Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 30.05.2013, Az.: L 10 VE 2/12

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
30.05.2013
Aktenzeichen
L 10 VE 2/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 40131
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2013:0530.L10VE2.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - S 42 VG 45/0930.11.2011

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 30. November 2011 wird zurückgewiesen Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Versorgung nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren ist.

Bei der 1990 geborenen Klägerin ist bereits seit Mitte 1991 ein Grad der Behinderung von 100 wegen der Funktionsstörungen "Hirnleistungsstörung mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung, Sprachentwicklungsstörung und psychischer Behinderung", unter denen die Klägerin wegen eines Rett-Syndroms leidet, festgestellt. Nach ihrem Vorbringen wird sie bereits seit Ende 2005 tagsüber in der J. -Schule, einer Tagesbildungsstätte der Lebenshilfe K., betreut. Am 24. Februar 2009 erstattete Frau L. bei dem Polizeikommissariat M. Strafanzeige. Hierbei gab sie an, der unter ihrer Betreuung stehende Mitschüler der Klägerin N. sei im November 2008 von der Ende Januar 2009 aus der Schule ausgeschiedenen Erzieherin O. mehrfach auf den Hinterkopf geschlagen worden. Im Rahmen der darauf eingeleiteten Ermittlungen wurde die frühere Kollegin der Frau P., Q., als Zeugin von der Polizeiinspektion K. vernommen. Diese berichtete von körperlichen Übergriffen der Frau P. gegenüber mehreren in der Klasse betreuten Personen. U.a. erwähnte sie in diesem Zusammenhang auch, dass sie sich an eine Situation erinnern könne, in welcher die Klägerin auf einem Tripp-Trapp-Stuhl gesessen und von Frau P. so geschubst worden sei, dass sie zu Boden gestürzt sei. Sie habe hierbei eines der Beine in dem Stuhl festgeklemmt, sodass das Bein anschließend blau gewesen sei. Die daraufhin eingeleiteten mehreren Ermittlungsverfahren gegen Frau P. fanden insgesamt ihren Abschluss im Oktober 2009 durch Einstellung nach § 153 a Abs. 1 StPO gegen Zahlung eines Betrages von 500,00 EUR.

Im Juli 2009 beantragte die Klägerin Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Sie gab hierbei an, zwischen Juni 2007 und Februar 2009 von der Erzieherin P. geschubst worden zu sein, hierbei das Bein im Stuhl eingeklemmt zu haben und zu Boden gestürzt zu sein. Ihre Mutter habe in der Folgezeit ungeklärte blaue Flecken, aufgeplatzte Lippen, ein blaues Kinn sowie gesteigerte Unruhe bemerkt, die mit schweren Medikamenten hätten behandelt werden müssen. Nach Beiziehung der Ermittlungsakten lehnte der Beklagte die Gewährung von Versorgung mit Bescheid vom 8. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2009 ab. Voraussetzung für die Versorgung sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen, tätlichen Angriffs geworden sei. Nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft habe es sich bei der Tat der Frau P. gegenüber der Klägerin aber allenfalls um eine fahrlässige Körperverletzung gehandelt.

Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Braunschweig erhoben und den Anspruch auf Versorgung weiter verfolgt. Sie sei Opfer einer vorsätzlichen Misshandlung geworden. Ihre Mutter gab hierzu an, die Klägerin habe in der Zeit von Juni 2008 bis Januar 2009 unter immer schlimmer werdender verstärkter Unruhe gelitten, die vom Hausarzt mit Beruhigungsmitteln habe behandelt werden müssen. Sei dem Weggang der Frau P. sei es zu einer stetigen Besserung gekommen, sodass die Dosis des Medikaments inzwischen auf die Hälfte habe reduziert werden können.

