Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 15.08.2013, Az.: 1 Ws 251/13 (MVollz)

Begründungserfordernisse und Gefahrenprognose bei der Versagung eines Antrags auf Maßregelvollzugslockerungen; Gerichtliche Überprüfbarkeit eines ablehnenden Bescheids zu Lockerungen im Maßregelvollzug; Vollständiges Versagen von Lockerungen im Maßregelvollzug nur bei konkreten Anhaltspunkten auf missbräuchliche Verwendung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
15.08.2013
Aktenzeichen
1 Ws 251/13 (MVollz)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 43703
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2013:0815.1WS251.13MVOLLZ.0A

Fundstellen

  • NStZ-RR 2013, 6
  • NStZ-RR 2014, 32

Amtlicher Leitsatz

Im Maßregelvollzug kommt ein vollständiges Versagen von Lockerungen nur in Betracht, wenn aufgrund einer konkreten Gefährdungsprognose selbst bei begleiteten Ausführungen auf dem Klinikgelände ein Missbrauch zu besorgen ist.

Tenor:

Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 21. Mai 2013 sowie die angefochtene Entscheidung der Antragsgegnerin vom 12. Oktober 2012 werden aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.

Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und jene der ersten Instanz sowie dem Antragsteller hierdurch verursachte notwendige Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.

Der Streitwert wird auf bis zu 500,- € festgesetzt (§§ 1 Nr. 8, 63 Abs. 3, 65 GKG).

Gründe

I.

Gegen den Antragsteller wurde mit Urteil vom 23. August 2006 nach § 63 StGB dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Diese Maßregel wird seither vollzogen. Nachdem ihm zunächst Lockerungen in Form von begleiteten Gelände- und Stadtausgängen bewilligt worden waren, wurden diese im Frühjahr 2012 widerrufen, nachdem der Antragsteller die neuroleptische Medikation abgesetzt hatte. Seinen Antrag auf Bewilligung von Geländeausführungen hat die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 12. Oktober 2012 abgelehnt und hat hierzu (abschließend) ausgeführt, der Antragsteller befinde sich in einem nur sehr oberflächlichen therapeutischen Kontakt und sei daher schwer einzuschätzen. Er zeige keine Motivation, an der Behandlung aktiv mitzuarbeiten, weshalb es erhebliche Sicherheitsbedenken bezüglich der beantragten Lockerung gäbe. Seinen hiergegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung - sowie seinen nachfolgenden Antrag, ihm das Verlassen der Einrichtung unter Aufsicht (Ausführung) zu bewilligen - hat die Strafvollstreckungskammer als unbegründet zurückgewiesen. Zwar hätte es auch andere Entscheidungsmöglichkeiten gegeben, die Entscheidung der Antragsgegnerin bewege sich indessen innerhalb des ihr zustehenden Beurteilungs- und Ermessensspielraum - was näher ausgeführt wird -, in den die Kammer aufgrund ihrer insoweit nur eingeschränkten Prüfungskompetenz aber nicht eingreifen könne; Fehler seien insoweit nicht ersichtlich.

Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Rechtsbeschwerde und bringt unter Hinweis auf Rechtsprechung namentlich des Bundesverfassungsgerichts hierzu vor, die angefochtene Entscheidung verkenne, dass gerade bei langzeitigen Unterbringungen ein vollständiges Versagen von Lockerungen nur bei Vorliegen einer konkreten Gefährdungsprognose möglich sei. Die angefochtene Entscheidung lasse nicht hinreichend erkennen, weshalb bei dem Antragsteller nicht zumindest - begleitete - Ausführungen möglich seien.

Das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Familie, Gesundheit und Integration wurde gehört. Es hat erklärt, dass das beteiligte Land im vorliegenden Fall ausnahmsweise von einer Stellungnahme absieht.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist nach Maßgabe von §§ 116 Abs. 1, 138 Abs. 3 StVollzG zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zulässig, denn es gilt einer Wiederholung des nachfolgend aufgezeigten Rechtsfehlers entgegen zu wirken. Die Rechtsbeschwerde ist auch sonst zulässig im Sinne von §§ 118, 138 Abs. 3 StVollzG erhoben.

III.

Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache im Wesentlichen Erfolg.

1. Keinen Erfolg kann das Rechtsmittel indessen haben, soweit der Antragsteller auf der Grundlage seines ergänzenden Antrags vom 26. November 2012 das Ziel verfolgt, ihm das Verlassen der Einrichtung unter Aufsicht (Ausführung) zu bewilligen. Das gerichtliche Verfahren nach §§ 109 ff StVollzG wird in seinem Umfang von der angefochtenen Maßnahme im Sinne des § 109 Abs. 1 StVollzG bestimmt. Gegenstand des an die Antragsgegnerin gerichteten Antrags sowie der hiernach erfolgten Ablehnung vom 12. Oktober 2012 war allein eine Ausführung auf dem Gelände. Eine Ausführung unter Verlassen des Geländes wird vom Verfahren hiernach nicht erfasst.

