Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 22.03.2012, Az.: 4 A 184/10
Voraussetzungen für die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Nachzugs zu Deutschen ohne Erfüllung der Passpflicht; Maßgeblichkeit des gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet für die Aufenthaltserlaubnis; Berücksichtigung eines gesicherten Lebensunterhalts eines Antragstellers
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 22.03.2012
- Aktenzeichen
- 4 A 184/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2012, 19317
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGSTADE:2012:0322.4A184.10.0A
Rechtsgrundlagen
- § 55 Abs. 1 AsylVfG
- § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 3 AufenthG
- § 28 Abs. 2 S. 1 AufenthG
- § 8 StAG
Amtlicher Leitsatz
Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Nachzugs zu Deutschen auch ohne Erfüllung der Passpflicht; atypischer Fall wegen laufenden Asylverfahrens
Tatbestand
Der Kläger begehrt (noch) die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Am 4. Mai 2007 heiratete er in der Türkei Frau F., die am 28. November 2002 unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit durch Einbürgerung die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat. Das im Anschluss an die Eheschließung betriebene Visumsverfahren blieb erfolglos.
Im Oktober 2008 reiste der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 5. Dezember 2008 beantragte er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seine Anerkennung als Asylberechtigter. Er berief sich unter Vorlage eines Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. G. vom 5. Dezember 2008 darauf, in der Türkei Übergriffen seitens des Militärs ausgesetzt gewesen zu sein und infolgedessen an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Gefahr der Retraumatisierung zu leiden. Mit Bescheid vom 3. Juni 2009 lehnte das Bundesamt den Asylantrag ab, stellte fest, dass weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen und forderte den Kläger unter Fristsetzung und Androhung der Abschiebung in die Türkei auf, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Über die vom Kläger am 16. März 2009 beim Verwaltungsgericht Braunschweig erhobene (Untätigkeits-) Klage, Az.: 5 A 47/09, ist noch nicht entschieden worden. Dem Kläger wurde im Januar 2009 eine asylrechtliche Aufenthaltsgestattung ausgestellt.
Am 20. Februar 2009 beantragte der Kläger (noch bei der Zentralen Ausländerbehörde in Braunschweig), ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen und ihm einen bis zum Abschluss seines Asylverfahrens gültigen Reiseausweis für Ausländer, hilfsweise ein anderes deutsches Ersatzpapier für Ausländer, auszustellen. Er sei mit der deutschen Staatsangehörigen H., geb. I., verheiratet. Er habe einen Asylantrag gestellt, so dass ihm gemäß Art. 25 der Genfer Flüchtlingskonvention nicht zugemutet werden könne, die Hilfe der Behörden des Verfolgerstaates in Anspruch zu nehmen. Er könne von seinem Heimatstaat keinen Pass oder Passersatz in zumutbarer Weise erlangen. Eine Verlängerung seines noch bis zum 6. Mai 2009 gültigen Passes scheide aus den genannten Gründen aus. Mit Schreiben vom 5. August 2009, dem eine vom Standesamt Grasberg ausgestellte Eheurkunde (Bescheinigung über die Rechtsgültigkeit der Ehe) beigefügt war, erinnerte der Kläger den Beklagten, in dessen Zuständigkeitsbereich er seit Juli 2009 wohnt, an die Bescheidung seines Antrags vom 20. Februar 2009. Unter dem 18. November 2009 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die schriftliche Zusicherung, dass im Fall der Rücknahme des Asylantrags eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werde und wenn ja, welche, ferner die Ausstellung eines Reisedokuments, hilfsweise eines Ausweisersatzes. Beantragt wurde weiter die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis.
Mit Schreiben vom 5. Januar 2010 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass ihm eine Beschäftigungserlaubnis erteilt werden könne. Eine dahingehende Zusicherung, dass im Fall der Rücknahme des Asylantrags eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werde, könne nicht abgegeben werden. Nach § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sei die Sicherung des Lebensunterhaltes wegen des uneingeschränkten Aufenthaltsrechts von Deutschen im Bundesgebiet keine Voraussetzung für den Ehegattennachzug. Bei Vorliegen besonderer Umstände könne der Nachzug jedoch von dieser Voraussetzung abhängig gemacht werden. Solche besonderen Umstände könnten vorliegen, wenn die Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Ausland zumutbar sei. Dieses komme bei Doppelstaatern in Bezug auf den Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie neben der deutschen besäßen, in Betracht. Frau J. sei unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit eingebürgert worden. Durch die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis sei es dem Kläger nunmehr möglich, den Lebensunterhalt für sich und seine Ehefrau zu sichern. Auch Frau J. könne einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Wenn der Lebensunterhalt der Eheleute gesichert sei, bestehe ein Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 AufentG.
