Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 01.11.2013, Az.: 11 B 6467/13

Ausländer; unerlaubt eingereist; Ermessen; Schwangerschaft; Umverteilung

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
01.11.2013
Aktenzeichen
11 B 6467/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 64400
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der Ermessensentscheidung nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG muss berücksichtigt werden, ob viel dafür spricht, dass in absehbare Zeit ohnehin wieder eine Rückverteilung des Ausländers in den Zuständigkeitsbereich der verfügenden Ausländerbehörde erfolgen wird (im Anschluss an VGH Kassel, Beschluss vom 30. März 2006 - 3 TG 556/06 - juris).

Tenor:

Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt S. bewilligt.

Die aufschiebende Wirkung der Klage (11 A 6464/13) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 28. Oktober 2013 wird angeordnet.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin eine Duldung zu erteilen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

1.) Das Gericht legt die Anträge zu 2.) und 3.) in der Antragsschrift vom 28. Oktober 2013 gemäß § 88 VwGO analog dahingehend aus, dass die Antragstellerin mit diesen Anträgen allein gem. § 80 Abs. 5 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (11 A 6464/13) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 28. Oktober 2013 begehrt. Denn neben der beantragten aufschiebenden Wirkung ist für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, die auf das gleiche Rechtsschutzziel gerichtet ist, kein Raum (§ 123 Abs. 5 VwGO). Mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung kann die Entscheidung vom 28. Oktober 2013, mit welcher ihr aufgegeben wurde sich unverzüglich zur Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (LAB NI) nach B. zu begeben, nicht mehr vollzogen werden. Das Ziel des Antrags zu 3.) von einer länderübergreifenden Verteilung abzusehen ist damit zugleich erreicht.

Das so verstandene Begehren der Antragstellerin ist zulässig und begründet. Denn bei summarischer Prüfung ergeben sich ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verfügung des Antragsgegners.

Nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann die Ausländerbehörde einen unerlaubt eingereisten Ausländer, der weder um Asyl nachsucht noch unmittelbar nach der Feststellung der unerlaubten Einreise in Abschiebungshaft genommen und aus der Haft abgeschoben oder zurückgeschoben werden kann, verpflichten, sich zu der Behörde zu begeben, die die Verteilung nach § 15a Abs. 1 AufenthG veranlasst, sofern nicht ein Ausschlussgrund nach §§ 15a Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 6 AufenthG vorliegt. Diese die Verteilung veranlassende Behörde ist in Niedersachsen die LAB NI mit Hauptsitz in B. und Standorten in B., B., F. und O. sowie Außenstellen in L. und L. (vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport (MI), Erlass vom 14. Dezember 2004, Nds. MBl. 2005 S. 7, dort Nr. 2.1; Niedersächsische Landesregierung, Beschluss vom 21. Oktober 2008, Nds. MBl. S. 1242; dort Nrn. 2 und 3; Niedersächsische Landesregierung, Beschluss vom 9. November 2010, Nds. MBl. S. 1130, dort II. Nrn. 1, 2 und 4).

Zwar liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen vor, der Antragsgegner hat jedoch das ihm durch § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt.

Insbesondere ist in der bestehenden Schwangerschaft der Antragstellerin kein „zwingender Grund“ i.S.d. §§ 15a Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 6 AufenthG zu sehen. Ein solcher Grund kann beispielsweise in einer Erkrankung (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 15a Rn. 12 a) oder in der Sicherstellung der Betreuung von pflegebedürftigen Verwandten in gerader Linie und von Geschwistern gesehen werden (vgl. Allg. Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz 2009, Ziffer 15a.1.5.1). Allein die Tatsache, dass die Ausländerin in nichtehelicher Lebensgemeinschaft lebt und schwanger ist reicht für sich genommen noch nicht aus (vgl. Westphal in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 1. Auflage 2010, § 15a Rn. 5; sowie VG Wiesbaden Beschluss vom 21. Februar 2006 - 4 G 240/06 -, juris). Die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen in Ansehung des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG werden erst dann ausgelöst, wenn zu der Schwangerschaft noch weitere Umstände hinzutreten, die eine besondere Betroffenheit der Schwangeren begründen, wie z.B. eine Risikoschwangerschaft oder das besondere Angewiesensein auf eine Unterstützung durch Dritte in der Zeit der Schwangerschaft (vgl. Nds. OVG, Beschlüsse vom 29. Juni 2010, - 8 ME 159/10 -, juris Rn. 5/6; und vom 15. September 2008, -10 ME 328/08 -, juris Rn. 11). Solche besonderen Umstände hat die Antragstellerin aber nicht vorgetragen.