Das Sozialgericht hat in dem Termin am 31. März 2011 die Mutter der Klägerin angehört und die Erzieherinnen R. und P. als Zeuginnen vernommen. Anschließend hat es einen Befundbericht des behandelnden Internisten S. beigezogen. Schließlich hat es die Klage mit Urteil vom 30. November 2011 als unbegründet abgewiesen. Es sei klar, dass die Klägerin unter der Einwirkung von Frau P. vom Stuhl gefallen sei. Ob hierin ein vorsätzlicher Angriff gelegen habe, sei allerdings ohne Kenntnis der näheren Umstände ungeklärt. Eine Aufklärung sei insoweit aber auch nicht erforderlich, weil jedenfalls die Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruches nicht erfüllt seien. Es sei nicht erwiesen, dass es durch den Sturz zu einer dauerhaften Verschlimmerung des Rett-Syndroms gekommen sei.

Gegen das ihr am 15. Dezember 2011 zugestellte Urteil wendet sich die am 4. Januar 2012 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung der Klägerin. Sie verfolgt den Anspruch weiter und macht geltend, nach dem streitigen Vorfall unter großer Unruhe und langanhaltenden Schreianfällen gelitten zu haben. Die Frage etwaiger negativer Auswirkungen auf die zukünftige Entwicklung des Rett-Syndroms sei nach wie vor nicht geklärt. Jedenfalls sei die Laktoseintoleranz im Jahr 2008 zu dem Zeitpunkt bereits bekannt gewesen, als ihre Mutter sie bei dem behandelnden Arzt S. wegen der vermehrten Schreianfälle vorgestellt habe. Diese könnten also nicht Folge der Laktoseintoleranz gewesen sein.

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

1. das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 30. November 2011 und den Bescheid des Beklagten vom 8. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2009 aufzuheben,

2. den Beklagten zu verurteilen, bei ihr vermehrte Schreianfälle, verstärkte Unruhe und etwaige Folgen für die Entwicklung des Rett-Syndroms als Schädigungsfolgen nach Gewalttat festzustellen und ihr deswegen Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 30 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 30. November 2011 zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil und seine mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend.

Im vorbereitenden Verfahren hat der Senat eine weitere Auskunft des Internisten S. eingeholt.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte des Beklagten, der über die Klägerin geführten Schwerbehindertenakte sowie der beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft Braunschweig, Az.: 602 JS 24136/09, Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet.

Der von der Klägerin mit der Berufungsschrift vom 3. Januar 2012 angekündigte und inzwischen nicht korrigierte Antrag bedarf der Auslegung, weil das Opferentschädigungsgesetz "Leistungen in rentenberechtigender Höhe" nicht kennt. Die Formulierung einer "rentenberechtigenden Höhe" nimmt offenbar auf die Regelung des § 31 Abs. 1 BVG Bezug, so dass das Begehren der Klägerin als darauf gerichtet anzusehen ist, ihr gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit §§ 30 f. BVG Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 30 zu erbringen.

Diese wie im Übrigen alle etwa in Betracht kommenden Versorgungsleistungen setzen das Vorliegen einer durch das schädigende Ereignis verursachten Gesundheitsstörung voraus. Nach dem Gesetz ist diese ausdrücklich anzuerkennen (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BVG, auf den § 12 Abs. 1 Satz 1 OEG verweist; vgl. auch § 61 Satz 1 IfSG, § 4 Abs. 5 Satz 1 HHG, § 81 Abs. 6 Satz 1 SVG). Mittelbar folgt dies auch daraus, dass etwa § 10 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz, Abs. 2 Satz 1, § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG für die Bestimmung des Umfangs der Leistungen auf die "anerkannten Gesundheitsstörungen" Bezug nehmen. Die Form der Anerkennung schreibt Nr. 6 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 22 KOV-VfG vor. Dies bedeutet zugleich, dass ohne die ausdrückliche - und gedanklich vorrangige - Anerkennung von Schädigungsfolgen die Zusprechung von Versorgungsleistungen ohnehin nicht in Betracht kommt.

Auch wenn die Klägerin mit der Berufungsschrift die Feststellung konkreter Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen nicht ausdrücklich beantragt hat, legt der Senat ihr Begehren zu ihren Gunsten dahin aus, dass gleichwohl begehrt werden soll, die im Verfahren diskutierten Gesundheitsstörungen "vermehrte Schreianfälle", "verstärkte Unruhe" sowie "etwaige Folgen für die Entwicklung des Rett-Syndroms" als Folgen des Ereignisses in der J. -Schule in der Zeit zwischen Juni 2007 und Januar 2009 sind.

Das Sozialgericht hat bereits zu Recht die Anerkennung der vorgenannten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen abgelehnt. Es hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass für die Bemessung des Grades der Schädigungsfolgen gemäß § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG nur solche Gesundheitsstörungen von Bedeutung sein können, die länger als sechs Monate andauern. Auf die von dem Senat für richtig gehaltenen Ausführungen in dem angefochtenen Urteil wird zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen. Zudem ist - ausgehend von einem schädigenden Ereignis etwa im Januar 2008 - mit Rücksicht auf § 60 Abs. 1 BVG nur auf solche Gesundheitsstörungen abzustellen, die auch im Juli 2009 - dem Antragsmonat - noch fortbestanden haben.

Unstreitig hat das Rett-Syndrom bereits vor dem angeschuldigten Ereignis bestanden. Schädigungsfolge könnte deshalb allenfalls eine Verschlimmerung der Folgen des Gendefekts sein. Schon nach dem Vorbringen der Klägerin hat es sich bei den vermehrten Schreianfällen und der verstärkten Unruhe um nur vorübergehende Gesundheitsstörungen gehandelt, die sich nach den Angaben ihrer Mutter in der schriftlichen Erklärung gegenüber dem Sozialgericht vom 28. November 2009 insbesondere in dem Zeitraum von Juni 2008 bis Januar 2009 verschlimmert, seit dem Weggang der Frau P. - Ende Januar 2009 - aber wieder stetig verbessert haben. Vor diesem Hintergrund kann dahingestellt bleiben, ob als Ursache der vermehrten Schreianfälle nicht vielmehr Probleme im Zusammenhang mit der Laktoseintoleranz oder Unterleibsschmerzen (vgl. Eintrag der Mutter der Klägerin im Mitteilungsheft unter dem 3. Februar 2009) in Betracht kommen. Im Termin vor dem Sozialgericht hat die Mutter der Klägerin im Übrigen angegeben, die verstärkte Unruhe der Klägerin habe aus ihrer Sicht bereits seit dem Zeitpunkt bestanden, in dem sie in die neue Gruppe gekommen sei, also offenbar vor dem angeschuldigten Ereignis. Selbst aber wenn es entgegen der vorgenannten Bedenken zu einer durch das streitige Ereignis verursachten verstärkten Unruhe und zu vermehrten Schreianfällen gekommen sein sollte, so ist nach Aktenlage nicht davon auszugehen, dass diese auch im Juli 2009 noch in abgrenzbarem Umfang fortbestanden haben.

Zu Recht macht die Klägerin soweit ersichtlich die blauen Flecke nicht als Schädigungsfolge geltend. Diese haben bei Antragstellung schwerlich noch bestanden oder gar einen Grad der Schädigungsfolgen (mit-)bedingt.

Im Hinblick auf etwaige weitere Verschlimmerungen der Folgen des Rett-Syndroms gibt allein der Umstand, dass die Klägerin eine derartige Verschlimmerung als denkbar ansieht, jedenfalls solange keinen Anlass für weitere Aufklärung durch den Senat, wie weder die Klägerin konkrete weitere oder verschlimmerte Beschwerden benennt, noch sich Anhaltspunkte für eine solche Veränderung ihres Zustandes aus den Äußerungen der behandelnden Ärzte ergeben. Ärztliche Angaben über Verschlechterungen der auf das Rett-Syndrom zurückzuführenden Gesundheitsstörungen im Zusammenhang mit den hier streitigen Ereignissen in der J.-Schule finden sich in der Akte nicht. Im Gegenteil hat der behandelnde Arzt S. in der Stellungnahme vom 18. Juni 2012 darauf hingewiesen, dass der psychische Zustand der Klägerin aufgrund der Grunderkrankung sehr wechselhaft sei. Allein eine behauptete Veränderung ihres psychischen Zustandes rechtfertigt die Frage nach einer außerhalb der Grunderkrankung liegenden Ursache nicht.

Liegen demnach anzuerkennende Folgen der angeschuldigten Tat nicht vor, kommt die Bewilligung von Versorgungsleistungen bereits deshalb nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.