Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 31.07.2013, Az.: L 3 KA 41/12

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
31.07.2013
Aktenzeichen
L 3 KA 41/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 64262
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 11.04.2012 - AZ: S 72 KA 659/07

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen ist ausschließlich der Vorstand befugt, die Einleitung eines Disziplinarverfahrens zu beantragen. Eine Delegation des Antragsrechts auf die Geschäftsführer der Bezirksstellen ist nicht möglich.

2. Ein Disziplinarbescheid, der auf den Antrag des Geschäftsführers einer Bezirksstelle ergangen ist, ist allein wegen dieses Fehlers aufzuheben.

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 11. April 2012 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme.

Er ist seit 1994 als hausärztlicher Internist in E. niedergelassen - zurzeit in Gemeinschaftspraxis mit einer weiteren Ärztin - und nimmt an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Der Prüfungsausschuss für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung in Niedersachsen verhängte im Jahr 2005 gegen ihn Regresse wegen der Überschreitung der Richtgrößen für Arzneimittel in den Jahren 2001 und 2002. Erstmals im Quartal IV/2005 stellte der Kläger vertragsärztliche Verordnungen über verschreibungspflichtige Arzneimittel und Blutzuckerteststreifen aus, die den schriftlichen Zusatz enthielten: „Vorbehaltlich nach Genehmigung der Krankenkasse und Regressfreistellung“. Anderen Versicherten händigte er - anstelle von entsprechenden Verordnungen - an die jeweils zuständige Krankenkasse gerichtete Kostenübernahmeanträge für zusätzliche Blutzuckerteststreifen aus. In einzelnen Fällen kam es durch diese Vorgehensweise zu Nachfragen der Apotheken bzw der Versicherten und zu Verzögerungen bei der Verschaffung der entsprechenden Präparate.

Nachdem sich verschiedene Krankenkassen bzw Versicherte bei der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) beschwert hatten und der Kläger keine eindeutige Unterlassungserklärung abgegeben hatte, beschloss der Bezirksausschuss der Bezirksstelle Hannover der Beklagten in seiner Sitzung vom 25. April 2006, die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens gegen den Kläger zu beantragen. Diesen Antrag stellte der Geschäftsführer der Bezirksstelle „namens und im Auftrag des Vorstandes der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen“ mit Schreiben vom 7. Juni 2006. Der bei der Bezirksstelle Hannover eingerichtete Disziplinarausschuss eröffnete dem Kläger die gegen ihn erhobenen Vorwürfe und führte im weiteren Verlauf des Verfahrens Ermittlungen durch Befragung eines Apothekers und durch Zeugenvernehmung eines Versicherten durch.

Mit Bescheid vom 31. Oktober 2007 belegte er den Kläger mit einem Verweis, weil dieser mit dem Zusatz auf Arzneimittelverordnungen gegen § 29 Abs 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) und § 15 Abs 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte/Ersatzkassen (EKV-Ä) iVm Ziff 5 der Vordruckvereinbarung sowie Muster 16 des Arzneiverordnungsblattes verstoßen habe. Die Aushändigung eines Kostenübernahmeantrags für zusätzliche Teststreifen habe im Widerspruch zu § 31 Abs 1 S 1 letzter Halbs Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) gestanden. Hierbei habe der Kläger auch schuldhaft gehandelt, weil er seine vertragsärztlichen Verpflichtungen kennen müsse. Eine Disziplinarmaßnahme sei angezeigt gewesen, weil er die Versorgung der Patienten behindert und die Versicherten damit verunsichert habe.

Gegen den ihn am 23. November 2007 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 19. Dezember 2007 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Die Disziplinierung sei zu Unrecht erfolgt, weil es sich bei seinem Vorgehen um eine zulässige Meinungsäußerung in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt habe. Ihm sei von Anfang an bewusst gewesen, dass die einschränkenden Zusätze auf den Verordnungen wegen § 29 BMV-Ä rechtlich nicht wirksam sein könnten. Er habe hiermit ausschließlich darauf hinweisen wollen, dass diese Regelung durch die Möglichkeit eines Regresses unterlaufen und konterkariert werde. Hiermit habe er eine Debatte zwischen Patienten und Krankenkassen anstoßen wollen. In keinem Fall sei es zu einer Unter- oder Nichtversorgung von Patienten gekommen.

