Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 22.06.2017, Az.: 2 A 270/15
Erstattung; Jugendhilfe; gemeinsame Wohnform; sonstige Wohnform; örtliche Zuständigkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 22.06.2017
- Aktenzeichen
- 2 A 270/15
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2017, 53612
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 19 Abs 1 S 1 SGB 8
- § 86a Abs 2 SGB 8
- § 86b Abs 1 SGB 8
- § 86d SGB 8
- § 89c Abs 1 S 2 SGB 8
- § 102 Abs 1 SGB 10
- § 105 Abs 1 S 1 SGB 10
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Erstattung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, die sie der Hilfeempfängerin I. J. zur Betreuung ihres Sohns K. J. gewährt hat.
Die am xx.xx.1989 geborene I. J. leidet unter einer wesentlichen seelischen Behinderung. In der Zeit vom 15.02.2008 bis zum 14.07.2012 wohnte sie in C.. Mindestens seit dem 19.10.2011 erhielt sie hier durch den Beklagten Eingliederungshilfe in Form ambulanter Betreuung.
Zum 15.07.2012 bezog Frau J. nach Abschluss eines Wohn- und Betreuungsvertrags mit der Arbeiterwohlfahrt B. gGmbH (AWO) ein Zimmer in einer von der AWO betriebenen „Trialog Therapeutischen Wohngemeinschaft“. Auch dort wurde sie ambulant betreut. Wegen des Inhalts des Vertrags wird auf Blatt 61 ff der Beiakte 001 Bezug genommen. Von diesem Tag an erhielt sie von der Klägerin im Auftrag des Landkreises B. Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - 2. Buch (SGB II). Dabei wurden unter anderem die mit der AWO vereinbarten Unterkunftskosten geleistet. Daneben gewährte der Beklagte ihr weiterhin Eingliederungshilfe gemäß §§ 53 ff Sozialgesetzbuch - 12. Buch (SGB XII) in Form der von der AWO geleisteten ambulanten Betreuung im Umfang von 3 Wochenstunden.
Ab dem 01.02.2013 wohnte Frau J. in einer Einrichtung der Jugendhilfe Am R., wo am 11.02.2013 ihr Sohn K. geboren wurde. Von diesem Zeitpunkt an wurde ihr für die Betreuung ihres Sohns Hilfe gemäß § 19 des Sozialgesetzbuches - 8. Buch (SGB VIII) durch die Klägerin gewährt. Hierzu erging nachträglich ein Bescheid vom 17.05.2013. Die Kosten für die Unterbringung der Mutter leistete die Klägerin durch die Gewährung von Eingliederungshilfe nach dem SGB XII.
Mit Schreiben vom 21.05.2013 machte die Klägerin gegenüber dem Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch für die für K. J. gewährten Leistungen ab dem 11.02.2013 geltend. Zur Begründung führte sie aus, sie sei zwar für die Gewährung der Jugendhilfe zuständig geworden. Der Beklagte sei jedoch erstattungspflichtig, da Frau J. vor ihrem Eintritt in die therapeutische Wohngruppe der AWO in C. gelebt habe. Der Beklagte lehnte die Kostenerstattung mit der Begründung ab, der Umzug nach B. sei ein regulärer Wohnsitzwechsel gewesen. Vorher habe Frau J. lediglich ambulante Betreuung erhalten. Mit dem Umzug sei es nur zu einem Anbieter- bzw. Betreuerwechsel gekommen. Mit Schreiben vom 30.06.2015 machte die Klägerin den Anspruch nochmals geltend. Sie vertrat nun die Auffassung, sie sei von vornherein nicht für die Gewährung der Jugendhilfe zuständig gewesen, sodass der Beklagte auf der Grundlage von § 105 SGB - 10. Buch (SGB X) zur Kostenerstattung seit dem Zeitpunkt verpflichtet sei, zu dem er Kenntnis von dem Hilfefall gehabt habe. Dies sei der 21.05.2013 gewesen. Auch dieses Erstattungsbegehren lehnte der Beklagte ab.
Am 19.11.2015 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie wiederholt ihre Auffassung, der Beklagte sei für die Gewährung der Leistung zuständig gewesen, weil Frau J. vor der Gewährung von Jugendhilfe und dem Aufenthalt in der Einrichtung der AWO ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Zuständigkeitsbereich gehabt habe. Vom 21.05.2013 bis zum 31.10.2015 seien Aufwendungen von 75.355,23 Euro entstanden, auf die Kindergeld in Höhe von 5.401,29 Euro angerechnet worden sei.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, Leistungen der Jugendhilfe für die Zeit vom 21.05.2013 bis zum 31.10.2015 in Höhe von 69.933,94 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er trägt vor, die Klägerin habe ihre Zuständigkeit zu Recht für gegeben erachtet. Eine Erstattung der Leistungen komme nicht in Betracht, weil der zwischen Frau J. und der AWO privatrechtlich geschlossene Wohn- und Betreuungsvertrag den Einrichtungsbegriff nach dem SGB VIII nicht erfülle. Eine organisatorische, fachliche und personelle Infrastruktur, die eine intensivere Hilfeform präge, sei dort nicht vorhanden gewesen. Es habe sich um eine privat angemietete Wohnung gehandelt, in der lediglich eine ambulante Leistung gewährt worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den Verwaltungsvorgang der Klägerin Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten für den Zeitraum 21.05.2013 bis 30.06.2015 einen Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X (1.). Für den Zeitraum vom 30.06. bis zum 31.10.2015 hat sie einen Erstattungsanspruch aus §§ 86d i.V.m. 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII (2.).
1. Die Regelungen über die Erstattungsansprüche von Sozialleistungsträgern untereinander (§§ 102 - 114 SGB X) sind neben den in §§ 89 ff. SGB VIII enthaltenen Erstattungsvorschriften anwendbar (vgl. § 37 Satz 1 SGB I; BVerwG, Urteil vom 02.06.2005 - 5 C 30/04 -, NVwZ 2005, 1196; mit ausführlicher Begründung Urteil der Kammer vom 28.08.2002 - 2 A 2026/01 -; Schellhorn/Fischer/Mann/Kern, SGB VIII, 5. Auflage 2017, § 89 Rn. 12; Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, vor § 89 Rn. 12 ff.). Hat ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 102 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X erstattungspflichtig, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Dies gilt gemäß § 105 Abs. 3 SGB X von dem Zeitpunkt ab, von dem an dem zuständigen Leistungsträger bekannt war, dass die Voraussetzungen für seine Leistungspflicht vorlagen. Die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 SGB X liegen hier im Zeitraum 21.05.2013 bis 30.06.2015 vor.
Ein Fall des § 102 Abs. 1 SGB X ist nicht gegeben. Nach dieser Norm ist der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger dann erstattungspflichtig, wenn ein (anderer) Leistungsträger aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat. Vorläufige Sozialleistungen hat die Klägerin hier nicht erbracht. Vielmehr ging sie nach Aktenlage zunächst davon aus, dass sie selbst der örtlich zuständige Jugendhilfeträger sei. Diese Annahme traf jedoch nicht zu; vielmehr war der Beklagte für die Gewährung der Jugendhilfe zuständig.
Die Klägerin hat der Hilfeempfängerin I. J. für die Betreuung ihres Sohns K. Leistungen gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gewährt. Danach sollen Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen. Das SGB VIII enthält mit § 86b eine Sonderregelung für die örtliche Zuständigkeit für Leistungen in gemeinsamen Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder. Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist für derartige Leistungen der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich der nach § 19 Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. § 86a Abs. 2 SGB VIII gilt entsprechend (§ 86b Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Da Frau J. leistungsberechtigt war, kommt es auf ihren gewöhnlichen Aufenthalt vor Beginn der Leistung an. Hält sich der Hilfeempfänger vor dem Leistungsbeginn in einer Einrichtung oder sonstigen Wohnform auf, die der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug dient, so richtet sich die örtliche Zuständigkeit infolge der entsprechenden Anwendung des § 86a Abs. 2 SGB VIII nach dem gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in eine Einrichtung oder sonstige Wohnform. Bei mehrfach aufeinander folgenden Begründungen des gewöhnlichen Aufenthalts in Einrichtungen oder sonstigen Wohnformen kommt es deshalb auf den gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in die erste Einrichtung beziehungsweise Wohnform an (BT-Drs. 12/2866 vom 21.04.1992, S. 22; Schellhorn und andere, a.a.O., § 86a Rn. 6; Wiesner, a.a.O., § 86a Rn. 8 und § 89e Rn. 6a). Der Regelungszweck des § 86a Abs. 2 SGB VIII liegt im Schutz von Orten, in deren Bereich Einrichtungen mit längerer Verweildauer gelegen sind. Diese sollen nicht mit ungerechtfertigt hohen Kosten belastet werden (sog. „Schutz der Einrichtungsorte“). Anders als in § 89e SGB VIII, der den Schutz der Einrichtungsorte im Fall des Wechsels der Zuständigkeit durch eine Erstattungsregelung gewährleistet, wird dieser Schutz im Fall der Gewährung von Leistungen nach § 19 SGB VIII bereits durch die Zuständigkeitsnormen (§ 86b Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 86a Abs. 2 SGB VIII) garantiert. Die Erstattung erfolgt in diesem Fall über § 105 SGB X.
Bevor Frau J. die Hilfe gemäß § 19 SGB VIII für die Unterbringung ihres Sohns in der Mutter-Kind-Einrichtung der Jugendhilfe Am R. gewährt wurde, lebte sie in einer „Trialog Therapeutischen Wohngemeinschaft“ der AWO. Zuvor hatte sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Beklagten. Bei der Wohngemeinschaft handelt es sich um eine sonstige Wohnform im Sinne von § 86a Abs. 2 SGB VIII, die auch der Betreuung dient, sodass die örtliche Zuständigkeit beim Beklagten liegt. Im Interesse eines weitgehenden Schutzes solcher kommunaler Gebietskörperschaften, in deren Zuständigkeitsbereich Einrichtungen mit längerer Aufenthaltsdauer gelegen sind, erfasst die Vorschrift ein weites Spektrum von Einrichtungen. Zu den in Betracht kommenden Einrichtungen zählen neben Heimen und sonstigen Wohnformen wie Kinderdörfern, Wohngruppen etc. auch Einrichtungen, in denen keine Leistungen der Jugendhilfe gewährt werden, wie Einrichtungen der Eingliederungshilfe, der Psychiatrie, Krankenhäuser, Frauenhäuser, Einrichtungen der Berufsausbildung und Einrichtungen des Jugend- und des Erwachsenenstrafvollzugs. Im Hinblick auf den Normzweck ist die Vorschrift weit auszulegen (Wiesner, a.a.O., § 86a Rn. 7). Voraussetzung ist, dass die Einrichtung oder sonstige Wohnform der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug dient und der Aufenthalt damit unmittelbar zusammenhängt, also nicht reinen Wohnzwecken dient (Schellhorn und andere, a.a.O., § 86a Rn. 6). Auch hinsichtlich der Aufenthaltszwecke darf die Abgrenzung nicht zu eng erfolgen, um nicht notwendige Hilfemaßnahmen der Jugendhilfe in Gefahr zu bringen. Insbesondere bei sonstigen Wohnformen ist der Rahmen weit zu ziehen. Deshalb können auch lediglich unterstützende Zielsetzungen von Selbsthilfeeinrichtungen als Erziehung, Betreuung oder Behandlung ausreichen. Es ist begrifflich nicht vorgegeben, dass die Hilfen durch qualifiziertes Fachpersonal erfolgen müssen und damit insbesondere der Begriff „Behandlung“ auf eine medizinische Behandlung beschränkt ist. Entscheidend ist, dass sich die Wohnform auf ein in sich schlüssiges Konzept stützt, das die genannten Aufenthaltszwecke verfolgt, und dass dessen Umsetzung gewährleistet ist. Des Weiteren kommt es darauf an, dass die betroffenen Personen ihren gewöhnlichen Aufenthalt an diesem Ort nicht im Rahmen eines regulären Umzugs begründet haben, sondern um eine der genannten Leistungen in Anspruch zu nehmen. Das Wohnen muss sich innerhalb des konzeptionellen Rahmens differenzierter Hilfeangebote vollziehen und die Gewährung dieser Hilfe muss im jeweiligen Bedarfsfall durch eine vorhandene Infrastruktur gewährleistet sein. Die konzeptionell vorgesehenen Wohnmöglichkeiten müssen daher im öffentlichen Interesse zur Befriedigung konkreter Bedarfe stetig vorgehalten werden und auswahloffen in Anspruch genommen werden können. Angesichts des notwendig institutionellen Charakters der Einrichtung reicht es nicht aus, dass der Hilfebedürftige privat eine Wohnung anmietet, um dort ambulante Leistungen in Anspruch zu nehmen (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.01.2008 - 12 A 2340/07 -, juris).
