Landgericht Braunschweig
Beschl. v. 16.06.2005, Az.: 50 StVK 497/05
Abschiebung; Ausländerbehörde; ausländischer Verurteilter; Ausweisung; Beitrittsstaat; Beitrittszeitpunkt; Bundesgebiet; Bundesrepublik Deutschland; EG; EU; freier Personenverkehr; Freizügigkeitsgrundrecht; Mitgliedstaat; Nachholungsanordnung; Osterweiterung; Polen; polnischer Verurteilter; Rückkehr; Strafverurteilung; Strafvollstreckungskammer; Vertragsstaat; verurteilter Straftäter; Wiedereinreise; zeitige Freiheitsstrafe
Bibliographie
- Gericht
- LG Braunschweig
- Datum
- 16.06.2005
- Aktenzeichen
- 50 StVK 497/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50950
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 456a Abs 2 StPO
- § 2 Abs 4 FreizügG/EU
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Nachholen der Strafvollstreckung gemäß § 456a Abs. 2 StPO bei Rückkehr eines ausgewiesenen polnischen Staatsangehörigen auch nach dem EU-Beitritt Polens
Tenor:
Der Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist durch Urteil des Amtsgerichts Wolfsburg vom 19. März 2003 zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr wegen Vergehens gegen das Ausländergesetz verurteilt worden. Der Antragsteller war strafrechtlich bereits vielfältig in Erscheinung getreten, u. a. wurde er wegen Diebstahls in besonders schwerem Fall und vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln auch zu Freiheitsstrafen verurteilt.
Aufgrund bevorstehender Abschiebung nach Polen hat die Staatsanwaltschaft Braunschweig mit Verfügung vom 09. 04. 2003 mit dem Tage der Abschiebung gemäß § 456 a StPO von der Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Wolfsburg abgesehen. Der Antragsteller ist am 16. 04. 2003 in polnischer Sprache über das Absehen von der Vollstreckung nach § 456 a StPO belehrt worden. Bei Abschiebung nach Polen betrug der Strafrest noch 352 Tage.
Nach der Abschiebung hat die Staatsanwaltschaft Braunschweig Haftbefehl vom 07. 05. 2003 für den Fall der Wiedereinreise erlassen. Aufgrund dieses Haftbefehls ist der Antragsteller, der wieder nach Deutschland eingereist ist, am 27.04.2005 festgenommen und in Haft genommen worden.
Mit Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 10.05.2005 wendet sich der Antragsteller gegen die Vollstreckung der Freiheitsstrafe. Seinen Antrag begründet der Antragsteller damit, dass Polen seit dem 01.05.2004 Mitglied der EU ist und er daher habe legal wieder einreisen habe dürfen. Seine Wiedereinreise sei daher nicht unerlaubt erfolgt.
Der Antragsteller beantragt, den Haftbefehl aufzuheben.
Die Staatsanwaltschaft hat die Einwendungen des Antragstellers zurückgewiesen und dazu ausgeführt, dass die EU-Mitgliedschaft Polens die Strafvollstreckung nicht berühre. Nach § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz dürfe ein ausgewiesener Ausländer nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich dort aufhalten; ihm würde auch kein Aufenthaltstitel erteilt.
II.
Der Antrag des Antragstellers auf gerichtliche Entscheidung ist nach §§ 456 a, 458 Abs. 1, 462, 462 a StPO zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.
1. Zunächst ist die Belehrung nach § 456 a Abs. 2 S. 4 StPO, die Zulässigkeitsvoraussetzung für die Nachholung der Strafvollstreckung ist (Kammergericht, Beschluss vom 12.08.1999, 1 AR 955/99 - 5 Ws 474/99) am 16.04.2003 erfolgt. An der Rechtmäßigkeit der Belehrung bestehen keine Bedenken, da sie insbesondere auch in polnischer Sprache erfolgt ist.
2. Auch die weitere Voraussetzung der Nachholung der Zwangsvollstreckung gemäß § 456 a Abs. 2 StPO, das Zurückkehren des Ausgelieferten, liegt mit der erneuten Einreise des Antragstellers in das Bundesgebiet vor. Soweit für das Zurückkehren Freiwilligkeit erforderlich ist (Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., § 456 a Rdnr. 6) gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller zwangsweise, etwa durch Abschiebung oder Auslieferung, in das Bundesgebiet zurückgekehrt ist. Selbst eine - bewusste - Durchreise reicht für das Tatbestandsmerkmal der Rückkehr aus (OLG Frankfurt, NStZ - RR 1996, 93).
3. Die Nachholung der Zwangsvollstreckung ist auch nicht deswegen unzulässig, weil Polen seit dem 01.05.2004 Mitglied der EU ist und daher für polnische Staatsangehörige das Freizügigkeitsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950, 1986) gilt, nach dessen § 2 Abs. 4 Unionsbürger für die Einreise keines Visums und für den Aufenthalt keines Aufenthaltstitels bedürfen.
Die Vollstreckungsanordnung nach § 456 a Abs. 2 StPO ist eine Ermessensentscheidung (Kammergericht, Beschluss vom 12.08.1999, - 1 AR 955/99 - 5 Ws 474/99). Das Absehen von der weiteren Vollstreckung im Falle der Verurteilung hat lediglich vorläufigen Charakter und bedeutet keinen Verzicht auf den staatlichen Vollstreckungsanspruch, da die Vollstreckung im Fall der Rückkehr bis zur Vollstreckungsverjährung nachgeholt werden kann, wobei es keine Rolle spielt, ob der Verurteilte nach den ausländerrechtlichen Vorschriften erlaubt oder unerlaubt erneut in das Bundesgebiet einreist (Kammergericht, aaO, OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04.02.1991, - 3 Ws 48/91, 3 Ws 56/91, DtZ 1991, 254). Diese Auslegung ergibt sich aus den mit der Vorschrift verfolgten Zwecken: Durch das Absehen von der Vollstreckung erlangt der Verurteilte erhebliche Vorteile gegenüber anderen - insbesondere inländischen - Strafgefangenen, die nur unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 u. Abs. 2 StGB vorzeitig entlassen werden können. Diese Besserstellung des ausgewiesenen ausländischen Straftäters rechtfertigt sich allein dadurch, dass eine Sicherung vor gefährlichen Straftätern mit der Abschiebung oder Ausweisung in der Regel nicht mehr erforderlich ist. Diese Situation ändert sich aber grundlegend, wenn der Verurteilte freiwillig zurückkehrt: Dann unterwirft er sich erneut der Rechts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland und muss mit anderen verurteilten Straftätern in vergleichbarer Situation gleichgestellt werden, und zwar auch bezüglich des nicht verbüßten Teils der Strafe (OLG Düsseldorf, DtZ 1991, 254, OLG Frankfurt, Beschluss vom 01.11.2000, - 3 VAs 45/00, NStZ - RR 2001, 93 sowie Beschluss vom 22. 03. 1995 - 3 Ws 207/95).
Entscheidend ist somit allein die Tatsache, dass der Verurteilte erneut in das Bundesgebiet eingereist ist und damit der Strafvollstreckungsbehörde den maßgeblichen Grund für das Absehen von Strafe genommen hat. Bei der Entscheidung, ob die Strafvollstreckung nach § 456 Abs. 2 StPO nachzuholen ist, hat die Strafvollstreckungsbehörde pflichtgemäßes Ermessen auszuüben. Da die Vollstreckungsbehörde grundsätzlich zur Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils verpflichtet ist, verlangt das pflichtgemäße Ermessen, die Nachholung der Vollstreckung nur zu unterlassen, wenn die erneute Inhaftierung des Verurteilten gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer nachhaltigen Vollstreckung unangebracht ist (Kammergericht, Beschluss vom 12.08.1999 - 1 AR 955/99 - 5 Ws 474/99). Angesichts der vorgenannten Gründe ist ein Ermessensfehlgebrauch seitens der Staatsanwaltschaft nicht zu erkennen. Der Antragsteller ist erheblich wegen Delikten vorbestraft, die das Bedürfnis nach Vollstreckung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe begründen. Trotz erfolgter Belehrung hat er sich freiwillig wieder in das Bundesgebiet zurückbegeben, wobei es - wie erörtert - unerheblich ist, dass die Einreise ausländerrechtlich nicht unerlaubt erfolgt ist, weil der Antragsteller als polnischer Staatsbürger eines Aufenthaltstitels nicht bedarf. Auch soweit er sich angesichts seiner Beschwerdebegründung im unklaren darüber war, dass trotz erlaubter Einreise die Vollstreckung der gegen ihn verhängten Strafe nachgeholt werden kann, begründet dies nicht die Unzumutbarkeit der Vollstreckung gegen den Antragsteller. Insoweit hätte es dem Antragsteller selbst oblegen, sich gegebenenfalls vor Wiedereinreise in das Bundesgebiet bei der zuständigen Strafvollstreckungsbehörde danach zu erkundigen, ob mit dem Beitritt Polens zur EU die angedrohte Nachholung der Strafvollstreckung bei Wiedereinreise ausgeschlossen ist (zum vergleichbaren Fall der behaupteten Auskunft einer Deutschen Botschaft siehe Kammergericht, Beschluss vom 12.08.1999, - 1 AR 955/99 - 5 Ws 474/99). Andere Gesichtspunkte, aus denen heraus ausnahmsweise ein Absehen von der Nachholung der Strafvollstreckung geboten wäre, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.
Eine Anhörung des Antragstellers vor der Entscheidung gemäß § 462 Abs. 2 StPO war nicht geboten, da der Antragsteller mit seiner Beschwerde die ihm wichtig erscheinenden Punkte schriftlich dargelegt hat und die Entscheidung nicht auf neuen Tatsachen und Beweisen im Sinne von § 33 Abs. 3 StPO, sondern auf rechtlichen Erwägungen beruht.