Das SG hat der Klage mit Urteil vom 11. April 2012 stattgegeben und den Disziplinarbescheid aufgehoben. Dieser sei rechtswidrig, weil der nach der Disziplinarordnung (DiszO) der Beklagten erforderliche Eröffnungsantrag ihres Vorstands fehle. Dieser habe seine Befugnis zur Beantragung der Eröffnung eines Disziplinarverfahrens auch nicht wirksam auf die Bezirksstellen übertragen können; denn eine solche Befugnis sehe die Disziplinarordnung nur innerhalb eines laufenden - dh eines zulässig beantragten und eröffneten - Verfahrens, nicht aber in Hinblick auf die Antragstellung vor. Der Formfehler könne auch weder durch einen nachträglich gestellten Antrag geheilt werden, noch sei er unbeachtlich iS von § 42 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Allerdings sei der Bescheid materiell nicht rechtswidrig, weil der Kläger die §§ 29 Abs 1 BMV-Ä, 15 Abs 1 EKV-Ä und 31 Abs 1 SGB V verletzt habe.

Gegen das ihr am 26. April 2012 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 7. Mai 2012 Berufung eingelegt, die am 9. Mai 2012 beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingegangen ist. Die Geschäftsführung der Bezirksstellen sei für die Beantragung einer Disziplinarmaßnahme zuständig gewesen, weil der Vorstand der Beklagten die Geschäftsführungen mit Schreiben vom 26. Januar 2005 (konkretisiert durch ein Schreiben vom 22. März 2005) hierzu bevollmächtigt habe. Diese Übertragung sei auch wirksam erfolgt. Dies ergebe sich aus § 3 Buchst b DiszO, wonach der Vorstand der Beklagten „oder ein von ihm Bevollmächtigter“ am Disziplinarverfahren beteiligt sind. Diese Beteiligtenstellung beginne bereits mit Stellung des Antrags. Auch aus anderen Vorschriften ergebe sich, dass die Geschäftsführer der Bezirksstellen die Vertretung des Vorstands übernehmen, etwa aus § 2 der Vorstandsrichtlinien iVm Anl 2 zu den Geschäftsanweisungen für die Hauptgeschäftsstelle und die Bezirksstellen sowie aus § 11 Abs 1 der Verfahrensordnung zur Durchführung der Plausibilitätskontrollen nach §§ 75 Abs 1, 106a Abs 5 SGB V. Auch der Hauptsatzung der Beklagten oder § 79 Abs 3 S 1 Nr 3 SGB V könne kein Organisationsvorbehalt zugunsten des Vorstands entnommen werden. Dies gelte auch für § 4 S 1 der DiszO; wenn dort die Antragstellung durch den Vorstand vorgesehen sei, werde hiermit nur klargestellt, dass ihm letztlich die Verantwortung für die Antragstellung zukommen und er diese Aufgabe nach außen wahrnehmen solle.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 11. April 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die Auffassung des SG zur Rechtswidrigkeit der Einleitungsverfügung für zutreffend. Die Gegenmeinung der Beklagten könne nicht überzeugen, weil es nicht formell rechtmäßig sein könne, dass die Entscheidung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens in einem grundrechtsrelevanten Bereich durch einfachen Brief auf Dritte übertragen wird. Soweit das SG in der Sache sein Verhalten als disziplinarwürdig angesehen habe, bleibe es allerdings eine überzeugende Begründung schuldig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das Urteil des SG Hannover ist zutreffend.

Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) statthaft und auch im Übrigen zulässig; insbesondere war die Durchführung eines Vorverfahrens entbehrlich (§ 81 Abs 5 S 4 SGB V). Sie ist auch begründet. Der Disziplinarbescheid vom 31. Oktober 2007 war aufzuheben, weil er formell rechtswidrig ist (1.) und dies zur Aufhebbarkeit führt (2.).