Diesen Anforderungen genügen die „Trialog Therapeutischen Wohngemeinschaften“ der AWO. Nach der Konzeption des Angebots (Beiakte 001, Blatt 155 ff.) sind Zielgruppe für die Therapeutischen Wohngemeinschaften erwachsene Menschen bis 60 Jahre, die aufgrund einer wesentlichen seelischen Behinderung eingeschränkt oder von einer solchen bedroht sind und vorübergehend oder auf längere Zeit Unterstützung bei einer selbständigen Lebensführung benötigen. Das Angebot richtet sich an Personen, die aufgrund ihrer Erkrankung unter anderem in der Ausübung ihrer sozialen Kompetenzen eingeschränkt sind und diese Fähigkeiten in einem geschützten Rahmen in einem kontinuierlichen, überschaubaren Umfeld wieder ausbauen möchten, sowie an Personen, die Unterstützung im häuslichen Bereich und bei der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft benötigen. Die ambulante Betreuung hat das Ziel, die Betroffenen darin zu unterstützen, sich eine möglichst selbständige Lebensführung zu erarbeiten. Dabei sollen die Möglichkeiten, am Leben in der Gesellschaft zu partizipieren, erweitert werden. Die Ziele für die einzelnen Betroffenen ergeben sich aus dem gemeinsam erarbeiteten Hilfeplan, der den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Klienten Rechnung trägt und kontinuierlich fortgeschrieben wird. Die hierfür benötigten Kompetenzen werden unter Hilfestellung von fachlich ausgebildeten, sozialtherapeutisch qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erlernt. Die Auseinandersetzung mit anderen Menschen im Zusammenleben einer Wohngemeinschaft ist ein besonders wichtiger Teil der zu erlernenden Alltagskompetenz, die auch zur weiteren gesellschaftlichen Integration der Betroffenen außerhalb der Wohngemeinschaft notwendig ist. Daher beinhalten die Leistungen der Mitarbeiter auch die Förderung der Konfliktfähigkeit, der Erweiterung der Frustrationstoleranzgrenze und des Kommunikationsverhaltens. Die Arbeit mit den Betroffenen erfolgt durch ein Bezugsmitarbeitersystem, das heißt mit Aufnahme in die ambulante Maßnahme erhält der Klient eine feste, verbindliche Bezugsperson, damit eine tragfähige kontinuierliche Arbeitsbeziehung entstehen kann. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen für Kriseninterventionen zur Verfügung.
Hieraus ergibt sich, dass die Wohnform und die in den Wohngemeinschaften gewährte Betreuung auf einem ganzheitlichen Konzept basieren, das Wohnform und ambulante Hilfeleistungen miteinander verzahnt. Zielsetzung des Konzepts ist das Training von sozialen Kompetenzen, das Ausüben einer angemessenen Tätigkeit, das Wahrnehmen einer angemessenen Freizeitgestaltung, der Aufbau und Erhalt von psychischer Stabilität und das Zusammenleben mit anderen Menschen. Die Möglichkeit, mit der AWO einen Vertrag über die Miete eines Zimmers abzuschließen, ist zwingend mit der Betreuung verknüpft, denn nach dem Wohn- und Betreuungsvertrag (Beiakte 001 Blatt 61, 66) wird eine Wohnmöglichkeit ohne die Unterstützung durch die ambulante Betreuung nicht gewährt. Sowohl die ambulante Betreuung als auch die speziell für seelisch behinderte Menschen vorgesehene Wohnform fördern somit die Zielsetzungen der „Trialog Therapeutischen Wohngemeinschaften“ und bedingen sich dadurch gegenseitig. Damit dient der Aufenthalt in einer solchen Wohngemeinschaft gerade nicht nur reinen Wohnzwecken und ist als sonstige Wohnform im Sinne des § 86a Abs. 2 SGB VIII zu verstehen, ohne dass es - entgegen der Auffassung des Beklagten - auf den zeitlichen Umfang der ambulanten Betreuung ankommt. Infolgedessen richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Hilfeempfängerin vor der Aufnahme in die Wohngemeinschaft und der Beklagte ist für die Gewährung der Hilfe zuständig.
Auch die Voraussetzungen des § 105 Abs. 3 SGB X liegen vor. Die Klägerin hat den Erstattungsanspruch mit Schreiben vom 21.05.2013 erstmals geltend gemacht.
