Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.08.1999, Az.: VI 634/96 Ki

Voraussetzungen der Gewährung von Kindergeld; Änderung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für Kindergeld; Rechtmäßigkeit einer rückwirkenden Aufhebung der Kindergeldfestsetzung

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
24.08.1999
Aktenzeichen
VI 634/96 Ki
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1999, 19612
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1999:0824.VI634.96KI.0A

Verfahrensgegenstand

Kindergeld

(Einspruchsbescheid vom 25.9.1996)

Amtlicher Leitsatz

Änderung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für Kindergeld rechtfertigt keine rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung.

In dem Rechtsstreit
hat der VI. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
nach mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 24. August 1999,
an der mitgewirkt haben:
Präsident des Finanzgerichts ... als Vorsitzender ...
Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
ehrenamtlicher Richter ... Dipl. Kfm.
ehrenamtlicher Richter ... Bürokaufmann
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 20. Juni 1996 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom

25. September 1996 werden insoweit aufgehoben, als dadurch die Kindergeldfestsetzung für die Tochter Bianca für die Monate Januar bis März 1996 aufgehoben worden ist.

Der Beklagte trägt die Kosten.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der der Klägerin zu erstattenden Kosten abwenden, wenn diese nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Streitig ist die rückwirkende Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung wegen Änderung der Anspruchsvoraussetzungen beim Übergang vom sozialrechtlichen zum steuerrechtlichen Kindergeld.

2

Die Klägerin erhielt für ihre am 18. November 1976 geborene Tochter B bis zum 31. Dezember 1995 Kindergeld nach den Vorschriften des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG). Die Tochter B ist ihrerseits Mutter eines am 19. Oktober 1994 geborenen Kindes, für das ihr vom Landkreis ... - zuletzt durch Bescheid vom 20. September 1995 bis zum 11. Oktober 1996 -Erziehungsgeld bewilligt wurde. Unter dem 1. September 1994 hatte die Tochter B gegenüber dem Beklagten (das Arbeitsamt - AA -) eine schriftliche Erklärung abgegeben, sich im Anschluss an den Erziehungsurlaub dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung stellen zu wollen (Bl. 198 der Kindergeldakte zur Kindergeldnummer 70/200).

3

Durch Bescheid vom 7. März 1996 hob das AA die Kindergeldfestsetzung für die Tochter B ab April 1996 mit der Begründung auf, dass diese wegen des Erziehungsurlaubs der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe und daher die Anspruchsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht erfüllt seien. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

4

Durch Bescheid vom 20. Juni 1996 hob das AA aus diesem Grund auch die Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar bis März 1996 auf. Den dagegen eingelegten Einspruch wies es durch Einspruchsentscheidung vom 25. September 1996 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte es aus:

5

Während nach § 2 Abs. 4 Satz 3 BKGG in der bis Ende 1995 geltenden Fassung für arbeitslose Kinder, die noch nicht 21 Jahre alt gewesen seien, auch dann ein Kindergeldanspruch bestanden habe, wenn sie dem Arbeitsmarkt tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden hätten, jedoch wegen der Erziehung eines Kindes Erziehungsgeld bezogen und erklärt hätten, dass sie sichnach dem Erziehungsurlaub der Arbeitsvermittlung wieder zur Verfügung stellen wollten, mache § 32 Abs. 4 Nr. 1 EStG den Kindergeldanspruch für arbeitslose Kinder davon abhängig, dass sie der Arbeitsvermittlung tatsächlich zur Verfügung stünden. Da diese Voraussetzung bei B nicht erfüllt gewesen sei, seien die Zahlungen von Januar bis März 1996 zu Unrecht erfolgt. Die Kindergeldfestsetzung für diese Zeiträume sei daher nach§ 70 Abs. 2 EStG aufzuheben.

6

Hiergegen richtet sich die Klage, zu deren Begründung die Klägerin unter anderem vorträgt, dass ihre Tochter dem Arbeitsmarkt ab 1. Januar 1996 tatsächlich zur Verfügung gestanden habe. Ihre Tochter sei sich niemals darüber im klaren gewesen, für einen über den 1. Januar 1996 hinausgehenden Zeitraum bei irgendeiner Stelle "Erziehungsurlaub" beantragt zu haben.

7

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid des Beklagten vom 20. Juni 1996 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 25. September 1996 insoweit aufzuheben, als darin die Kindergeldfestsetzung für ihre Tochter B für die Zeit von Januar bis März 1996 rückwirkend aufgehoben worden ist.

8

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Er hält an der dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegenden Beurteilung fest.