2. Im Übrigen kann dem Rechtsmittel ein zumindest vorläufiger Erfolg aber nicht versagt bleiben. Insoweit verletzt die angefochtene Entscheidung (§ 116 Abs. 2 Satz 2 StVollzG) den Antragsteller in seinen Rechten nach Maßgabe von § 15 Abs. 1 Nds. MVollzG.

a) Insoweit unterliegt zunächst keinem Zweifel, dass diese Vorschrift trotz ihres auf Lockerungen abzielenden Wortlauts als Eingriffsnorm auszulegen ist und hiernach entsprechende Eingriffe in Form des Versagens von Lockerungen letztlich am Maßstab von Art. 2 Abs. 1 GG auszurichten sind (vgl. zur vergleichbaren Regelung des § 17 MVollzG Schleswig-Holstein: OLG Schleswig vom 9.4.2008 [RuP 2009, 108]). Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung indessen nicht gerecht.

b) Zwar geht die Strafvollstreckungskammer grundsätzlich zutreffend davon aus, dass der Antragsgegnerin im Hinblick auf das Gewähren von Lockerungen ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht, den die Gerichte aufgrund der ihnen insoweit nur zustehenden eingeschränkten Prüfungskompetenz allein auf entsprechende Ermessens- und Beurteilungsfehler überprüfen können (vgl. hierzu nur OLG Celle, StV 2000, 571). Dies setzt aber gleichsam voraus, dass die angefochtene Entscheidung der Antragsgegnerin auf der Grundlage einer vollständig ermittelten Tatsachengrundlage getroffen wurde, die insbesondere auch - und zwar in nachprüfbarer Weise - zu erkennen gibt, dass und warum aufgrund der abgelehnten Maßnahme zu befürchten ist, dass der Untergebrachte die von ihm begehrten Lockerungen missbrauchen, insbesondere sich oder die Allgemeinheit gefährden wird. Erforderlich ist insoweit eine über allgemein gehaltene Angaben hinausgehende, konkrete Gefährdungsprognose (aaO.). Dem wird der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. Oktober 2012 schon nicht gerecht. Soweit die Ablehnung im Laufe des weiteren Verfahrens auf Umstände gestützt wurde, die dem Bescheid vom 12. Oktober 2012 nicht zugrunde lagen und in diesem nicht zumindest anklingen, können diese der Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden, weil es sich insoweit um unzulässig im Verfahren nachgeschobene Tatsachen handelt (vgl. hierzu nur Callies/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 12. Aufl., § 115 Rn. 8 m.w.N.).

c) Aufgrund der unmittelbar wertsetzenden Bedeutung des aus Art. 2 Abs. 1 GG herzuleitenden Freiheitsgrundrechts folgt hieraus aber auch, dass ein uneingeschränktes, also umfassendes Versagen von Lockerungen, und zwar selbst von begleiteten Ausführungen, gerade bei langjährigem Vollzug von Maßregeln regelmäßig nur in Betracht kommt, wenn trotz der hiermit einhergehenden Sicherungsvorkehrungen ein Missbrauch konkret zu befürchten steht, und dass ein allgemein gehaltener Hinweis auf eine fehlende Therapiebereitschaft und eine hieraus allgemein herzuleitende Gefährlichkeit das Ablehnen der entsprechenden Maßnahme nicht rechtfertigen kann (BVerfG vom 20. Juni 2012 [NStZ-RR 2012, 378] für das Versagen selbst von Ausführungen im Maßregelvollzug). Dies gilt nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats auch, soweit beim generellen Versagen von Lockerungen nicht nach einzelnen Lockerungsmaßnahmen differenziert wird und allein deshalb nicht zu erkennen ist, warum gerade bei begleiteten Ausführungen ein Risiko bzw. eine Missbrauchsgefahr nicht mit vertretbarem Aufwand auszuräumen ist (OLG Celle, StV 2012, 681, sowie Beschluss vom 28. Februar 2013 [1 Ws 563/10 StrVollz]). Hiermit setzen sich weder der Bescheid der Antragsgegnerin noch die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer auseinander. Dies gilt umso mehr, als jene Entscheidungen auch nicht erkennen lassen, ob der Antragsteller außer den - nachgeschoben - geschilderten verbalen Auffälligkeiten seit Absetzen der Medikation jemals in tatsächlicher Weise aggressiv in Erscheinung getreten ist, und ob dies eine abweichende Wertung rechtfertigen könnte.

3. Da der Senat nach alledem aber nicht ausschließen kann, dass die angefochtene Entscheidung auf dem aufgezeigten Mangel beruht, und auch nicht ersichtlich ist, dass die Strafvollstreckungskammer auf der Grundlage des Bescheids der Antragsgegnerin eine andere als eine diesen aufhebende Entscheidung wird treffen können, hat der Senat neben der angefochtenen Entscheidung der Strafvollstreckungskammer zugleich auch jene der Antragsgegnerin aufgehoben und diese zu erneuter Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats verpflichtet.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 138 Abs. 3, 121 Abs. 3 StVollzG, 467 Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung.

V.

Gegen diese Entscheidung ist nach §§ 138 Abs. 3, 119 Abs. 5 StVollzG ein Rechtsmittel nicht eröffnet.