Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 01.03.2012, Az.: 2 A 493/11

Zulässigkeit des Nachbarschutzes gegen Befreiung von den Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
01.03.2012
Aktenzeichen
2 A 493/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 13974
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2012:0301.2A493.11.0A

Amtlicher Leitsatz

Nachbarschutz gegen Befreiung von den Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung ausnahmsweise gegeben

Tatbestand:

1

Der Kläger wendet sich gegen eine den Beigeladenen erteilte Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes 217/3 der Beklagten.

2

Unter dem 18. November 2010 beantragten die Beigeladenen durch den von ihnen beauftragten Architekten die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes 217/3 im Hinblick auf die Einhaltung der dort festgesetzten Baugrenzen. Dabei wurden für das von ihnen zur Bebauung vorgesehene Grundstück H. drei Varianten vorgelegt. Nach der hier allein streitigen Variante 1 sollen zwei separate Einfamilienhäuser errichtet werden, die von der Straße aus gesehen hintereinander angeordnet und baulich durch den gemeinsamen Garagentrakt miteinander verbunden sind. Die Zuwegung soll entlang der Nordgrenze des Grundstücks verlaufen. Das bereits auf dem Grundstück vorhandene Wohngebäude soll abgebrochen werden.

3

Das Baugrundstück und das Grundstück des Klägers (I. J.) liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplanes 217/3 der Beklagten, innerhalb des aus der I. im Norden, der von Nord nach Süd verlaufenden K. im Westen und der Straße L. im Süden sowie dem M. im Osten gebildeten Karree. Der M. liegt bereits außerhalb des Geltungsbereiches des Bebauungsplanes. Innerhalb dieses Karrees ist eine einseitige Straßenrandbebauung vorhanden und für die Grundstücke sind jeweils Baufenster festgesetzt. Das Grundstück der Beigeladenen liegt an der K.. Das Grundstück des Klägers liegt diesem östlich genau gegenüber, von der I. aus gesehen in zweiter Reihe und wird von Norden durch einen zu Letzterer führenden Stichweg erschlossen. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung war das alte Haus auf dem Grundstück der Beigeladenen bereits beseitigt und zunächst mit der Errichtung des der Straße zugewandten der beiden geplanten Gebäude begonnen worden. Dieses Gebäude hält die Baugrenzen im Wesentlichen ein. Das Grundstück des Klägers ist mit einem Einfamilienhaus innerhalb des Baufensters bebaut.

4

Der Kläger wurde, ebenso wie andere Nachbarn, an dem Verfahren beteiligt und zu den Planungen angehört. Er machte bereits mit Schreiben vom 4. November 2010 Einwendungen geltend. Bei der Realisierung der Variante 1 würden seine Interessen beeinträchtigt. Es werde ein Präzedenzfall geschaffen, indem erstmals gegen die zwingende Festsetzung des Bebauungsplanes verstoßen werde. Dem könnten weitere Verstöße folgen, die dann in der gleichen Weise legalisiert werden müssten. Dadurch würden wesentliche Festsetzungen des rechtsgültigen Bebauungsplanes außer Kraft gesetzt. Einer Bebauung des Grundstückes mit einem Einzelhaus unter Beachtung der übrigen Festsetzungen des Bebauungsplanes werde zugestimmt.

5

Die Angelegenheit wurde am 2. Dezember 2010 im Ausschuss für Stadtentwicklung und Umweltfragen der Beklagten erörtert. Dort wurde vorgetragen, das Grundstück liege im Bereich des Bebauungsplanes Nummer 217/3 "N. ", der ein reines Wohngebiet (WR) sowie eingeschossige Bauweise, eine Grundflächenzahl von 0,4 und eine Geschossflächenzahl von 0,4 und Baufenster festsetze. In der Vorlage der Stadtverwaltung heißt es, die Verdichtung sei auch aufgrund der vorhandenen Erschließung städtebaulich gewollt und vertretbar. Die festgesetzten Maße der baulichen Nutzung und die eingeschossige Bauweise würden eingehalten. Die Verwaltung plane, die Befreiung zu erteilen.