1. Gesetzliche Grundlage für die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegenüber Vertragsärzten ist § 81 Abs 5 S 1 SGB V, wonach die Satzungen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KÄVen) die Voraussetzungen und das Verfahren zur Verhängung von Maßnahmen gegen Mitglieder bestimmen müssen, die ihre vertragsärztlichen Pflichten nicht oder nicht ordnungsgemäß erfüllen. Diese Vorschrift hat die Beklagte durch ihre am 1. Januar 2005 in Kraft getretene DiszO (Beschluss der Vertreterversammlung vom 24. April 2004; vgl NdsÄBl 2004, Heft 5, 107 ff, zuletzt geändert durch Beschluss der Vertreterversammlung vom 18. November 2006) umgesetzt. Nach § 1 Abs 1 der DiszO kann die Beklagte gegen Mitglieder, die ihre vertragsärztlichen Pflichten nicht oder nicht ordnungsgemäß erfüllen, je nach der Schwere der Verfehlung, Verwarnung, Verweis, Geldbuße bis zu 10.000 Euro oder die Anordnung des Ruhens der Zulassung bis zu zwei Jahren verhängen. Diese Sanktionen stimmen mit den in § 81 Abs 5 S 2 und 3 SGB V enthaltenen Vorgaben überein. Die Disziplinarbefugnisse werden gem § 2 Abs 1 DiszO von dem für jede Bezirksstelle gebildeten Disziplinarausschuss wahrgenommen.

Voraussetzung für die Durchführung eines Disziplinarverfahrens ist der Antrag auf Eröffnung, den gem § 4 S 1 DiszO der Vorstand der Beklagten stellt. Ein Antrag des Vorstands liegt jedoch nicht vor. Vielmehr hat die Geschäftsführung der Bezirksstelle Hannover unter dem 7. Juni 2006 die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens gegen den Kläger beantragt, wie es in der Sitzung des Bezirksausschusses der Bezirksstelle vom 25. April 2006 beschlossen worden war.

Der Antrag der Geschäftsführung der Bezirksstelle kann rechtlich auch nicht als Antrag des Vorstands angesehen werden, obwohl er "namens und im Auftrag des Vorstands" gestellt worden ist.

Ohne Erfolg beruft sich die Beklagte insoweit darauf, dass der Vorstand die Geschäftsführungen der Bezirksstellen zur Antragstellung bevollmächtigt habe. Zwar hat der Vorstand den Disziplinarausschüssen mit Schreiben vom 26. Januar 2005 mitgeteilt, er habe die Geschäftsführungen der KÄV-Bezirksstellen („gemäß § 3b der DiszO“) bevollmächtigt, die Beklagte „an seiner Stelle in den Verfahren zu vertreten“. Unter dem 22. März 2005 hat er außerdem den Geschäftsführungen der Bezirksstellen gegenüber darauf hingewiesen, dass sich diese Delegation auch auf den Antrag auf Eröffnung des Verfahrens gem § 4 der DiszO beziehe. Diese generelle Vorausvollmacht ist jedoch unwirksam. Denn der Vorstand der Beklagten war nicht berechtigt, seine Antragsbefugnis zu delegieren.

Zu Unrecht leitet die Beklagte eine entsprechende Delegationsbefugnis aus § 3 DiszO ab. Nach dessen S 1 sind am „Disziplinarverfahren“ beteiligt: a) das betroffene Mitglied; b) der Vorstand der Beklagten „oder ein von ihm Bevollmächtigter“. Der Antrag auf Eröffnung eines Disziplinarverfahrens gehört jedoch noch nicht zum „Disziplinarverfahren“ iSd § 3 DiszO, sodass sich die Möglichkeit zur Bevollmächtigung nicht hierauf bezieht. Denn rechtlich ist der Antrag auf Eröffnung eines Verwaltungsverfahrens (vgl § 18 S 2 SGB X) vom Verwaltungsverfahren selbst (vgl zum Begriff: § 8 SGB X) zu unterscheiden. Im Schrifttum zum Verwaltungsverfahrensrecht wird zwar auch die Auffassung vertreten, der Antrag sei bereits Bestandteil des Verwaltungsverfahrens (zum Streitstand vgl Schmitz in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz <VwVfG>, 7. Aufl, § 22 Rn 55 mwN). Jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang kann dies jedoch nicht gelten, weil bereits in der Satzung der Beklagten ausdrücklich zwischen der „Beantragung“ und der „Durchführung“ des Disziplinarverfahrens unterschieden wird (§ 3 Abs 8 S 3 der Satzung vom 24. April 2004 <NdsÄBl 2004, Heft 5, S 80 ff>).

