim Träger Evangelischer Friedenshort in Northeim, weiter fortlaufend, wenn auch nicht mehr täglich benötigt. Dieser Bedarf besteht trotz und in der beschriebenen veränderten Form gerade wegen der demnächst beginnenden Psychotherapie im E. F..

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

Da die Rechtsverfolgung aus den dargelegten Gründen Aussicht auf Erfolg bietet, ist dem wirtschaftlich bedürftigen Antragsteller Prozesskostenhilfe ab Antragstellung unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten zu bewilligen (§§ 166 VwGO i.V.m. 114 Satz 1 ZPO).