Im Rahmen der nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu treffenden Ermessenentscheidung hat der Antragsgegner jedoch die für und gegen eine Weiterleitung der Antragstellerin an die LAB NI sprechenden Gesichtspunkte nicht fehlerfrei abgewogen. Zu berücksichtigen sind hierbei die Interessen des betroffenen Ausländers, aber auch das Interesse eines effektiven Verwaltungsablaufs. In die Ermessenserwägung ist insbesondere einzustellen, ob einiges dafür spricht, dass der betroffene Ausländer in absehbarer Zeit ohnehin wieder dem Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörde, die die Weiterleitung betreiben möchte, zugewiesen werden müsste (vgl. Hessischer VGH, Beschluss vom 30. März 2006 – 3 TG 556/06 –, juris Rn. 4). Dies hat der Antragsgegner hier jedoch nicht angemessen berücksichtigt.

Schon mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin vom 22. Oktober 2013 wurde dem Antragsgegner mitgeteilt, dass die Antragstellerin schwanger sei (unter Vorlage einer frauenärztlichen Bescheinigung) und dass Herr S., der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei, der Vater des Kindes sei. Am 28. Oktober 2013 - unmittelbar vor Erlass des Bescheides - wurde die Antragstellerin zusammen mit Herrn S. und dessen Familie bei dem Antragsgegner vorstellig. Herr S. ergänzte in dem Gespräch, dass er von der Familie der Antragstellerin anerkannt werde (vgl. Vermerk des Antragsgegners vom 28. Oktober 2013). Unabhängig davon, ob dem Antragsgegner zu diesem Zeitpunkt schon eine rechtswirksame Vaterschaftsanerkennung vorgelegen hat, musste er aber bei den ihm bekannten Umständen von einer Vaterschaft des Herrn S. ausgehen. Dies wird auch durch die dem Gericht vorliegende notariell beurkundete Vaterschaftsanerkennung vom 15. Oktober 2013 belegt. Die schwebende Unwirksamkeit der Vaterschaftsanerkennung aufgrund der Minderjährigkeit der Antragstellerin (§ 1596 Abs. 1 Satz 2 BGB) könnte in analoger Anwendung des § 108 Abs. 3 BGB geheilt werden durch die nachträgliche formgerechte Zustimmung der Antragstellerin bei Eintritt ihrer Volljährigkeit (also ab dem 16. November 2013 - vgl. Wellenhofer in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2012, § 1596 Rn. 11, m.w.N.). Unter diesen Umständen war für den Antragsgegner schon absehbar, dass ein nach erfolgter Verteilung und Geburt des Kindes gestellter Umverteilungsantrag der Antragstellerin nach § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG bzw. Abs. 5 der Vorschrift i.V.m. § 51 Abs. 1 AsylVfG analog Erfolg haben würde. Wenn aber absehbar ist, dass die Antragstellerin ihren Wohnsitz in naher Zukunft ohnehin wieder im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners wird nehmen können (nach der Geburt des Kindes in der 2. Dezemberhälfte), dann kann eine Verteilung nach § 15a AufenthG nicht mehr ihren gesetzlichen Zweck erreichen; nämlich illegal eingereiste Ausländer auf die einzelnen Bundesländer gleichmäßig zu verteilen.

2.) Auch der Antrag im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der Antragstellerin eine Duldung zu erteilen ist, damit zulässig und begründet.