Maßgeblich gegen die Geltung des § 3 S 1 Buchst b DiszO auch für den Antrag auf Eröffnung des Disziplinarverfahrens spricht darüber hinaus, dass der Antrag nach § 4 S 1 DiszO nicht nur die Bedeutung einer gewöhnlichen Verfahrenshandlung hat, sondern Ausdruck der Organzuständigkeit bzw des Initiativrechts ist, ein Disziplinarverfahren überhaupt erst in Gang zu bringen. Deutlicher ist dies noch in § 4 S 1 der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden DiszO der Beklagten (vom 13. November 1993, NdsÄBl 1994, Heft 4, 45 ff) zum Ausdruck gekommen wonach den Antrag auf Eröffnung eines Disziplinarverfahrens (damals) der Vorsitzende der zuständigen Bezirksstelle oder der Beklagten „auf Beschluss des jeweiligen Vorstandes“ gestellt hat. Wenn § 4 S 1 der aktuellen DiszO eine Unterscheidung zwischen „Antrag“ und „Beschluss“ nicht mehr trifft, liegt hierin lediglich eine Anpassung an die neue Satzung, die vorsieht, dass der (jetzt allein zuständige) Vorstand nur noch aus zwei Personen besteht (§ 10 Abs 1), die auf der Grundlage des § 11 Abs 4 Abschnitt 2 S 2 der Satzung innerhalb ihres Geschäftsbereichs eigenverantwortlich Entscheidungen treffen können, sodass ein Beschluss nicht mehr erforderlich ist. Erforderlich bleibt aber in jedem Fall eine Entscheidung des zuständigen Vorstandsmitglieds. Eine Vorschrift, nach der der Vorstand diese Entscheidungszuständigkeit an die Bezirksstellen delegieren kann, ist weder in der Satzung noch in der DiszO der Beklagten erkennbar.

Wem das Initiativrecht zur Beantragung eines Disziplinarverfahrens zukommt, kann sich entscheidend auf das Disziplinarwesen einer KÄV und damit mittelbar auf die Arbeit und Zusammenarbeit ihrer Mitglieder auswirken. Die große Bedeutung dieses Rechts zeigt sich bereits an der Vielzahl unterschiedlicher Ausgestaltungen der Antragsbefugnis in den DiszO der verschiedenen KÄVen (zum Folgenden vgl Hesral in: Ehlers, Disziplinarrecht für Ärzte und Zahnärzte, 2. Aufl, Rn 24 ff). Neben der in allen entsprechenden Satzungen enthaltenen Antragsbefugnis des Vorstands besteht bei einigen KÄVen - je nach der Organisationsstruktur der KÄV - auch eine solche des Vorstandsvorsitzenden. Andere KÄVen enthalten sogar die Befugnis aller ihrer Mitglieder, einen Disziplinarantrag zu stellen, oder zumindest eine Befugnis des betroffenen Vertragsarztes, ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst zu beantragen. Die Regelung, wem ein entsprechendes Initiativrecht zukommt, beeinflusst auch die disziplinarische Kontrolldichte und -häufigkeit. Denn die Entscheidung, ob ein Disziplinarantrag gestellt wird, ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen (Hesral aaO, Rn 63 ff), sodass bei gleichen Sachverhalten - je nach Entscheidungsbefugtem - eine unterschiedliche Praxis bei der Einleitung von Disziplinarverfahren möglich ist. Dies gilt in besonderem Maße, wenn die Durchführung des Disziplinarverfahrens nicht davon abhängig ist, dass zunächst ein gesonderter Eröffnungsbeschluss durch den Disziplinarausschuss gefasst oder ein Vorermittlungsverfahren durchlaufen wird (Hesral aaO, Rn 22). Ein solcher Fall liegt in Niedersachsen vor, weil nach § 5 DiszO allein der Antrag nach § 4 DiszO dazu führt, dass der Vorsitzende des Disziplinarausschusses den betroffenen Vertragsarzt anhören muss und die notwendigen Ermittlungen anzustellen hat.

Wenn die Vertreterversammlung der Beklagten sich in § 4 DiszO dafür entschieden hat, die Antragsbefugnis (nur) dem Vorstand einzuräumen, ist dies als Entscheidung des Satzungsgebers zu respektieren, die dargelegten Befugnisse zur Einleitung des Verfahrens für die gesamte KÄV Niedersachsen zentral in die Hände der Verwaltungsspitze zu legen. Damit werden - im Gegensatz zu der bis 2004 geltenden aF der DiszO - die Voraussetzungen für eine einheitliche Disziplinarpraxis für die gesamte KÄV geschaffen und der Gefahr entgegengewirkt, dass vergleichbare Sachverhalte im Gebiet einer Bezirksstelle disziplinarisch verfolgt werden und in dem anderer Bezirksstellen nicht. Außerdem wird der Gefahr begegnet, dass eine Disziplinierung wegen des innerhalb eines Bezirks bestehenden Näheverhältnisses zwischen Vertragsarzt und Bezirksstellenmitarbeiter unterbleibt. Die mit § 4 S 1 DiszO zum 1. Januar 2005 vorgenommene Änderung der Antragszuständigkeit durch den Satzungsgeber kann vom Vorstand der Beklagten nicht dadurch umgangen werden, dass nunmehr die Geschäftsführung der Bezirksstelle bevollmächtigt und damit eine der alten Rechtslage vergleichbare Situation wieder hergestellt wird.

Dass dies im Widerspruch zur Disziplinarordnung steht, ergibt sich schließlich mittelbar auch aus § 2 Abs 2 Abschnitt 2 S 2 DiszO. Dort ist geregelt, dass Mitglieder des Vorstands der Beklagten nicht Mitglieder des - für jede Bezirksstelle gebildeten - Disziplinarausschusses sein können. Zweck dieser Regelung ist es zu vermeiden, dass dieselben Personen über die Einleitung eines Disziplinarverfahrens und über dessen Ergebnis (mit)entscheiden können. In entsprechender Weise war in der Disziplinarordnung aF geregelt worden, dass Mitglieder des Vorstands „und der Bezirksstelle“ nicht Mitglieder des Disziplinarausschusses sein können. Ließe man die vom Vorstand der Beklagten für sich in Anspruch genommene Delegationsmöglichkeit zu, wäre die durch die genannten Vorschriften vorgesehene Inkompatibilität von Antragstellung und Schlussentscheidung nicht mehr vollständig gewahrt, weil Mitglieder der Bezirksstelle nunmehr sowohl an der Antragstellung als auch an der abschließenden Beschlussfassung beteiligt sein könnten.

Soweit sich die Beklagte zur Stützung ihrer Auffassung auf sonstige Vorschriften außerhalb der DiszO beruft, ist dies unerheblich. Insbesondere Richtlinien und Geschäftsanweisungen des Vorstands sind nur interne Verwaltungsvorschriften, die gegenüber der im Satzungsrang stehenden DiszO zurücktreten müssen.

2. Nach alledem ist der Antrag auf Einleitung eines Disziplinarverfahrens vorliegend nicht vom zuständigen Organ der Beklagten gestellt worden; der Disziplinarbescheid vom 31. Oktober 2007 ist deshalb formell rechtswidrig. Bereits dies führt zur Aufhebbarkeit des angefochtenen Bescheids.

Welche Auswirkungen Verfahrensfehler auf den Bestand des Disziplinarbescheides haben, ist in der DiszO selbst nicht geregelt. Nach der Rechtsprechung des BSG (BSG; Beschluss vom 9. Dezember 2004 - B 6 KA 70/04 B - juris) finden deshalb auch im Disziplinarrecht gem § 81 Abs 5 SGB V die Vorschriften des Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) Anwendung.

a) Geht man davon aus, der von einer unzuständigen Stelle gestellte Antrag sei bereits nicht wirksam gestellt worden (so Hesral aaO, Rn 30), greift § 18 S 2 Nr 2 SGB X ein. Danach darf die Behörde nicht entscheiden, wenn sie aufgrund von Rechtsvorschriften nur auf Antrag tätig werden darf und ein Antrag nicht vorliegt. Da im Disziplinarverfahren nach § 4 S 1 DiszO ein Antrag zwingend vorgesehen ist, hätte der Disziplinarausschuss im Fall des Klägers nicht tätig werden dürfen. Denn aus § 18 S 2 Nr 2 SGB X folgt, dass die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens ohne Antrag unzulässig ist (von Wulffen in: ders, SGB X, 7. Aufl, § 18 Rn 7). Ein gleichwohl erlassener Verwaltungsakt ist aufzuheben, ohne dass es auf die weiteren Voraussetzungen des § 42 S 1 SGB X ankäme. Dies ist im VwVfG im Verhältnis von § 22 VwVfG zu § 46 VwVfG allgemein anerkannt (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof <VGH> NVwZ-RR 1992, 147 f; Engelhardt in: Obermayer VwVfG, 3. Aufl, § 22 Rn 80 mwN) und ist zum SGB X auch vom BSG im Ergebnis so entschieden worden (SozR 4-2700 § 112 Nr 1; vgl hierzu auch Mutschler in: Kasseler Kommentar, Stand: April 2012, § 18 SGB X Rn 11; zum Disziplinarrecht ebenso: Hesral aaO, Rn 30).