Am 11. Februar 2010 hat der Kläger mit dem Begehren, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen und ihm einen Reiseausweis für Ausländer, hilfsweise ein anderes deutsches Ersatzpapier auszustellen, (Untätigkeits-) Klage erhoben. Durch Beschluss vom 4. März 2010 hat das erkennende Gericht das Verfahren getrennt und es hinsichtlich des Antrags auf Ausstellung eines Reiseausweises in die dafür zuständige 1. Kammer des Gerichts abgegeben. Durch Urteil vom 2. Februar 2012 (Az.: 1 A 307/10) ist die Klage des Klägers auf Ausstellung eines Reiseausweises abgewiesen worden. Hiergegen hat der Kläger einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt.
Zur Begründung der vorliegenden Klage hat der Kläger zunächst ausgeführt: Entgegen der von dem Beklagten vertretenen Auffassung lägen keine besonderen Umstände vor, aufgrund derer die Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft in der Türkei zumutbar sei. Seine Ehefrau genieße als deutsche Staatsangehörige Freizügigkeit im Bundesgebiet. Zum Grundrecht auf Freizügigkeit gehöre auch die negative Freizügigkeit, d.h. eine deutsche Behörde dürfe sie nicht zwingen, an einen bestimmten Ort zu ziehen. Ein Anknüpfen an die türkische Staatsangehörigkeit seiner Ehefrau zur Begründung einer Schlechterstellung gegenüber Nur-Deutschen verstoße ferner gegen das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit - Grundrechtscharta der Europäischen Union - und gegen die Anti-Rassismus-Konvention der Vereinten Nationen.
Mit Schriftsatz vom 23. Mai 2011 hat der Kläger mitgeteilt, dass er voraussichtlich im September 2011 Vater eines deutschen Kindes werde. Hierauf hat der Beklagte unter dem 15. Juni 2011 erklärt, dass er eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erteilen werde, sobald das Kind zur Welt gekommen sei. Am 5. September 2011 wurde der Sohn K. des Klägers geboren; dieser besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Nachdem er am 4. Januar 2012 beim türkischen Generalkonsulat vorgesprochen hat und dort die Annahme eines Antrags auf Ausstellung eines Passes abgelehnt worden ist, hat der Beklagte dem Kläger am 10. Januar 2012 eine bis zum 9. Januar 2015 gültige Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland erteilt.
Die Beteiligten haben den Rechtsstreit hinsichtlich der Zeit ab Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.
Der Kläger trägt ergänzend vor, dass eine vollständige Erledigungserklärung nicht abgegeben werden könne, weil er einen Anspruch darauf habe, dass ihm die Aufenthaltserlaubnis rückwirkend ab Eingang des Antrags erteilt werde. Für das Begehren auf rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis, weil für spätere Verfahren im Hinblick auf eine Niederlassungserlaubnis oder eine Einbürgerung die Zeiten des rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet von Bedeutung seien.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, ihm für die Zeit vom 20. Februar 2009 bis zum 9. Januar 2012 eine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland zu erteilen.
Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat zunächst vorgetragen:
Es bestehe ein zureichender Grund, dass über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis noch nicht entschieden worden sei. Dem Kläger habe die Möglichkeit gegeben werden sollen, durch die Aufnahme einer Beschäftigung die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG zu erfüllen. Es fehle bislang am Nachweis, dass der Lebensunterhalt gesichert sei. Vorliegend seien besondere Umstände gegeben, aufgrund derer die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach der genannten Norm von dieser Voraussetzung abhängig zu machen sei. Die Ehefrau des Klägers besitze neben der deutschen auch die türkische Staatsangehörigkeit, spreche die türkische Sprache und habe den Kläger im gemeinsamen Geburtsort geheiratet. Es sei dem Ehepaar grundsätzlich möglich, die eheliche Lebensgemeinschaft in der Türkei zu führen. Es bleibe allerdings die rechtskräftige Entscheidung über den Asylantrag des Klägers abzuwarten. Gelänge es dem Kläger oder seiner Ehefrau, den Lebensunterhalt sicherzustellen, bestünde ab diesem Zeitpunkt ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens.
Auch nach der Geburt seines deutschen Kindes könne dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt werden. Wenn auch die mangelnde Sicherung des Lebensunterhaltes nicht mehr entgegenstehe, so sei doch die Passpflicht als allgemeine Erteilungsvoraussetzung nicht erfüllt. Wenn diese Voraussetzung im Schreiben vom 15. Juni 2011 nicht erwähnt worden sei, habe dies seinen Grund allein darin, dass sie eine Selbstverständlichkeit sei. Die Beantragung eines Nationalpasses bei dem türkischen Generalkonsulat sei dem Kläger zumutbar. Von einer Unzumutbarkeit i.S.d. § 48 Abs. 2 AufenthG und § 5 AufenthV sei nur in Ausnahmefällen auszugehen, wobei der Betroffene substantiierte Umstände vorzutragen habe, aus denen sich die Unzumutbarkeit ergebe. Aus den im Rahmen des Asylverfahrens dargelegten Umständen folge eine Unzumutbarkeit nicht. Abgesehen davon sei der Kläger nach Auskunft der zuständigen Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde ohnehin bereit, beim türkischen Generalkonsulat vorzusprechen, um einen Pass zu beantragen.
Nunmehr, d.h. nach Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, macht der Beklagte geltend:
Eine rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis komme nicht in Betracht. Die Voraussetzungen hierfür hätten bei Antragstellung noch nicht vorgelegen. Das Kind des Klägers sei noch nicht geboren gewesen, der Kläger habe keinen Pass gehabt und keine Bemühungen unternommen, einen solchen zu erhalten.
Durch Beschluss vom 27. Oktober 2011 hat die Kammer dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten gewährt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der zu dieser beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Gegenstand der Entscheidungsfindung war ferner die Gerichtsakte 1 A 307/10 nebst Beiakten.
Entscheidungsgründe
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
Im Übrigen ist die Klage, über die trotz Ausbleibens des Beklagten, der mit der Ladung auf diese Folge hingewiesen worden ist, verhandelt und entschieden werden konnte (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO), zulässig und begründet.
Der Kläger kann die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für den Familiennachzug zu Deutschen auch für den Zeitraum 20. Februar 2009 bis 9. Januar 2012 beanspruchen.
1.
Die Verpflichtungsklage ist als Untätigkeitsklage i.S.v. § 75 VwGO zulässig. Der Kläger hat nach Ablauf der Sperrfrist von drei Monaten nach Stellung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis Klage erhoben und das Gericht hat das Verfahren nicht nach § 75 Satz 3 VwGO ausgesetzt. Ohne eine derartige Aussetzung des Verfahrens bleibt eine nach § 75 Satz 1 VwGO erhobene Untätigkeitsklage zulässig (BVerwG, Urteil vom 4.Juni 1991 - 1 C 42.88 -, [...]).
Für das Begehren auf rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis steht dem Kläger auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis zur Seite. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. nur Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 7.08 - und Beschluss vom 2. September 2010 - 1 B 18.10 -, jeweils zitiert nach [...]) kann die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der Antragstellung beansprucht werden, wenn der Ausländer daran ein schutzwürdiges Interesse hat. Dies gilt unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel für einen späteren Zeitraum bereits erteilt worden ist oder nicht. Ein schutzwürdiges Interesse liegt vor, wenn es für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein kann, von welchem Zeitpunkt an der Ausländer den begehrten Aufenthaltstitel besitzt. Im vorliegenden Fall kann die Dauer des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis u.a. für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 AufenthG oder für eine Einbürgerung von Bedeutung sein. Nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist dem Ausländer in der Regel eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn er drei Jahreim Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist (und die übrigen Voraussetzungen vorliegen). Die Einbürgerung verlangt gemäß § 8 StAG bestimmte rechtmäßige Aufenthaltszeiten im Inland. Die asylrechtliche Aufenthaltsgestattung gemäߧ 55 Abs. 1 AsylVfG, über die der Kläger bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Januar 2012 lediglich verfügte, vermittelt einen rechtmäßigen Aufenthalt nur dann, wenn das Asylverfahren erfolgreich abgeschlossen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom19. Oktober 2011 - 5 C 28.10 -, [...]), was vorliegend zur Zeit nicht der Fall ist.