Insbesondere ist das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis gegeben. Die Antragstellerin hat sich zuvor mit ihrem Begehren an den Antragsgegner gewandt, der sich für nicht zuständig erklärte. Zudem ist keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache gegeben. Die Antragstellerin kann die Erteilung der Duldung hier ausnahmsweise im Wege des Eilrechtsschutzes durchsetzen, da der Hauptsacherechtsschutz zu spät käme und dies für die Antragstellerin zu schlechthin unzumutbaren Nachteilen führen würde, die sich auch bei einem späteren Erfolg im Hauptsacheverfahren nicht mehr abwenden oder ausgleichen ließen. Denn die hochschwangere Antragstellerin müsste im Falle einer polizeilichen Überprüfung damit rechnen, wenn auch kurzfristig, inhaftiert zu werden und dass sie im Falle eines Ermittlungsverfahrens wegen illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG keinen Nachweis darüber führen könnte, dass die Abschiebung tatsächlich ausgesetzt ist (vgl. Hessischer VGH, Beschluss vom 30. März 2006 – 3 TG 556/06 –, juris Rn. 7). Dies rechtfertigt eine faktische Zustandsregelung schon im Eilverfahren, womit auch ein Anordnungsgrund gegeben ist.

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Denn eine Abschiebung der Antragstellerin ist derzeit aus tatsächlichen, bzw. rechtlichen Gründen unmöglich.

Die tatsächliche Hinnahme eines Aufenthaltes außerhalb einer förmlichen Duldung ist durch das AufenthG grundsätzlich nicht vorgesehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. März 2000 - 1 C 23/99 - EZAR 2000, 225; Hessischer VGH, Beschluss vom 30. März 2006 – 3 TG 556/06 –, juris Rn. 3). Die Ausreisepflicht der Antragstellerin ist daher entweder zu vollziehen oder aber auszusetzen. Die Antragstellerin verfügt gegenwärtig über keine Passpapiere, sodass eine Abschiebung schon aus tatsächlichen Gründen nicht durchgeführt werden kann. Ab dem 5. November 2013 greift zudem § 3 Abs. 2 MuSchG zu Gunsten der Antragstellerin ein. Nach § 3 Abs. 2 MuSchG dürfen werdende Mütter 6 Wochen vor der Entbindung grundsätzlich nicht mehr beschäftigt werden; das Beschäftigungsverbot dauert in der Regel bis 8 Wochen nach der Entbindung (vgl. § 6 Abs. 1 MuSchG). Die Vorschriften beruhen auf der allgemeinen Erkenntnis, dass im Falle einer erheblichen physischen oder psychischen Belastung der Schwangeren in dieser Zeit Gefahren für Mutter und Kind nicht von der Hand zu weisen sind. Diese gesetzgeberische Wertung zieht in aller Regel auch für Abschiebungen eine zeitliche Grenze (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 60a Rn. 146; wohl im Ergebnis auch Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage 2011, § 60a Rn. 25). Denn die psychische und physische Belastung durch eine zwangsweise Aufenthaltsbeendigung dürfte derjenigen, die beispielsweise eine Arbeit an einem Büroarbeitsplatz mit sich bringt, mindestens gleichkommen. Insofern besteht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass eine Schwangere während der Mutterschutzfristen nicht gefahrlos abgeschoben werden kann (vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 29. Januar 2013, -11 B 37/13, - juris). Da der voraussichtliche Entbindungstermin der 17. Dezember 2013 ist, beginnt die Mutterschutzfrist nach § 3 Abs. 2 MuSchG am 5. November 2013 und endet in der Regel 8 Wochen nach der Entbindung (§ 6 Abs. 1 MuSchG).

Der Antragsgegner ist auch nicht durch § 15a Abs. 1 Satz 1 AufenthG an einer Erteilung einer Duldung vor Durchführung des Verteilungsverfahrens gehindert. Denn aufgrund der oben angeordneten aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Entscheidung nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG greift diese Sperre nicht. Die Zuständigkeit des Antragsgegners für die Erteilung der beantragten Duldung ergibt sich aus § 71 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 2 Nr. 1 AllgZustVO-Kom und § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG. Denn örtlich zuständige Ausländerbehörde ist diejenige, in deren Bezirk der Ausländer seinen "gewöhnlichen Aufenthalt" hat oder zuletzt hatte. Dieser befindet sich in L., bei dem Vater des ungeborenen Kindes und damit im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners.