Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 06.08.2013, Az.: 2 Ws 144/13

Eröffnung des Ermessens über eine Kostenentscheidung zu Lasten des Angeklagten gem. § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO im Falle einer Einstellung wegen dessen Verhandlungsunfähigkeit

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
06.08.2013
Aktenzeichen
2 Ws 144/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 47929
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2013:0806.2WS144.13.0A

Fundstellen

  • JurBüro 2014, 96-97
  • StraFo 2013, 526-528

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Im Falle einer Einstellung wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten ist das Ermessen über eine Kostenentscheidung zu seinen Lasten nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO eröffnet, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung ein zumindest hinreichender Tatverdacht besteht und keine Umstände vorliegen, die bei weiterer Hauptverhandlung eine Konkretisierung des Tatverdachts bis zur Feststellung der Schuld in Frage stellen.

  2. 2.

    Eine Entscheidung über den Ausschluss einer Entschädigung nach § 5 StrEG ist erst nach endgültiger strafrechtlicher Erledigung des historischen Geschehens, dem die Strafverfolgung zugrunde liegt, veranlasst.

In der Strafsache
gegen W. S.,
geboren am xxxxxx 1964 in N.,
zurzeit: Maßregelvollzugszentrum N. M.,
M.str., M.
- Verteidiger: Rechtsanwalt F., S.,
Rechtsanwalt W., H. -
wegen Totschlags pp.
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Auslagen- und Entschädigungsentscheidung in dem Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 22.05.2013 nach Anhörung des Angeklagten und der Generalstaatsanwaltschaft durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxxxxx, den Richter am Oberlandesgericht xxxxxx und den Richter am Landgericht xxxxxx am 06.08.2013
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Unter Verwerfung der sofortigen Beschwerde im Übrigen wird die Entscheidung über den Entschädigungsanspruch für die erlittene Untersuchungshaft und die einstweilige Unterbringung aufgehoben.

  2. 2.

    Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Landeskasse, die auch die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen hat.

Gründe

I.

Dem Angeklagten wurde mit Anklageschrift vom 13.03.2013 vorgeworfen, in der Zeit vom 10. bis 18.09.2012 im Zustand verminderter Schuldfähigkeit zwei Menschen getötet und zwei weitere Menschen gefährlich verletzt zu haben. Ausweislich der Anklageschrift kam auch die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht.

Wegen dieser Taten wurde der Angeklagte am 19.09.2012 vorläufig festgenommen und befand sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Celle vom 20.09.2012, zuletzt geändert am 14.03.2013, bis zum 26.03.2013 in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 26.03.2013 ordnete die 4. große Strafkam-mer - Schwurgericht - des Landgerichts Lüneburg die einstweilige Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

In der Hauptverhandlung erfolgte auf einen Antrag des Angeklagten hin dessen Begutachtung über seine Verhandlungsfähigkeit durch den Sachverständigen Dr. F. Im Ermittlungsverfahren hatten sich keine Hinweise auf eine etwaige Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten ergeben. Der Sachverständige diagnostizierte dagegen eine dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit, die bereits zum Zeitpunkt der Anklageerhebung vorgelegen habe.

Daraufhin stellte die Kammer das Verfahren am 22.05.2013 durch Prozessurteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO ein und legte der Landeskasse die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten auf. Darüber hinaus ordnete sie eine Entschädigung für die Untersuchungshaft und für die einstweilige Unterbringung an.

Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Lüneburg und führt zur Begründung aus, das Landgericht hätte bei der Ermessensentscheidung über die Kosten und Auslagen auch auf die Bedeutung der Tatvorwürfe eingehen müssen. Die Generalstaatsanwaltschaft tritt dem bei und weist ergänzend darauf hin, dass wegen der Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten noch ein Sicherungsverfahren nach § 413 StPO durchgeführt werde.

II.

Die zulässige sofortige Beschwerde hat Erfolg, soweit sie sich gegen den Strafrechtsentschädigungsausspruch richtet, im Übrigen ist sie unbegründet.

1. Das Landgericht Lüneburg hat die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Landeskasse auferlegt. Es hat von der Möglichkeit, im Falle einer Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses diese Auslagen dem Angeklagten aufzuerlegen (§ 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO), keinen Gebrauch gemacht.

Nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO kann im Falle der Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses davon abgesehen werden, die notwendigen Auslagen eines Angeklagten der Landeskasse aufzuerlegen. Die Vorschrift setzt eine zweistufige Prüfung voraus. Zunächst ist zu prüfen, bei welchem Verdachtsgrad davon ausgegangen werden kann, die Verurteilung sei "nur deshalb nicht" erfolgt, weil ein Verfahrenshindernis besteht, sodann ist vom Tatgericht das Ermessen auszuüben, ob eine Kosten- und Auslagenentscheidung zum Nachteil des Angeklagten ergehen kann.

a) Nach neuerer Rechtsprechung ist dem Tatgericht die Ermessensentscheidung eröffnet, wenn zum Zeitpunkt der Feststellung des Verfahrenshindernisses ein zumindest hinreichender Tatverdacht besteht und keine Umstände vorliegen, die bei weiterer Hauptverhandlung eine Konkretisierung des Tatverdachts bis zur Feststellung der Schuld in Frage stellen (in diesem Sinne OLG Rostock, Beschl. v. 15.01.2013, I Ws 342/12, zitiert nach [...]; OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 246; OLG Hamm NStZ-RR 2010, 224; vgl. auch BGH NStZ 2000, 330; KG StraFo 2012, 289; OLG Köln, Beschl. v. 26.04.2012, 2 Ws 284/12, zitiert nach [...]; OLG Jena NStZ-RR 2007).

Die ältere Rechtsprechung ging hingegen davon aus, eine Versagung der Auslagenerstattung komme nur dann in Betracht, wenn bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses mit Sicherheit eine Verurteilung erfolgt wäre (so noch KG StraFo 2005, 483 [KG Berlin 28.07.2005 - 3 AR 8/02 - 4 Ws 153/02]; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 288 [OLG Düsseldorf 05.02.1997 - 2 Ws 25/97]). Diese Auffassung wird indes, soweit ersichtlich, mit guten Gründen nicht mehr vertreten, weil der Anwendungsbereich von § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO auf Fälle beschränkt wäre, in denen ein Verfahrenshindernis in der Hauptverhandlung erst nach dem letzten Wort eines Angeklagten zu Tage träte (BGH NStZ 2000, 330, 331 [BGH 05.11.1999 - 3 StE 7/94 - 1 (2); StB 1/99]; OLG Hamm NStZ-RR 2010, 224 [OLG Hamm 07.04.2010 - 2 Ws 60/2010]; so jetzt auch unter ausdrücklicher Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung KG StraFo 2012, 289) und damit die Anwendbarkeit der Vorschrift praktisch obsolet wäre.

Verbleibt es damit für die Anwendbarkeit von § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO bei einer erheblichen Verurteilungswahrscheinlichkeit, so ist dieser Fall hier gegeben. Der Angeklagte ist der ihm in der Anklageschrift zur Last gelegten Taten weiterhin erheblich verdächtig und es ist derzeit nichts ersichtlich, was diesem Tatverdacht entgegensteht.

b) Bei der Ausübung des dadurch eröffneten Ermessens über eine Kosten- und Auslagenentscheidung zum Nachteil des Angeklagten ist dem Ausnahmecharakter von § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO grundsätzlich Rechnung zu tragen. War das Verfahrenshindernis bei Klageerhebung bereits eingetreten, soll es deshalb bei der regelmäßigen Kostenfolge nach § 467 Abs. 1 StPO bleiben, es sei denn, eine solche Lösung erscheine grob unbillig, etwa weil der Eintritt des Verfahrenshindernisses auf ein vorwerfbares Verhalten des Angeklagten zurückzuführen ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 467, Rz. 18 m.w.N.; Karlsruher Kommentar-Gieg, StPO, 6. Auflage, § 467, Rz. 10). Im Rahmen der Ermessenentscheidung kann darüber hinaus Berücksichtigung finden, ob das Verfahrenshindernis von vornherein erkennbar war, oder ob es als Ergebnis einer langwierigen Aufklärung des Sachverhaltes erst später zutage trat (BGH NJW 1995, 1297 [BGH 01.03.1995 - 2 StR 331/94]; Löwe-Rosenberg-Hilger, StPO, 26. Aufl., § 467, Rz. 57). Zu beachten ist dabei stets, dass nach der Intention des Gesetzgebers die Möglichkeit der vom Regelfall abweichenden Kostenentscheidung nur für seltene Ausnahmefälle eröffnet sein sollte (vgl. Meyer-Goßner a. a. O. § 467 Rz. 18).

Unter Anwendung dieser Grundsätze hat die Kammer ihr Ermessen zutreffend ausgeübt und keine Kosten- und Auslagenentscheidung zum Nachteil des Angeklagten getroffen, sondern es bei der gesetzlichen Regel belassen, wonach die Landeskasse mit den Kosten und Auslagen des Verfahrens zu belasten ist. Die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten war weder unvorhersehbar noch beruhte sie auf einem ihm vorwerfbaren Verhalten. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung war deshalb zu verwerfen.

2. Anders verhält es sich mit der von der Staatsanwaltschaft ebenfalls angefochtenen Entscheidung über eine Entschädigung für die erlittene Freiheitsentziehung.

Zwar ist der Kammer zuzustimmen, dass die Versagung einer Entschädigung nicht auf § 6 Abs. 1 Nr. 2 StrEG gestützt werden kann, weil hier dieselben Erwägungen gelten, die schon bei der insoweit wortgleichen Kostenvorschrift nach § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO dazu geführt haben, den Angeklagten nicht mit den Kosten und Auslagen des Verfahrens zu belasten. Jedoch ist darüber hinaus nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 StrEG eine Entschädigung für freiheitsentziehende Maßnahmen dann ausgeschlossen, wenn zwar keine Verurteilung zu einer Strafe erfolgt, aber eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet wird. Das Gesetz stellt für die Entscheidung über den Ausschluss einer Entschädigung nach § 5 StrEG nicht auf das konkrete prozessuale Verfahren ab - das hier mit der Einstellung nach § 260 Abs. 3 StPO beendet ist -, sondern auf die endgültige strafrechtliche Erledigung des historischen Geschehens, das der Strafverfolgung zugrunde liegt (vgl. Meyer, StrEG, 8. Aufl., § 2 Rz. 21). Sofern durch eine Entscheidung über dieses Geschehen noch kein Strafklageverbrauch eingetreten ist, solange also die strafrechtliche Verfolgung wegen der Tat noch andauert, ist deshalb kein Raum für eine Entscheidung über eine strafrechtliche Entschädigung. Diese Entscheidung ist erst veranlasst nach einer abschließenden Entscheidung über das der Tat im Sinne von § 264 StPO zugrundeliegende Geschehen.

So liegt es hier. Gegen den Angeklagten ist wegen derselben Tat, die Gegenstand des Einstellungsurteils war, ein Sicherungsverfahren anhängig, in dem eine Maßregel gegen ihn verhängt werden kann, die nach § 5 StrEG einen Ausschluss des Entschädigungsanspruchs zur Folge hätte. Eine Entscheidung über den Strafrechtsentschädigungsanspruch kann daher erst nach Abschluss jenes Verfahrens erfolgen.

Somit war die Grundentscheidung über eine Entschädigung für die erlittene Freiheitsentziehung aufzuheben. Sie bleibt dem weiteren Verfahren vorbehalten und kann erst nach Abschluss des Sicherungsverfahrens erfolgen.

III.

Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 473 Abs. 1 und 2 StPO.