6

Die Beklagte erteilte den Befreiungsbescheid unter dem 10. Dezember 2010 für die Variante 1 (zwei Einfamilienhäuser), wobei das von der K. aus gesehen hintere Haus vollständig außerhalb des Baufensters errichtet werden soll. Die Befreiung wurde unter der Bedingung erteilt, dass die Maße der Baukörper in Länge, Breite und die Lage auf dem Grundstück dem dem Bescheid beigefügten Lageplan entsprechen. Weiterhin soll die Befreiung nur unter der Bedingung gelten, dass zur Grenze des Flurstückes 83/13 ein Grenzabstand von mindestens 5 m eingehalten wird. Außerdem müssen alle weiteren Festsetzungen des Bebauungsplanes eingehalten werden.

7

Der Kläger erhob gegen die erteilte Befreiung Widerspruch und machte geltend, durch Letztere würden die Grundzüge der Planung berührt. Eine Hinterlandbebauung, wie sie hier zugelassen werde, sei mit den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht vereinbar. Dieser setze zum Erhalt der offenen Bauweise auf den Grundstücken Baufenster fest und schaffe dadurch einen unbebauten Innenraum im jeweils hinteren Bereich der straßenseitig errichteten Gebäude. Durch die Zulassung des Vorhabens der Beigeladenen würden weitere Vorhaben dieser Art ermöglicht, was schließlich zu einer ursprünglich nicht gewollten zweireihigen verdichteten Bebauung führen werde. Im Übrigen lägen auch die weiteren Voraussetzungen für eine Befreiung nicht vor. Gründe des Wohles der Allgemeinheit seien nicht dargetan. Die Abweichung sei städtebaulich nicht vertretbar und es sei auch nicht ersichtlich, dass die Durchführung des Bebauungsplanes zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde. Schließlich seien auch die nachbarlichen Interessen nicht ausreichend gewürdigt worden. Nach der Befreiung könne der Bebauungsplan die ihm ursprünglich gedachte Funktion, die nachbarlichen Interessen der Eigentümer gegeneinander auszugleichen, nicht mehr erfüllen. Im Übrigen verhalte sich die Beklagte widersprüchlich, denn sie habe in der Vergangenheit eine Hinterlandbebauung auf dem Grundstück I. O. (Flurstück 83/1) unter Hinweis auf die Festsetzungen des Bebauungsplanes für nicht zulässig erachtet. Durch die Hinterlandbebauung werde die Eigenart des Baugebietes beeinträchtigt. Eine besondere Beeinträchtigung folge hier daraus, dass schon das straßenseitige Wohnhaus der Beigeladenen das Baufenster nicht einhalte. Das zweite Gebäude solle sogar vollständig außerhalb des Baufensters errichtet werden und rücke bis auf 5 m an die klägerische Grundstücksgrenze heran. Das Vorhaben widerspreche den Festsetzungen des Bebauungsplanes diametral, denn mehr als die Hälfte der Baukörper liege außerhalb des Baufensters. Dass gleichwohl die nach der Bauordnung einzuhaltenden Grenzabstände mehr als eingehalten würden, sei demgegenüber ohne Belang.

