Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 05.02.2014, Az.: 1 Ws 340/13
Voraussetzungen für eine Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bei nicht mehr als schwer einzustufender seelischer Abartigkeit
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 05.02.2014
- Aktenzeichen
- 1 Ws 340/13
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 16256
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2014:0205.1WS340.13.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 20.09.2013
Rechtsgrundlage
- § 20 StGB
Fundstelle
- RPsych (R&P) 2014, 171
Amtlicher Leitsatz
1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die wegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit angeordnet wurde, ist gemäß § 67d Abs. 6 S. 1 Var. 1 StGB bereits dann für erledigt zu erklären, wenn zwar eine andere seelische Abartigkeit (hier: Pädophilie) vorliegt, diese jedoch nicht mehr als schwer einzustufen ist.
2. Straftaten gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB sind schon wegen der Regelung des § 183 Abs. 4 Nr. 2 StGB nicht stets als erhebliche, für die Allgemeinheit gefährliche Straftaten anzusehen. Die Gefahr schwerwiegender Sexualdelikte besteht aber dann, wenn nach den Umständen des Einzelfalles zu besorgen ist, dass der Täter aktiv auf Kinder zugehen und Körperkontakt suchen wird.
Tenor:
Die sofortige Beschwerde des Untergebrachten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig vom 20. September 2013 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.
Gründe
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
I.
Durch Urteil des Landgerichts Braunschweig - Jugendkammer - vom 28. September 2009 (2 Kls 27/09) - rechtskräftig seit 6. Oktober 2009 - wurde der Beschwerdeführer wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 12 Fällen (§ 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zugleich ordnete die Kammer gemäß § 63 StGB seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Die Unterbringung wird seit Rechtskraft des Urteils, mithin seit 6. Oktober 2009, vollzogen; sie wird seither im AWO Psychiatriezentrum K. vollstreckt.
Nach den Urteilsfeststellungen betreute der Untergebrachte als Jugendtrainer die Mädchenfußballmannschaft des MTV W. Im April 2009 forderte er die am 27. Februar 1999 geborene N L auf, ihm in den Jugendraum des MTV W zu folgen. Dort verriegelte er die Tür von innen, ließ den Schlüssel allerdings stecken. Sodann legte sich auf das dort vorhandene Reisebett, ließ die Hose herunter und zog sich ein Kondom über das bereits erigierte Glied. Danach setze er einen Hütchenvibrator auf das Glied und befriedigte sich selbst bis zum Samenerguß. Dabei sagte er zu der 10-jährigen Geschädigten "Kannst ja mal anfassen, der tut dir nichts, komm mal her, probier das auch mal". Die Geschädigte kam dieser Aufforderung indes nicht nach (Tat Nr. 1).
Zu einem späteren Zeitpunkt verriegelte der Beschwerdeführer den Jugendraum des MTV W erneut von innen, ließ ebenfalls den Schlüssel stecken, legte sich wiederum auf das Reisebett und rasierte sich in Anwesenheit der Geschädigten mit einem elektrischen Rasierer seine Schamhaare. Auch dabei war sein Geschlechtsteil erigiert. Er onanierte aber erst, als die Geschädigte den Raum wieder verlassen hatte (Taten Nr. 2 bis Nr. 4). Der soeben beschriebene Vorgang wiederholte sich schließlich in weiteren 8 Fällen, wobei der Untergebrachte in diesen Fällen bei der Rasur statt eines elektrischen Rasierers einen Nassrasierer und Schaum verwendete (Taten Nr. 5 bis Nr. 12).
Die durch die Sachverständige S vom Psychiatriezentrum K beratene Kammer nahm eine krankhafte psychische Störung (Pädophilie - ICD-10: F 65.4) an, die bei Tatbegehung zu einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit geführt habe. Das Hemmungsvermögen des Untergebrachten sei jeweils erheblich vermindert gewesen. Er habe in der Vergangenheit geradezu suchtartig kinderpornographisches Material aus dem Internet heruntergeladen. Auch sei es zu einer zunehmenden gedanklichen Einengung des Verurteilten gekommen, dessen sexuelle Fantasien sich "zu 90 Prozent" auf Kinder bezogen hätten.
Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) sei geboten, weil ohne Behandlung eine höhere Wahrscheinlichkeit bestehe, dass es zu erheblichen Straftaten komme. Der Untergebrachte habe gezielt das Vertrauen der Geschädigten ausgenutzt, sie in den Jugendraum gelockt und das Mädchen bei der ersten Tat auch aktiv zur Mitwirkung an den sexuellen Handlungen aufgefordert. Er habe bisher keine alternativen Bewältigungsstrategien erlernt, so dass Straftaten zu befürchten seien, bei denen er aktiv auf seine Opfer zugehen und Körperkontakt suchen werde. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Urteilsgründe (VH I Bl. 2 ff.) verwiesen.
Vor der verfahrensgegenständlichen Verurteilung war der Untergebrachte bereits am 3. Juli 2007 vom Amtsgericht W wegen Erwerbs und Besitzes kinderpornographischer Schriften mit einer Bewährungsstrafe belegt worden, weil er Bild- und Videodateien, die sexuelle Handlungen an Kindern, darunter auch an Kleinkindern, zeigten, in einem Umfang von 21,9 Gigabyte aus dem Internet heruntergeladen und die Dateien auf seinem Computer gespeichert hatte.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat die große Strafvollstreckungskammer gemäß § 67e StGB die Fortdauer der Unterbringung angeordnet. Der Beschluss wurde dem Untergebrachten am 4. Oktober 2013 zugestellt. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Untergebrachten, die am 9. Oktober 2013 beim Landgericht Braunschweig eingegangen ist. Die Unterbringung sei - so das Beschwerdevorbringen - für erledigt zu erklären, weil nicht mehr von einer schweren anderen seelischen Abartigkeit i.S.d. § 20 StGB ausgegangen werden könne. Die Erkrankung des Beschwerdeführers erfülle das Eingangskriterium nicht mehr, weil er im Juli 2013 das Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter mit "summa cum laude" abgeschlossen und einen Rückfallvermeidungsplan entwickelt habe. Aus diesem Grund sei jedenfalls aktuell auch nicht mehr anzunehmen, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen werde. Einer möglicherweise noch bestehenden Restgefährlichkeit könne durch Weisungen, die dem Beschwerdeführer bei einer Maßregelaussetzung erteilt werden könnten, begegnet werden. Wegen der weiteren Einzelheiten der Beschwerdebegründung wird auf VH III Bl. 161 f., Bl. 164 ff. und Bl. 230 ff. verwiesen.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt die Verwerfung der sofortigen Beschwerde.
Der Senat hat zur Fortdauerfrage das Gutachten des Sachverständigen Dr. med. R (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) eingeholt und den Sachverständigen dazu mündlich angehört. Der Sachverständige hat die Fortdauer der Maßregel empfohlen.
II.
Die gemäß §§ 463 Abs. 3, Abs. 6, 454 Abs. 3 S. 1, 462 Abs. 3 S. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO) sofortige Beschwerde ist nicht begründet.
Die Strafvollstreckungskammer hat im Ergebnis zutreffend die Fortdauer der Unterbringung angeordnet und diese weder zur Bewährung ausgesetzt (§ 67d Abs. 2 StGB) noch für erledigt erklärt (§ 67d Abs. 6 StGB).
