Landgericht Göttingen
Beschl. v. 17.09.2019, Az.: 12 O 3/18
Aufklärung; Episiotomie; Dammschnitt; Geburt; Hebamme; Arzt
Bibliographie
- Gericht
- LG Göttingen
- Datum
- 17.09.2019
- Aktenzeichen
- 12 O 3/18
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 69590
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 630e BGB
- § 630d BGB
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Durchführung einer Episiotomie stellt auch im Rahmen einer Geburt einen aufklärungspflichtigen Eingriff dar (entgegen OLG Braunschweig, Urteil vom 26.11.1998 - 1 U 31/98). Adressat der Aufklärungspflicht ist im Falle der Anwesenheit von Arzt und Hebamme beim Eingriff der Arzt, eine Haftung der den Eingriff durchführenden Hebamme für Aufklärungsversäumnisses scheidet in diesem Fall aus.
Gründe
I.
Die Wiedereröffnung der Verhandlung wird angeordnet (§ 156 Abs. 1 ZPO).
II.
Nach Beratung werden die Parteien auf Folgendes hingewiesen:
1.
Eine Haftung der Beklagten im Zusammenhang mit der Behandlung der Klägerin im Rahmen der Geburt ihres Kindes wegen eines Behandlungsfehlers besteht zur Überzeugung der Kammer aufgrund der insoweit in jeder Hinsicht überzeugenden Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen nicht.
[wird weiter ausgeführt]
2.
Zur Überzeugung der Kammer kommt allerdings eine Haftung des beklagten Krankenhauses (also der Beklagte zu 1)) sowie der den Geburtsvorgang als Ärztin begleitenden Beklagten zu 3) wegen Aufklärungsversäumnissen in Betracht, soweit die Beklagte zu 2) als Hebamme die streitbehaftete Episiotomie durchgeführt hat.
a)
Keine Haftung besteht indes, soweit die Klägerin eine fehlende Aufklärung über die Durchführung einer Kaiserschnittentbindung als Behandlungsalternative gerügt hat. Insoweit hat der gerichtlich bestellte Sachverständige in jeder Hinsicht überzeugend und im Übrigen im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 28.10. 2014 - VI ZR 125/13 = NJW RR 2015, 591) dargelegt, dass zu keinem Zeitpunkt im Rahmen des Geburtsvorgangs Umstände vorgelegen hätten, die eine Schnittentbindung als gleichwertige Behandlungsalternative haben angezeigt erscheinen lassen. Aufgrund dessen musste hierüber auch nicht aufgeklärt werden.
b)
Eine Haftung der Beklagten zu 2) als Hebamme scheidet, was die Frage einer hinreichenden Aufklärung angeht, darüber hinaus insgesamt aus. Zwar hat die Beklagte zu 2) unstreitig die Episiotomie durchgeführt, wozu sie als Hebamme auch befugt war, wie sich aus der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 07. September 2015 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (dort Anlage V 5., Nummer 5.5.1., Unterabschnitt B) ergibt.
Soweit die Entscheidung zur Episiotomie und die im Vorfeld zu leistende Aufklärung in Rede steht, scheidet eine Haftung der Hebamme im Rahmen der Geburtstätigkeit indes dann aus, wenn – wie vorliegend – auch ein Facharzt bei der Geburt tätig wird. Denn in einem solchen Fall hat allein der Facharzt, im vorliegend Fall also die Beklagte zu 3) die Verantwortung, ab der Übergabe an einen Facharzt ist die Hebamme von der Haftung befreit. Sie ist ab diesem Zeitpunkt dessen Gehilfin und hat den Anweisungen des Arztes Folge zu leisten (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 04.04.2017 - 26 U 88/16 = BeckRS 2017, 108821; BGH, Urteil vom 07.12.2014 – VR ZR 212//03). Allein den Arzt trifft daher die Haftung aus Vertrag und Delikt (OLG Hamm, Urteil vom 18.06.2003 – 3 U 207/02), er hat dabei auch allein dafür Sorge zu tragen, ob der durchgeführte Eingriff von der notwendigen Einwilligung der Patientin gedeckt ist, was nur bei einer hinreichenden Aufklärung der Fall ist.
c)
Die durchgeführte Episiotomie erweist sich zur Überzeugung der Kammer als rechtswidrig, weil es an der notwendigen Aufklärung der Patientin hierüber und damit an deren wirksamer Einwilligung fehlt.
Unstreitig ist seitens der Mitarbeiter der Beklagten zu 1) mit der Klägerin über die Möglichkeit der Durchführung eines Dammschnitts weder im Vorfeld zur eingeleiteten Geburt noch während des Geburtsvorgangs selbst gesprochen worden, eine Selbstbestimmungs- und/oder Risikoaufklärung hat mithin nicht stattgefunden, obwohl dies insbesondere aufgrund der Tatsache, dass die Klägerin ab dem 01.10.2016 im Hause der Beklagten zu 1) ambulant medizinisch betreut wurde, problemlos möglich gewesen wäre.
aa)
Einer solcher Aufklärung hat es zur Überzeugung der Kammer aus Rechtsgründen bedurft.
Bei der Episiotomie handelt es sich um einen invasiven Eingriff im Rahmen des Geburtsvorgangs, der zwar – wenn auch mit rückläufiger Tendenz – im Rahmen der vaginalen Geburt nach wie vor üblich ist, für den aber nach den überzeugenden Angaben des Sachverständigen in den seltensten Fällen, und so auch nicht im vorliegenden Fall, eine absolute Indikation besteht. Vielmehr ist umgekehrt der Nutzen der Episiotomie evidenzbasiert bereits nicht belegt und dieser Eingriff regelmäßig allenfalls relativ indiziert.
Es gebietet indes bereits das Selbstbestimmungsrecht der Patientin, diese über die geplante bzw. mögliche Durchführung eines solchen invasiven Eingriffs aufzuklären, da anderenfalls die Patientin zum bloßen Objekt ärztlichen Handelns gemacht würde. Die Klägerin war mithin zwingend über die beabsichtigte Behandlung aufzuklären (sogenannte Behandlungsaufklärung, vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl. 2014, Abschnitt C., Rn. 18 (Seite 256)). Dies gilt zur Überzeugung der Kammer sogar für eine Aufklärung im Rahmen des Geburtsvorgangs, auch wenn der Kammer bewusst ist, dass der Gebärenden in diesem Moment eine rationale Entscheidung schwerlich möglich sein wird. Es verbietet sich gleichwohl, die Gebärende über derartige, lediglich relativ indizierte Eingriffe völlig im Unklaren zu lassen. Dass insoweit im konkreten Fall unter der Geburt „besondere Umstände“ i.S.d.§ 630e Abs. 3 BGB vorgelegen haben, die bereits eine Behandlungsaufklärung ausnahmsweise entbehrlich gemacht haben, ist weder dargelegt noch ansonsten ersichtlich.
Eine Aufklärungspflicht besteht zur Überzeugung der Kammer aber auch deshalb, weil der Patientin regelmäßig die Wahl bleibt, einen solchen Eingriff abzulehnen, da, wie dargelegt, in den allermeisten Fällen lediglich eine relative Indikation für die Durchführung der Episiotomie besteht. So hat auch der gerichtlich bestellte Sachverständige bestätigt, dass in den von ihm geleiteten Kliniken dann, wenn werdende Mütter im Vorfeld zur Geburt die Durchführung einer Episiotomie ausdrücklich abgelehnt hätten, eine solche auch nicht durchgeführt worden sei. Mithin war die Klägerin auch über die weiteren Therapiemöglichkeiten, im vorliegenden Fall insbesondere über die Möglichkeit, die Durchführung einer Episiotomie zu widersprechen, aufzuklären.
Schlussendlich ist die Episiotomie auch nicht völlig risikofrei, erhöht sie doch nach den Angaben des Sachverständigen das Risiko des Eintritts eines Dammrisses IV. Grades, mithin gerade auch das Risiko, welches sich vorliegend verwirklicht hat; auch hierüber gilt es zur Überzeugung der Kammer aufzuklären, weil dieses Risiko nicht völlig unbedeutend und dem Eingriff immanent ist.
Einer Aufklärungspflicht steht in diesem Zusammenhang auch nicht entgegen, dass vorgeburtlich die Notwendigkeit der Durchführung einer Episiotomie nicht vorhergesagt werden kann. Dies ändert nichts daran, dass die Episiotomie nach wie vor in großem Umfang praktiziert wird (nach den Angaben des Sachverständigen in ca. 30-50 % der vaginalen Geburten) und daher vorgeburtlich keinesfalls einen lediglich hypothetischen Behandlungsverlauf darstellt.
bb)
Soweit die Auffassung vertreten wird, einer Aufklärung über die Episiotomie bedürfe es nicht, überzeugt dies in keiner Weise.
Dies gilt zunächst für die Argumentation, über die mit der Geburt einhergehenden Risiken sowie über die in diesem Zusammenhang durchzuführenden Behandlungsschritte sei deshalb nicht aufzuklären, weil es sich bei der Geburt um einen natürlichen Vorgang handele und die Gebärende deshalb mit der Durchführung einer Episiotomie rechnen müsse. Diese Argumentation geht bereits deshalb fehl, weil durch die Episiotomie gerade in diesen natürlichen Geburtsvorgang invasiv eingegriffen, nämlich mittels Scherenschnitt in nicht lediglich unerheblichem Umfang Gewebe durchtrennt wird.