8

Mit Bescheid vom 21. März 2011 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Der Anfechtungsantrag könne keinen Erfolg haben, denn nachbarschützende Vorschriften würden durch die Befreiung nicht verletzt. Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksflächen hätten nach der Rechtsprechung in der Regel keine drittschützende Wirkung. Vielmehr dienten sie vorwiegend städtebaulichen Gründen. Etwas anderes könne nur dann gelten, wenn sich aus den Festsetzungen des Bebauungsplanes, seiner Begründung oder anderweitigen Materialien über die Willensbildung des zuständigen Organs hinreichende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Satzungsgeber eine drittschützende Wirkung gewollt habe. Hierfür gebe es keine Anhaltspunkte. Gegen die Annahme einer drittschützenden Wirkung spreche, dass die Festsetzung von Baugrenzen auf dem Grundstück des Klägers nicht zu einer Verkürzung der nach der NBauO erforderlichen Abstandsflächen führe. Auch im Hinblick auf die konkrete Lage seines Grundstücks sowie der angrenzenden Grundstücke könne eine unzumutbare Beeinträchtigung seiner Interessen nicht ohne weiteres angenommen werden. Das Baufenster des Klägers halte einen Abstand von ca. 15 m zur Grundstücksgrenze ein. Daraus lasse sich eine nachbarschützende Wirkung nicht herleiten. Auch die bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften seien eingehalten worden. Das genehmigte Vorhaben halte einen Abstand von 5 m zur Grundstücksgrenze des Klägers ein. Der tatsächliche Abstand zur nächsten Wohnbebauung betrage aufgrund der fehlenden Bebauung sogar mehr als 25 m. Die Grundzüge der Planung seien ebenfalls nicht berührt. Im Gültigkeitsbereich des Bebauungsplanes existierten insgesamt nur vier Flurstücke, auf denen eine Hinterlandbebauung überhaupt infrage komme. Diese Fläche nehme also nur einen untergeordneten Teil des beplanten Gebietes ein. Auch aus der Begründung des Bebauungsplanes 217/3 ergäben sich diesbezüglich keine Hinweise, die annehmen ließen, dass eine Bebauung von Hinterliegerflächen nicht gewollt sei. Im Übrigen würden alle weiteren Festsetzungen des Bebauungsplans eingehalten.

9

Mit der am 19. April 2011 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und vertieft zu deren Begründung sein Vorbringen aus dem Vorverfahren. Weiterhin macht er geltend, den hier maßgeblichen Baugrenzen komme ausnahmsweise drittschützender Charakter zu. Ein Beleg dafür ergebe sich aus der Entscheidung des Rates der Beklagten über die Anregungen des P., I. O., anlässlich der Auslegung des Bebauungsplanes. Q. habe seinerzeit mit Schreiben vom 21. Oktober 1975 sowie vom 24. Juni 1976 angeregt, das auf seinem Grundstück (Flurstück 83/1) ausgewiesene Baufenster bis zu einer Tiefe von 50 m zu erweitern, um eine hintere Bebauung zu ermöglichen. Die Ablehnung dieser Anregung durch den Rat sei damit begründet worden, dass das Recht des P., sein rückwärtiges Grundstück bei Einhaltung der Grundflächenzahl von 0,4 als Gartenland zu verkaufen, unangetastet bleibe. Hieraus sei eindeutig zu folgern, dass der Rat der Beklagten eine hintere Bebauung des Grundstücksstreifens zwischen den Häusern der K. und denen des gegenüberliegenden Stichweges der I. (jetzige R.) nicht gewollt habe. Bei diesen Flurstücken handele es sich gewissermaßen um gefangene Grundstücke bzw. Hinterliegergrundstücke, deren Erschließung zwar über die Frommholdstraße möglich gewesen wäre, jedoch eine entsprechende Einigung der beteiligten Grundstückseigentümer vorausgesetzt hätte. Offensichtlich habe der Rat der Beklagten als Satzungsgeber den offenen, durchgrünten Charakter des Gebietes schützen und bewahren wollen. Dies sei nicht nur aus städtebaulichen Gründen, sondern auch zum Schutz der Anwohner erfolgt. Darüber hinaus verstoße das Vorhaben auch gegen das Rücksichtnahmegebot. Bei dem Grundstück der Beigeladenen handele es sich um ein rechteckig geschnittenes Grundstück ohne jede Besonderheit. Hinderungsgründe, die eine Bebauung unter Beachtung der Festsetzungen des Bebauungsplanes beeinträchtigen könnten, seien nicht erkennbar. Die Beigeladenen planten, das Grundstück nach dem Erwerb zu teilen und den hinteren Teil mit dem zweiten Gebäude zu veräußern. Hieraus werde ersichtlich, dass hier nur wirtschaftliche Interessen verfolgt würden. Dies sei zwar verständlich, genüge den Anforderungen an eine Befreiung im Sinne der Rechtsprechung zu § 31 Abs. 2 BauGB jedoch nicht. Auch eine offenbar nicht beabsichtigte Härte sei nicht zu erkennen.