Der Beschwerdeführer ist wegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit nach § 63 StGB untergebracht worden. Eine solche Unterbringung ist gemäß § 67 d Abs. 6 S. 1 Var. 1 StGB bereits dann für erledigt zu erklären, wenn zwar eine andere seelische Abartigkeit (hier: Pädophilie) vorliegt, diese jedoch nicht mehr als schwer einzustufen ist (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 06.06.2007, 2 Ws 137/07, juris, Rn. 10; Stree/Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 67 d Rn. 16). Mit dieser Rechtsfrage hat sich das Gericht nach sachverständiger Beratung auseinanderzusetzen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 06.06.2007, 2 Ws 137/07, juris, Rn. 12). Außerdem muss das Gericht bei jeder Fortdauerentscheidung prüfen, ob weiterhin die Gefahr erheblicher Straftaten besteht (OLG Stuttgart, Beschluss vom 06.06.2007, 2 Ws 137/07, juris, Rn. 11). Dabei sind Straftaten gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB schon wegen der Regelung des § 183 Abs. 4 Nr. 2 StGB nicht stets als erhebliche, für die Allgemeinheit gefährliche Straftaten anzusehen. Die Gefahr schwerwiegender Sexualdelikte besteht aber dann, wenn nach den Umständen des Einzelfalles zu besorgen ist, dass der Täter aktiv auf Kinder zugehen und Körperkontakt suchen werde (BGH, Beschluss vom 22.08.2007, 2 StR 263/07, juris, Rn. 5). Obgleich der Beschwerdeführer im Juli 2013 das Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter erfolgreich abgeschlossen und dabei einen Rückfallvermeidungsplan entwickelt hat, fehlt im angefochtenen Beschluss eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Pädophilie weiterhin als schwer einzuordnen ist, welche konkreten Straftaten noch drohen und ob diese erheblich i.S.d. § 63 StGB sind.
Der vom Senat beauftragte Sachverständige hat überzeugend und nachvollziehbar ausgeführt, dass der Untergebrachte noch immer an einer Pädophilie leide, die aus medizinischer Sicht als schwer anzusehen sei: Dass der Beschwerdeführer an einer schwerwiegenden Pädophilie erkrankt sei, zeige sich nicht nur an den Anlasstaten sondern auch an der vom Amtsgericht Wolfenbüttel wegen Erwerbs und Besitzes kinderpornographischer Schriften verhängten Vorstrafe. Der Untergebrachte sei im Frühjahr 2009 trotz der Vorstrafe nicht in der Lage gewesen, seine paraphilen Impulse zu kontrollieren. Er habe vielmehr, wie die Sachverständige S im Erkenntnisverfahren zutreffend ausgeführt habe, geradezu suchtartig kinderpornografisches Material aus dem Internet heruntergeladen. Damals hätten seine sexuellen Fantasien, wie er gegenüber der Sachverständigen S selbst eingeräumt habe, "zu 90 % auf Kinder gezielt". Bereits durch die Anwesenheit der minderjährigen Geschädigten habe der Untergebrachte, wie er nunmehr gegenüber dem Sachverständigen Dr. R bestätigt habe, eine Erektion erlitten.
Eine signifikante Intensitätsverringerung der Pädophilie sei nicht erkennbar. Der Beschwerdeführer habe eingeräumt, dass er weiterhin in zumindest zwei von 10 Fällen bei der Selbstbefriedigung an pädosexuelle Inhalte denke. Ausdruck des fortbestehenden Schweregrades der Erkrankung seien zudem die kognitiven Verzerrungen, denen der Untergebrachte im Umgang mit Opfern von Sexualdelikten unterliege. So sei es befremdlich, dass er bei der Nachricht vom Missbrauch und späteren Tod der minderjährigen Kim Kerkow aus Varel nicht Wut und Trauer sondern, wie er im Rahmen der Exploration erläutert habe, Liebe verspürt habe. Kim Kerkow scheine das ideale Liebesobjekt des Untergebrachten zu sein, weil sie wegen ihres Todes immer minderjährig bleiben werde. Auch im Umgang mit der Leidensgeschichte der im Alter von 10 Jahren entführten und danach über Jahre missbrauchten Natascha Kampusch lägen erhebliche kognitive Verzerrungen vor. Der Untergebrachte, der sich den Film von dem Verbrechen gekauft und angesehen habe, habe gegenüber dem Sachverständigen nicht die unglaublich lange und traurige Leidensgeschichte in den Vordergrund gestellt. Er habe vielmehr ausgeführt, dass Natascha Kampusch den Täter Wolfgang Priklopil, mit dem sie eine Beziehung gehabt habe, geführt und besiegt habe, weshalb sie aus seiner Sicht kein Opfer sei.