2.
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen (Nr. 1) sowie dem Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge (Nr. 3) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Die Aufenthaltserlaubnis ist in den Fällen des Satzes 1 Nr. 3 abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 zu erteilen (§ 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). In den Fällen des Satzes 1 Nr. 1 soll sie in der Regel abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 erteilt werden (§ 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt für die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist.
Dass der Kläger mit seiner deutschen Ehefrau und seinem deutschen Kind in familiärer Gemeinschaft lebt und somit die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG erfüllt, steht außer Frage. Es liegen darüber hinaus auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des§ 5 AufenthG vor.
Der Umstand, dass der Lebensunterhalt des Klägers und seiner Ehefrau (soweit ersichtlich) nicht gesichert war, steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Zeit vom 20. Februar 2009 bis zum 5. September 2011 (Geburt des gemeinsamen Kindes) nicht entgegen.§ 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG räumt einen grundsätzlichen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis auch bei Sozialleistungsbezug ein. D.h., dass die Aufenthaltserlaubnis regelmäßig zu erteilen ist und nur in atypischen Fällen verweigert werden darf. Nach der gesetzlichen Begründung liegen besondere Umstände bei Personen vor, denen die Begründung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Ausland zumutbar ist. Dies komme insbesondere bei Doppelstaatern in Bezug auf das Herkunftsland in Betracht, dessen Staatsangehörigkeit sie neben der deutschen besitzen (GK AufenthG § 28 Rn. 190 f.).
Für die Bestimmung des Regelfalles kann zwar die gesetzgeberische Intention zur Auslegung herangezogen werden; diese ist für die Gerichte jedoch nicht verbindlich. Erforderlich ist stets eine individuelle Prüfung des konkreten Falles. Die individuelle Prüfung ergibt vorliegend, dass die Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft in der Türkei nicht zumutbar war. Zwar besitzt die Ehefrau des Klägers auch die türkische Staatsangehörigkeit. Die Unzumutbarkeit des Führens der Ehe in der Türkei ergibt sich jedoch bereits daraus, dass der Kläger schon vor Beantragung der Aufenthaltserlaubnis einen Asylantrag gestellt hat, den er mit in der Türkei erlittenen Übergriffen seitens des Militärs und unter Vorlage einer fachärztlichen Stellungnahme, wonach eine posttraumatische Belastungsstörung bedingt durch die Misshandlungen vorliege, begründet hat. Über diesen Antrag ist noch nicht rechtskräftig entschieden. Solange das Vorbringen des Klägers zu seinem Asylbegehren nicht "entkräftet" ist, kann er nicht darauf verwiesen werden, in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren.
Der Erteilung einer rückwirkenden Aufenthaltserlaubnis steht auch nicht entgegen, dass der Kläger - allerdings erst seit dem 7. Mai 2009 - nicht mehr im Besitz eines gültigen Passes ist.
Nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Ausländer die Passpflicht nach § 3 AufenthG erfüllt, was vorliegend ab dem 7. Mai 2009 nicht mehr der Fall war. Liegt ein von der Regel abweichender Fall vor, ist trotz Fehlens der Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG der Weg zur Prüfung der weiteren Voraussetzungen für die Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels wie bei vollständigem Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1 eröffnet (GK AufenthG, § 5 Rn. 40).
Ein von der Regel abweichender Fall liegt vor, wenn ein atypischer Sachverhalt gegeben ist, der sich von der Menge gleichgelagerter Fälle durch besondere Umstände unterscheidet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht des der Regelerteilungsvoraussetzung zugrunde liegenden öffentliche Interesses beseitigt. Es muss sich dabei um eine Abweichung handeln, die die Anwendung des Regelfalles nach Sinn und Zweck unpassend, grob unpassend oder untunlich erscheinen lässt. Ob ein Ausnahmefall gegeben ist, ist aufgrund einer umfassenden Abwägung aller einschlägigen öffentlichen und privaten Interessen zu entscheiden und stellt eine Rechtsentscheidung dar (zum Vorstehenden vgl. GK AufenthG, § 5 Rn. 27, 30; Hailbronner, Ausländerrecht, § 5 AufenthG Rn. 5, jeweils mit Rechtsprechungsnachweisen).