10

Der Kläger beantragt,

den Befreiungsbescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2010 und ihren Widerspruchsbescheid vom 31. März 2011 aufzuheben.

11

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

12

Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide unter Bezugnahme auf deren Begründung. Gründe, die zu einer Rechtswidrigkeit der Befreiung führen könnten, seien nach wie vor nicht ersichtlich. Der Rat habe den Festsetzungen der Baufenster nachbarschützende Wirkung nicht zukommen lassen wollen. Zutreffend führe der Kläger aus, dass den Anregungen des P. nicht nachgekommen worden sei und dass nach der Begründung des Bebauungsplanes, der Charakter eines Grüngebietes habe gewahrt werden sollen. Hierbei handele es sich jedoch um Ausführungen zu dem Vorläuferplan 217/1. Die Annahme des Klägers, dass sämtliche Festsetzungen der beiden vorherigen Bebauungspläne fortgelten sollten, erscheine zweifelhaft, weil es dann für den Bebauungsplan 217/3 keine Rechtfertigung gebe. Im Übrigen seien weder das Rücksichtnahmegebot noch die Grundzüge der Planung durch die Befreiung berührt. Der Verweis, dass hier ein Präzedenzfall geschaffen werde, überzeuge nicht. Die Beklagte bleibe dabei, dass eine Befreiung nur für vier weitere Grundstücke in Betracht komme. Demgegenüber gehe der Kläger von sechs weiteren Grundstücken aus. Auch wenn man diesen Vortrag als richtig unterstellen wolle, begründet dies keine Abweichung von der eigentlichen Planungskonzeption, denn im Gegensatz zu der Auffassung des Klägers verlange eine Befreiung keinen besonderen und atypischen Einzelfall mehr. Eine Befreiung für eine unbestimmte Anzahl der in dem Bebauungsplan liegenden Grundstücke sei indes ausgeschlossen. Nachbarliche Interessen, insbesondere Abstandsrechte seien beachtet worden.

13

Die Beigeladenen beantragen,

die Klage abzuweisen.

14

Sie schließen sich den Ausführungen der Beklagten an und verteidigen ebenfalls die angefochtenen Bescheide. Der Festsetzung von Baufenstern komme im vorliegenden Fall eine drittschützende Wirkung, auf die sich der Kläger allein berufen könne, nicht zu.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt die Kammer auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorliegenden Verwaltungsvorgänge der Beklagten ergänzend Bezug.

Entscheidungsgründe

16

Die Klage hat Erfolg.

17

Die den Beigeladenen erteilte Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. 217/3 "N. " hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksflächen (Baufenster) ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Befreiungsbescheid der Beklagten und ihr Widerspruchsbescheid sind daher aufzuheben.

18

Gemäß § 31 Abs. 2 Baugesetzbuch (BauGB) kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und

  1. 1.

    Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder

  2. 2.

    die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder

  3. 3.

    die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.

19

Die hier erteilte Befreiung verstößt gegen die Grundzüge der Planung, wie sie dem Bebauungsplan 217/3 zugrunde liegen. Dies stellt sich gegenüber dem Kläger als ein Verstoß gegen das in § 15 Abs. 1 Satz 1 Baunutzungsverordnung (BauNVO) niedergelegte Rücksichtnahmegebot dar, den er nicht hinnehmen muss. Er kann daher die Aufhebung der den Beigeladenen erteilten Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes 217/3 verlangen.

20

Ob die Grundzüge der Planung im Sinne von § 31 Abs. 2 BauGB berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Mai 2004 - 4 B 35.04 -, zitiert nach [...]). Dies setzt die Feststellung der Grundzüge der Planung voraus sowie die Feststellung, ob diese in bestimmter Weise vom Vorhaben berührt werden (BVerwG, Urteil vom 18. November 2010 - 4 C 10.09 -, zitiert nach [...]). Dabei hat die mit der Novellierung des § 31 Abs. 2 BauGB durch das Bau-Raumordnungsgesetz verbundene strukturelle Änderung der Befreiungsregelung das bereits in der früheren Fassung enthaltene Tatbestandsmerkmal der "Grundzüge der Planung" unberührt gelassen (BVerwG, Beschluss vom 5. März 1999 - 4B5/99 -, zitiert nach [...]). Die Grundzüge der Planung bilden die den Festsetzungen des Bebauungsplanes zu Grunde liegende und in ihnen zum Ausdruck kommende planerische Konzeption (BVerwG, Beschluss vom 20. November 1989 - 4 B 163.89 -, zitiert nach [...]). Befreiungen dürfen daher nicht in einer Weise von den Festsetzungen abweichen, dass dadurch die Grundzüge der Planung berührt würden. Es scheiden daher im allgemeinen Abweichungen von Festsetzungen aus, die die Grundkonzeption des Bebauungsplans berühren, also vor allem den Charakter nach der Art der baulichen Nutzung und - in bestimmter Weise - auch dem Maß der baulichen Nutzung sowie den Festsetzungen zur Baudichte (Bauweise, überbaubaren Grundstücksfläche). Befreiungen können aus diesen Gründen nur in Betracht kommen, wenn durch sie von Festsetzungen abgewichen werden soll, die das jeweilige Konzept nicht tragen, oder wenn die Abweichung von Festsetzungen, die für die Grundzüge der Planung maßgeblich sind, nicht ins Gewicht fallen, d.h. wenn die Abweichung dem planerischen Grundkonzept nicht zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist. Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben. Sie darf - jedenfalls von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind - nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (BVerwG, Beschluss vom 05.03.1999 - 4 B 5/99 -, zitiert nach [...]; BauR 1999, 1280). Ob eine Abweichung die Grundzüge der Planung berührt oder von minderem Gewicht ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles, nämlich dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gebrachten planerischen Wollen. Bezogen auf dieses Wollen darf der Abweichung vom Planinhalt keine derartige Bedeutung zukommen, dass die angestrebte und im Plan zum Ausdruck gebrachte städtebauliche Ordnung in beachtlicher Weise beeinträchtigt wird. Es muss - mit anderen Worten - angenommen werden können, die Abweichung liege noch im Bereich dessen, was der Planer gewollt hat oder gewollt hätte, wenn er die weitere Entwicklung einschließlich des Grundes für die Abweichung gekannt hätte (BVerwG, Beschluss vom 04.08.2009 - 4 CN 4/08 -, zitiert nach [...]; DVBl 2009, 1379). Dabei können auch Festsetzungen, die nicht für die Grundkonzeption des Bebauungsplanes maßgeblich sind, die Grundzüge der Planung bestimmen, wenn ihnen nämlich ein spezifisches planerisches Konzept zu Grunde liegt (vgl. Söfker in Ernst-Zinkahn-Bielenberg, BauGB, Kommentar, Juni 2011, § 31, Rdnr. 36). Die Festsetzung von Baufenstern gehört zur Grundkonzeption des Bebauungsplanes 217/3 und ist für dessen planerisches Konzept maßgeblich. Das ergibt sich aus Folgendem.