Entscheidungsgründe

10

Die Klage ist begründet. Das AA war verfahrensrechtlich nicht befugt, die Kindergeldfestsetzung für die Tochter B für die Monate Januar bis März 1996 aufzuheben. Da der Klägerin für dieses Kind bis zum 31. Dezember 1995 Kindergeld nach den Vorschriften des BKGG gewährt worden war, galt dieses mit Wirkung vom 1. Januar 1996 als nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes festgesetzt (§ 78 Abs. 1 EStG in der für den Streitzeitraum maßgebenden Fassung). Diese Festsetzung war zwar von Anfang an rechtswidrig. Denn die Tochter hatte am 1. Januar 1996 das 18. Lebensjahr vollendet und erfüllte auch nicht die Voraussetzungen für eine Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Nr. 1 EStG, weil sie der Arbeitsvermittlung zur fraglichen Zeit tatsächlich nicht zur Verfügung stand, sondern sich dem Arbeitsmarkt erst nach Ablauf ihres Erziehungsurlaubs wieder zur Verfügung stellen wollte.

11

Da das Kindergeld nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gilt und auf die Festsetzung einer Steuervergütung die für die Steuerfestsetzung geltenden Vorschriften sinngemäß anzuwendensind (§ 155 Abs. 6 der Abgabenordnung - AO -), konnte die nach § 78 Abs. 1 EStG fingierte Festsetzung aber nur unter den Voraussetzungen des § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO aufgehoben oder geändert werden. Ein Fall des § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchstaben a bis c AO liegt ersichtlich nicht vor. Ebensowenig ist die Aufhebung oder Änderung durch eine sonstige gesetzliche Regelung (§ 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe d AO) zugelassen.

12

Entgegen der dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegenden Beurteilung kann die rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nicht auf § 70 Abs. 2 EStG gestützt werden. Nach dieser Vorschrift ist - soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten -die Festsetzung des Kindergelds mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern. Unter einer Änderung der Verhältnisse im Sinne dieser Vorschrift sind nur solche rechtlichen oder tatsächlichen Umstände zu verstehen, diedie Person des Kindergeldberechtigten bzw. des Kindes betreffen. Eine Änderung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für den Kindergeldbezug fällt - wie der Senat bereits in seinem Urteilvom 17. November 1998 VI 592/96 Ki (Entscheidungen der Finanzgerichte 1999, 569, mit Nachweisen über den Meinungsstand) entschieden hat - nicht in den Anwendungsbereich der Vorschrift. Selbst wenn man insoweit gegenteiliger Ansicht wäre, wären die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 EStG im Streitfall nicht erfüllt. Denn diese Vorschrift ist zeitgleich mit den übrigen Vorschriften des X. Abschnitts des EStG sowie der Neufassung des § 32 Abs.4 EStG am 1. Januar 1996 in Kraft getreten, so dass im zeitlichen Anwendungsbereich des § 70 II EStG eine Änderung der materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen für den Kindergeldbezug überhaupt nicht eingetreten ist (Senatsurteil vom 17. November 1998, a.a.O.).

13

Der Senat verkennt nicht, dass die Unanwendbarkeit des§ 70 Abs. 2 EStG auf Fälle, in denen die nach § 78 Abs. 1 EStG fingierte Kindergeldfestsetzung wegen Änderung der materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen beim Übergang vom sozialrechtlichen auf das steuerrechtliche Kindergeld von Anfang an rechtswidrig war, im Ergebnis unbefriedigend ist. Dem Gesetzgeber war das Problem jedoch bekannt. Wie sich aus den in § 78 Abs. 2 bis 4 EStG getroffenen materiell-rechtlichen Übergangsregelungen ergibt, war er sich darüber im Klaren, dass sich die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld nach dem EStG nicht in allen Fällen mit denen für den Bezug von Kindergeld nach dem BKGG deckten und ein Teil der nach § 78 Abs. 1 EStG fingierten Kindergeldfestsetzungen daher von Anfang an rechtswidrig seien konnte. Es hätte daher nahegelegen, für diese Fälle eine besondere Änderungsmöglichkeit vorzusehen, wie dies auch in anderen Fällen zu geschehen pflegt, in denen Gesetzesänderungen die Rechtmäßigkeit bereits ergangener Steuerbescheide berühren können. So enthalten z.B. alle seit 1968 ergangenen Zustimmungsgesetze zu (rückwirkenden) Doppelbesteuerungsabkommen eine spezielle Ermächtigung, bereits ergangene Bescheide aufzuheben oder zu ändern (Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 175 AO Rn. 16 mit weiteren Nachweisen). Wenn der Gesetzgeber für die nach § 78 Abs. 1 EStG fingierten Kindergeldfestsetzungen von einer entsprechenden Regelung abgesehen hat, ist es nicht Aufgabe des Senats, die sich daraus ergebende Regelungslücke durch eine den Wortsinn oder die Gesetzessystematik überschreitende Auslegung des § 70 Abs. 2 EStG zu schließen.

14

Da die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung auch nicht auf einen anderen Änderungstatbestand gestützt werden kann, ist der angefochtene Verwaltungsakt insoweit aufzuheben (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10 und 711 der Zivilprozessordnung in Verbindung mit § 151 Abs. 1 und 3 FGO. Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.