Soweit in einem älteren Urteil des Oberlandesgerichts Braunschweig (vgl. OLG Braunschweig, Urteil vom 26.11.1998 – 1 U 31/98 = NJW-RR 2000, 238; diesem ohne nähere Begründung folgend OLG Bamberg, VersR 2009, 259 f.) eine Aufklärungspflicht im Zusammenhang mit der Episiotomie verneint wird, verhält sich dieses Urteil ausdrücklich nur zur Aufklärung über „mögliche gesundheitliche Folgen eines Dammschnittes“ und steht aufgrund dessen der Auffassung der Kammer, dass eine Aufklärung (auch) über Art und Ablauf des Eingriffs zu erfolgen hat, bereits nicht entgegen; das vorgenannte Urteil kann aber auch im Übrigen nicht überzeugen, sondern widerspricht aus Sicht der Kammer eklatant dem zwischenzeitlich gesetzlich verankerten Leitprinzip (vgl. § 630e BGB) eines Patienten, der durch eine hinreichende ärztliche Aufklärung eine selbstbestimmte Entscheidung treffen kann. Denn der Dammschnitt ist aus Sicht der Kammer keinesfalls eine allein „dem Arzt überlassene Behandlungsmethode“, die dazu führt, dass „das Risiko von der …[Patientin] als notwendige Folge einer vaginalen Geburt zu tragen“ ist (so aber OLG Braunschweig a.a.O.). Vielmehr handelt es sich bei der Episiotomie nur um eine mögliche Behandlung mit regelhaft lediglich relativer Indikation, die mithin regelmäßig nicht zwingend erforderlich ist, sodass die Entscheidung zur Durchführung der selbstbestimmt aufgeklärten Patientin zu überlassen ist.
Aufgrund dessen kann für die Kammer keinerlei Zweifel bestehen, dass Patientinnen im Rahmen der vorgeburtlichen Behandlung über die Möglichkeit, dass im Rahmen des Geburtsvorgangs ggf. eine Episiotomie durchgeführt werden könnte, ebenso aufzuklären sind wie darüber, dass ein solcher Eingriff mit Risiken verbunden und in den allermeisten Fällen nicht zwingend geboten ist, weil die Geburt in gleicher Weise auch ohne Dammschnitt und hierbei ggf. mittels natürlich eintretendem Dammriss von statten geht.
Einer Haftung der Beklagten zu 1) und 3) steht dabei auch nicht der von ihnen erhobene Einwand der hypothetischen Einwilligung entgegen, da die Klägerin aus Sicht der Kammer einen Entscheidungskonflikt in jeder Hinsicht plausibel gemacht hat.
cc)
Allerdings erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt zweifelhaft, ob den Mitarbeitern der Beklagten zu 1) bzw. der Beklagten zu 3) eine schuldhafte Gesundheitsbeeinträchtigung der Klägerin vorzuwerfen ist.
Der Sachverständige hat insoweit angegeben, dass nach der „landläufigen Meinung“ und auch der geübten Praxis die Vornahme einer Episiotomie einen Standardeingriff bei Geburten darstelle, mit dem eine Schwangere bzw. Gebärende rechnen müsse. Die Verwendung geburtshilflicher Aufklärungsformulare zur Spontangeburt und damit auch zur Möglichkeit einer Episiotomie seien unüblich. Entsprechende Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (AWMV 2008) stärkten aus seiner Sicht die Auffassung, dass bei unauffälligem Verlauf einer Spontangeburt ohne Erkennbarkeit konkreter Risiken eine Verpflichtung zu rein vorsorglicher Aufklärung zumindest ärztlicherseits nicht gesehen werde.
Wollte man dieser – zur Überzeugung der Kammer aus Rechtsgründen zu beanstandenden – Auffassung folgen, spricht trotz des bei Rechtsirrtümern anzulegenden strengen Maßstabs einiges dafür, dass den Beklagten zu 1) bzw. der Beklagten zu 3) die Versäumung der Aufklärung der Klägerin zumindest nicht vorzuwerfen ist, dies insbesondere auch vor dem Hintergrund der Entscheidung des Oberlandesgerichts Braunschweig (s.o.), zumal zu diesem Problemfeld offenkundig keine neuere Rechtsprechung existiert.
Die durch den Sachverständigen geäußerte Auffassung erscheint der Kammer allerdings nicht zweifelsfrei, sodass sich die Kammer entschlossen hat, insoweit ergänzend Beweis durch Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zu erheben. Der Kammer ist gerichtsbekannt, dass schriftliche Aufklärungsbögen über geburtshilfliche Maßnahmen sowohl von Diomed als auch von proCompliance zumindest seit dem Jahr 2000 existieren, in denen explizit auch über den Dammschnitt (und im Übrigen auch über die Geburt mittels Zange und Saugglocke) als geburtshilfliche Maßnahme aufgeklärt wird. Die Existenz solcher schriftlichen Aufklärungsbögen, die mutmaßlich nur dann aufgelegt werden, wenn insoweit eine rechtlich/medizinische Notwendigkeit gesehen und eine wirtschaftliche Rentabilität erwartet wird, lassen zumindest Zweifel aufkommen, ob tatsächlich eine einheitliche ärztliche Übung dahingehend besteht, über die Möglichkeit der Durchführung eines Dammschnitts im Vorfeld einer Geburt bzw. im Rahmen des Geburtsvorgangs vor Durchführung der Maßnahme (jedenfalls im Sinne einer erläuternden Eingriffsaufklärung) nicht aufzuklären. Die Kammer will sich daher durch Einholung eines weiteren Gutachtens ein umfassenderes Bild von der Aufklärungspraxis in deutschen Kliniken verschaffen.
III.
Es soll aufgrund dessen Beweis erhoben werden durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens zu folgenden Fragen:
[wird weiter ausgeführt]