21

Hintergrund für die Aufstellung des Bebauungsplanes Nr. 217/2 bzw. 217/3 in den siebziger Jahren war zum einen, dass das VG Oldenburg - Kammern Stade - mit Urteil vom 21. März 1974 - I A 403/72 S - den Bebauungsplan 217/1 inzident für nichtig erklärt hatte. Des Weiteren drohte ein Auslaufen der Gültigkeit der Ortsgestaltungssatzung über das Grüngebiet "N. " der Beklagten vom 1. August 1955 wegen der Neuregelung in § 101 Nieders. Bauordnung a.F. Ziel der Neuaufstellung des Bebauungsplanes Nr. 217/2 bzw. 217/3 war es, die Regelungen der Ortssatzung auf eine neue Rechtsgrundlage zu stellen, ohne deren Inhalt zu ändern. Das ergibt sich aus der dem B-Plan beigefügten Begründung (vgl. Abs. 2 der Begründung), wo auf das Auslaufen der Gültigkeit der Ortssatzung und das Ziel der Sicherung der dortigen Festsetzungen hingewiesen wird. Die Ortssatzung wiederum hatte das Ziel verfolgt in dem Gebiet eine möglichst lockere, auf festgesetzte Bauflächen beschränkte Baunutzung unter Erhaltung möglichst großer Grünflächen zu erreichen. Diese Ziele verfolgt der B-Plan 273/3 weiter, indem er für jedes Grundstück ein straßenseitig angeordnetes Baufenster und Mindestabstände zwischen den Baufenstern von mindestens 15m in jede Richtung festsetzt. Für das Karree S. wurde dabei ausdrücklich auf weitere, eine Erschließung der rückwärtigen Flächen ermöglichende Planung von Verkehrsflächen verzichtet und stattdessen die zum Zeitpunkt der Planaufstellung schon weitgehend vorhandene Bebauung festgeschrieben. Dass es dem Satzungsgeber auf die Freihaltung der Grünflächen entscheidend ankam, wird deutlich aus der seinerzeitigen Ablehnung der Anregung des Eigentümers des Grundstücks T. (U.) auf seinem Grundstück ein Baufenster mit einer Tiefe von 50 m zuzulassen, um eine Bebauung mit einem weiteren Wohnhaus in der Zukunft zu ermöglichen. Der Satzungsgeber wollte offensichtlich den schon vorhandenen Gebietscharakter festschreiben.

22

Durch die erteilte Befreiung werden die Grundzüge der Planung für den Bebauungsplan 217/3 verletzt, denn sie lässt zumindest ein Gebäude auf dem Grundstück der Beigeladenen weit außerhalb des festgesetzten Baufensters im rückwärtigen Bereich und unter Verstoß gegen die festgesetzten Mindestabstände der Baufenster untereinander zu. Damit wird in dem Karree zwischen S. die planerische Situation vollständig verändert. Dass hier ein grundlegender Verstoß gegen die bisherige Planungsstruktur vorliegt, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass auch die Beklagte davon ausgeht, dass auf mindestens vier weiteren Grundstücken in diesem Bereich ähnliche Hinterlandbebauung zugelassen werden könnte. Angesichts der Größe des betroffenen Gebietes handelt es sich um einen erheblichen Eingriff. Es kann nicht angenommen werden, dass dieser Eingriff von dem seinerzeitigen Plangeber so hingenommen worden wäre (BVerwG, Beschluss vom 04.08.2009 - 4 CN 4/08 -, a.a.O.). Damit würde eine Gebietsstruktur geschaffen, die dem bisherigen Bebauungsplan diametral entgegensteht. Offen bleiben kann dabei, ob auch noch in weiteren Bereichen des Plangebietes, außerhalb des hier betroffenen Karrees, durch entsprechende Befreiungen von den festgesetzten Baufenstern Hinterlandbebauung zugelassen werden könnte. Nach Kartenlage erscheint dies jedenfalls nicht ausgeschlossen, weil auch in anderen Teilen des Geltungsbereichs Grundstücke vorhanden sind, die eine Hinterlandbebauung zulassen würden. Im Übrigen sind, mit Ausnahme der Festsetzungen des Bebauungsplanes und der bauordnungsrechtlichen Grenzabstandsvorschriften, keine bindenden Vorgaben ersichtlich, an denen sich zukünftige Entscheidungen der Beklagten über Befreiungsanträge orientieren müssten. Folgte man der Auffassung der Beklagten wäre eine sukzessive Umgestaltung und Verdichtung des Gebietes bis zu den nach der Niedersächsischen Bauordnung zwingen Abständen möglich. Die Weiterverfolgung dieser Verwaltungspraxis würde im Ergebnis dazu führen, dass unter Verstoß gegen die Planungshoheit des Rates und Missachtung der planerischen Mitwirkungsrechte der Anwohner auf administrativem Wege ein Bebauungsplan umgeschrieben werden könnte.

23

In der Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, dass Eigentümer im Geltungsbereich eines Bebauungsplanes Anspruch auf Wahrung des Gebietscharakters haben und deshalb, auch ohne konkrete Beeinträchtigung, solche Vorhaben abwehren können, die nach ihrer Art dem Gebietscharakter, wie er in der Baunutzungsverordnung definiert ist, widersprechen (so genannter Gebietserhaltungsanspruch).