Es besteht nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. R zudem eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer etwaigen Entlassung Sexualdelikte gegenüber Kindern begehen werde, die mit aktivem Körperkontakt verbunden sind und sich nicht in bloßem Exhibitionismus erschöpfen. Der Sachverständige hat hierzu ausgeführt, dass er diese Prognose zunächst auf die Tat Nr. 1 der Verurteilung vom 28. September 2009 stütze. Es sei davon auszugehen, dass es bei dieser Tat zu Körperkontakt gekommen wäre, wenn die Geschädigte der Aufforderung nachgekommen wäre. Die Annahme einer Gefahr von Sexualstraftaten mit körperlichen Übergriffen zeige sich des Weiteren an dem Kontakt, den der Beschwerdeführer vor seiner Inhaftierung im Jahr 2009 mit einem minderjährigen Opfer des Attentates von Winnenden aufgenommen habe. Der Untergebrachte habe das Mädchen zu sich in die Wohnung eingeladen und damit offenbar aktiv ein "hands on Delikt" vorbereitet.
Auch der erfolgreiche Abschluss des Behandlungsprogramms für Sexualstraftäter lasse die Gefährlichkeit des Untergebrachten nicht entfallen. Der Beschwerdeführer sei in der Gruppentherapie zwar durchaus bemüht gewesen, die Gefährlichkeit bestehe aber dennoch fort, weil er immer noch keine tragfähige Beziehung zu einem Therapeuten aufgebaut habe und seine Taten mit der Begründung, er habe doch "nichts Schlimmes" gemacht, verharmlose.
Dass der Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten keine sicheren Hinweise für "hands on Delikte" angenommen hat, steht der Gefahrenprognose nicht entgegen. Dr. R hat hiermit, wie er im Anhörungstermin klargestellt hat, zum Ausdruck bringen wollen, dass es auf der Handlungsebene solche Verhaltensweisen bisher nicht gegeben habe. Die Phantasie des Beschwerdeführers lasse jedoch den Schluss zu, dass er vor Körperkontakt mit höherer Wahrscheinlichkeit nicht zurückschrecken werde, wenn sich nach erfolgreicher Kontaktaufnahme zu einem minderjährigen Kind die Möglichkeit hierzu biete.
Der Senat folgt diesen nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. R nach Überprüfung. Dass die Gefährlichkeit noch immer gegeben ist, belegen auch die Angaben des Stationsarztes D-R. Nach dessen Angaben hat der Untergebrachte insbesondere immer noch nicht gelernt, dass er jedweden Kontakt zu jungen Mädchen konsequent meiden müsse. Der Beschwerdeführer habe aktuell Kontakt zu einem Frauen- und Mädchenchor aufgenommen und vom Chor ein Foto mit u.a. minderjährigen Mädchen übermittelt bekommen.
Eine Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung gemäß § 67 d Abs. 2 StGB kommt aus den genannten Gründen nicht in Betracht. Der Beschwerdeführer wird zuvor erfolgreich gelockert werden müssen.
Die Fortdauer der Unterbringung ist schließlich noch nicht unverhältnismäßig im Sinne des § 67 d Abs. 6 S. 1 2. Variante StGB. Zwar erhöht sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs bei zunehmender Dauer der Unterbringung (vgl. BVerfG, NJW 1995, 3048 [BVerfG 06.04.1995 - 2 BvR 1087/94]). Die gebotene Abwägung führt im konkreten Fall allerdings dazu, dass dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren durch den Untergebrachten drohenden Straftaten weiterhin deutlich mehr Gewicht beizumessen ist als dessen Freiheitsanspruch.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
IV.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass es geboten ist, den Beschwerdeführer, der in seinem eigenen Interesse dringend eine tragfähige Beziehung zu einem Therapeuten wird aufbauen müssen, sukzessive in Lockerungen zu erproben. Dies ist bereits jetzt zu verantworten, weil der Sachverständige Dr. R nachvollziehbar ausgeführt hat, dass das bisherige Verhalten des Untergebrachten keinen Grund für die Annahme von Spontantaten biete. Es sei vielmehr von einer gewissen Vorlaufzeit auszugehen, weshalb die Strafvollstreckungskammer die Möglichkeit habe, auf prognostisch ungünstige Verhaltensänderungen rechtzeitig zu reagieren.