2. Für die Zeit ab 30.06.2015 scheidet dagegen eine Erstattung gemäß § 105 SGB X aus, denn die Norm ist nur in Fällen anwendbar, in denen sich der Sozialleistungsträger im Zeitpunkt seiner Leistungsgewährung in Verkennung der Sach- oder Rechtslage für sachlich und örtlich zuständig gehalten hat. Dies war hier nur bis zum 30.06.2015 der Fall. An diesem Tag machte die Klägerin ihren Anspruch nochmals geltend, wobei sie nunmehr von einer Zuständigkeit des Beklagten ausging. Eine Erstattungspflicht des Beklagten gemäß § 102 SGB X für die Zeit danach scheidet ebenfalls aus. Sobald dem Leistungsträger seine Unzuständigkeit bekannt ist, sind weitere Leistungen nur nach § 102 SGB X erstattungsfähig, wenn sie aufgrund einer ausdrücklichen gesetzlichen Verpflichtung oder Ermächtigung als vorläufige Leistungen angesehen werden können (Von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 105 Rn. 10; Eschelbach/Nickel, Örtliche Zuständigkeit und Kostenerstattung in der Jugendhilfe, 2016, § 105 SGB X Rn. 10 und 19). Dies würde zum einen voraussetzen, dass die Leistung ausdrücklich als vorläufig erbracht worden wäre. Sie hätte daher im Bescheid deutlich als vorläufige Leistung dargestellt werden müssen (Von Wulffen/Schütze, a.a.O., § 102 Rn. 6; Eschelbach/Nickel, a.a.O., § 102 SGB X Rn. 8), was nicht der Fall war. Zum anderen ist § 102 SGB X gegenüber den Sonderregelungen in § 86d i.V.m. § 89c SGB VIII nachrangig.
Aus den zuletzt genannten Normen ergibt sich ein Erstattungsanspruch der Klägerin für die Zeit ab dem 30.06.2015. Steht die örtliche Zuständigkeit nicht fest oder wird der zuständige örtliche Träger nicht tätig, so ist der örtliche Träger vorläufig zum Tätigwerden verpflichtet, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche, der junge Volljährige oder bei Leistungen nach § 19 der Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält (§ 86d SGB VIII). Die Norm setzt somit voraus, dass die Zuständigkeit klärungsbedürftig ist, weil beispielsweise hierüber Streit zwischen zwei Leistungsträgern besteht, oder dass die Zuständigkeit zwar feststeht, der zuständige Träger jedoch nicht leistet. Sie bezweckt, ein lückenloses Zuständigkeitsnetz für Leistungen der Jugendhilfe zu schaffen und somit Nachteile für die Berechtigten zu verhindern. Sie überträgt dem örtlichen Träger die komplette Fallverantwortung, sodass dieser die Hilfe so zu leisten hat, als sei er selbst örtlich zuständig (Eschelbach/Nickel, a.a.O., § 86d SGB VIII Rn. 3 und 12). Ihre Voraussetzungen liegen hier vor, denn einerseits bestand Streit zwischen den Beteiligten über die örtliche Zuständigkeit, andererseits war der Beklagte tatsächlich örtlich zuständig, ohne jedoch zu leisten.
Gemäß § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86d aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach §§ 86, 86a und 86b begründet wird. Angesichts des Ziels des § 86d SGB VIII, den örtlichen Träger im Interesse des Hilfebedürftigen an einer möglichst schnellen Deckung seines Hilfebedarfs zur vorläufigen Leistung gesetzlich zu verpflichten, setzt eine Erstattung - anders als in § 102 SGB X - nicht voraus, dass die Vorläufigkeit der Leistung bei ihrer Gewährung ausdrücklich dargestellt wird. Da die Zuständigkeit des Beklagten nach dem Vorstehenden gemäß §§ 86b Abs. 1 Satz 2, 86a Abs. 2 SGB VIII begründet ist, ist er für die Zeit nach dem 30.06.2015 auf der Grundlage von § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII verpflichtet, der Klägerin die gemäß § 86d SGB VIII vorläufig erbrachten Leistungen zu erstatten.
Die Klägerin hat daher gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung der von ihr geltend gemachten Summe, deren Höhe nicht streitig ist.
Der Zinsanspruch ist auf der Grundlage von §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB begründet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht nach § 167 VwGO in Verbindung mit § 709 ZPO.