24

Der Beklagten ist einzuräumen, dass Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung grundsätzlich nicht im nachbarlichen Interesse erfolgen, sondern grundsätzlich allein der Stadtplanung dienen, mit der Folge, dass sich der Nachbar gegen eine Befreiung von den Festsetzungen von Baulinien oder Baufenstern grundsätzlich nicht wehren kann. Das gilt aber dann nicht uneingeschränkt, wenn durch die Befreiung (auch) die Grundzüge der Planung berührt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 13. Mai 2004 - 4 B 86/01 -, zitiert nach [...]) enthält § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO nicht nur das Gebot der Rücksichtnahme, sondern vermittelt auch einen Anspruch auf Aufrechterhaltung der typischen Prägung eines Baugebiets (vgl. auch BVerwGE 94, 151, 161 [BVerwG 16.09.1993 - 4 C 28/91]). Nachbarn innerhalb eines Baugebietes haben deswegen Anspruch auf Aufrechterhaltung einer typischen Prägung dieses Gebietes, wenn ein im Baugebiet seiner Art nach allgemein zulässiges Vorhaben - hier ein Wohnhaus in einem reinen Wohngebiet - genehmigt wird, obwohl es im Einzelfall nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widerspricht. Die Eigenart des Baugebiets ergibt sich aus seiner allgemeinen Zweckbestimmung, den sonstigen Festsetzungen des Bebauungsplanes und dem Planungswillen (soweit dieser zum Ausdruck gekommen ist) sowie der örtlichen Situation, in die ein Gebiet "hineingeplant" worden ist (OVG Hamburg, Beschluss vom 8. Oktober 2009 - 2 Bs 177/09 -; Beschluss vom 2. September 2010 - 2 Bs 144/10 -, beide zitiert nach [...]). Nachbarschutz gegen Abweichungen von nicht nachbarschützenden Vorschriften eines Bebauungsplanes über das Maß der baulichen Nutzung bietet das drittschützende Rücksichtnahmegebot des § 31 Abs. 2 BauGB (vgl. Hessischer VGH, Beschluss vom 25. August 2008 - 4 B 1320/08 -, zitiert nach [...], weitere Nachweise bei Söfker in Ernst-Zinkahn- Bielenberg, BauGB, Kommentar, Juni 2011, § 31, Rdnr. 69).

25

Hiernach hat der Kläger aufgrund des Rücksichtnahmegebotes einen Abwehranspruch gegen das außerhalb des Baufensters geplante Vorhaben der Beigeladenen, denn es widerspricht den Grundzügen der Planung, die dem Bebauungsplan 273/3 zugrunde liegen, weil es selbst die Prägung des durch großzügige Anordnung von Baufenstern gekennzeichneten Baugebietes nachhaltig verändert und eine Hinterlandbebauung schafft. Zudem ermöglicht es durch seine Vorbildwirkung die Zulassung weiterer Vorhaben im rückwärtigen Bereich von Grundstücken, innerhalb des vorbeschriebenen Karrees, aber nicht nur dort. Die dadurch ausgelösten bodenrechtlichen Spannungen können nicht im Wege der Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB nach dem Prinzip "first come, first serve" gelöst werden, sondern bedürfen der planerischen Neukonzeption durch den vom Gesetzgeber dazu berufenen Gemeinderat in dem dafür vorgesehenen Verfahren mit dem Ziel eines gerechten Ausgleichs aller betroffenen öffentlichen und privaten Belange durch eine entsprechende Abwägung. Eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB darf nicht von Festsetzungen eines Bebauungsplans erteilt werden, die für die Planung tragend sind, wenn sich die für die Befreiung maßgeblichen Gründe in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. OVG Hamburg, Beschluss v. 05. Juni 2009 - 2 Bs 26/09 - unter ausdrücklichen Hinweis auf BVerwG, Beschluss v. 05. März 1999 - 4 B 5/99 -, beide zit. nach [...])

26

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2 VwGO.

27

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m.

28

§§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

29

Gründe für eine Zulassung der Berufung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 4 i.V.m. § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegen nicht vor.