Hier ist ein atypischer Sachverhalt gegeben und der Kläger daher von der Erfüllung der Passpflicht "befreit". Der vorliegende Fall zeichnet sich durch die Besonderheit aus, dass der Kläger ein Asylverfahren betreibt und zugleich auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG erstrebt.
Um einen Nationalpass zu erhalten bzw. einen solchen verlängern zu lassen, haben türkische Staatsangehörige regelmäßig beim türkischen Generalkonsulat vorzusprechen. Einem Ausländer ist die Kontaktaufnahme mit den Heimatbehörden jedoch nicht zumutbar, solange das Asyl(erst)verfahren noch nicht unanfechtbar oder jedenfalls - etwa nach einer Ablehnung als offensichtlich unbegründet - vollziehbar abgeschlossen ist (GK AsylVfG, § 15 Rn. 41).
In diesem Zusammenhang ist auch auf die Gesetzesbegründung zu § 6 Satz 1 Nr. 4 AufenthV, der regelt, dass einem Ausländer, der Asylbewerber ist, nur unter engen Voraussetzungen ein Reiseausweis für Ausländer auszustellen ist, hinzuweisen, in der es heißt:
"Nr. 4 erfasst den Fall des bisherigen § 15 Abs. 6 DV AuslG. Die Ausstellung von Reiseausweisen für Ausländer an Asylbewerber ist auf wenige Ausnahmefälle zu beschränken...Bei Asylbewerbern kann die Ausstellungsbehörde nach Satz 2 vor allem vor dem Hintergrund Ausnahmen von den näher in § 5 Abs. 2 - 4 bezeichneten Voraussetzungen zulassen, dass von dem Asylbewerber vor dem negativen Abschluss des Asylverfahrens nicht verlangt werden kann, sich bei den Behörden seines Herkunftsstaates um einen Pass zu bemühen; zudem könnte die Passausstellung durch den Herkunftsstaat häufig aus rechtsstaatlich nicht vertretbaren Gründen versagt werden...".
Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass, wie dem Beklagten bekannt war, der Kläger seinen Asylantrag damit begründet hat, in der Türkei von staatlichen Stellen misshandelt worden zu sein und hierdurch bedingt an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden. Gerade traumatisierten Asylbewerbern wird man nicht zumuten können, sich an die Behörden des Staates, in dem die Übergriffe stattgefunden haben, zu wenden.
Ferner musste vorliegend von vornherein davon ausgegangen werden, dass Bemühungen um eine Passbeschaffung während des laufenden Asylverfahrens keinen Erfolg haben werden. Es ist gerichtsbekannt, dass das türkische Generalkonsulat einen Pass nur bei Bestätigung, dass ein Asylverfahren nicht (mehr) anhängig ist, ausgestellt. Dass dies auch dem Beklagten nicht unbekannt war, ergibt sich aus dem Umstand, dass dem Kläger zur Vorsprache beim Generalkonsulat nicht die übliche Bescheinigung, in der einerseits bestätigt wird, dass eine Aufenthaltserlaubnis nach Ausstellung eines Passes erteilt wird, und andererseits, dass ein Asylantrag nicht gestellt bzw. abgelehnt worden ist (Bl. 384 der Beiakte A zum Verfahren 1 A 307/10) ausgehändigt wurde, sondern lediglich eine Bestätigung, dass nach Ausstellung des Passes eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird (Bl. 386 der Beiakte A zum Verfahren 1 A 307/10).
Die genannten besonderen Umstände des konkreten Falles überwiegen das öffentliche Interesse an der Erfüllung der Passpflicht, zumal die Identität des Klägers geklärt ist und eine Aufenthaltsbeendigung angesichts der Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen und der Vaterschaft zu einem deutschen Kind ungeachtet des Ausgangs des Asylverfahrens nicht im Raum stehen dürfte.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2 VwGO. Hinsichtlich des erledigten Teils des Rechtsstreits entspricht es billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes i.S.v. § 161 Abs. 2 VwGO, den Beklagten mit den Kosten des Verfahrens zu belasten, denn der Kläger hätte auch ohne Vorsprache beim Generalkonsulat zum Zweck der Verlängerung/der Ausstellung eines türkischen Nationalpasses einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG gehabt.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.
Gründe für eine Zulassung der Berufung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 4 i.V.m.§ 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegen nicht vor.