Wie das SG bereits zutreffend dargelegt hat, kommt auch eine Heilung des genannten Verfahrensfehlers nicht in Betracht. Gem § 41 Abs 1 Nr 1 SGB X ist eine Verletzung von Verfahrensvorschriften zwar unbeachtlich, wenn der für den Erlass des Verwaltungsakts erforderliche Antrag nachträglich gestellt wird. Eine nachträgliche Antragstellung durch den zuständigen Vorstand der Beklagten liegt hier jedoch nicht vor und ist auch ausgeschlossen. Denn gem § 4 S 2 DiszO kann der Antrag nicht mehr gestellt werden, wenn seit dem Bekanntwerden der Verfehlung zwei Jahre oder seit der Verfehlung fünf Jahre vergangen sind. Da das Verhalten, dass dem Kläger vorgeworfen wird, bereits im Jahr 2006 abgeschlossen war, ist sogar die 5-Jahres-Frist abgelaufen. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sogar gegen ein Strafgesetz verstoßen haben könnte - mit der Folge einer Verlängerung der Antragsfrist nach § 4 S 3 DiszO - liegen nicht vor.

b) Stellt man sich demgegenüber auf den Standpunkt, auch der von unzuständiger Stelle gestellte Antrag bleibt wirksam, ist an § 42 S 1 SGB X anzuknüpfen. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 40 SGB X nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Daraus, dass in § 42 S 1 SGB X nur die örtliche Zuständigkeit angeführt ist, schließt die Rechtsprechung (zB BSG SozR 3-3300 § 20 Nr 5) und die weit überwiegende Auffassung im Schrifttum (Schütze in: von Wulffen, aaO, § 42 Rn 5; Waschull in: LPK-SGB X, 3. Aufl, § 42 Rn 6; Littmann in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand: Dezember 2012, § 42 Rn 14 mwN), dass die Verletzung von Vorschriften über die sachliche und die funktionelle Zuständigkeit zwingend zur Aufhebung des Verwaltungsakts führt. Vorliegend ist mit § 4 DiszO eine Vorschrift zur funktionellen Zuständigkeit verletzt. Denn betroffen ist die Kompetenz eines Organs der Beklagten, die durch Vorschriften der DiszO - und damit auch mit Außenwirkung - mit eigenen Zuständigkeitsrechten innerhalb eines förmlichen Verwaltungsverfahrens ausgestattet ist. Aus einem derartigen Zuständigkeitsfehler folgt - im Umkehrschluss zu § 42 S 1 SGB X - die Aufhebbarkeit des betroffenen Verwaltungsakts.

Dies würde allerdings dann nicht gelten, wenn § 42 SGB X nur die fehlende Zuständigkeit einer Behörde für den Erlass eines Verwaltungsakts meinen würde. Insoweit könnte sich allerdings bereits aus dem Wortlaut des § 42 S 1 SGB X ergeben, dass - darüber hinausgehend - hierunter alle Konstellationen zu verstehen sind, in denen ein Verwaltungsakt „unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit“ zustande gekommen ist (Sachs aaO, § 46 Rn 39), also auch bei der einleitenden Antragstellung durch eine unzuständige Stelle (für eine zumindest entsprechende Anwendung im Disziplinarrecht: Oberverwaltungsgericht <OVG> Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15. August 2007 - 21d A 3599/06.BDG - juris). Dies muss indes nicht vertieft werden. Denn auch wenn man die fehlende Antragszuständigkeit lediglich als sonstigen Verfahrensfehler iSd § 42 SGB X ansieht, führt dieser zur Aufhebbarkeit des vorliegenden Verwaltungsakts, weil nicht angenommen werden kann, dass der Fehler ohne Auswirkung auf die Sachentscheidung geblieben ist. Da - wie dargelegt - die Entscheidung über die Einleitung eines Disziplinarverfahrens nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen ist, besteht vielmehr die Möglichkeit, dass der allein antragsbefugte Vorstand eine andere Entscheidung als die Bezirksstelle Hannover getroffen hätte und es deshalb nicht zu dem hier angefochtenen Bescheid gekommen wäre.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), liegen nicht vor. Denn im Vordergrund des Verfahrens stehen Fragen der Auslegung von Landesrecht, die gem § 162 SGG nicht Gegenstand einer Revision sein können.

Die Entscheidung über den Streitwert folgt aus der Anwendung des § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 47 Abs 1 S 1, 52 Abs 2 Gerichtskostengesetz (GKG).