Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 12.10.2017, Az.: 3 A 4622/17
Dublin III-VO; Italien; systemische Mängel
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 12.10.2017
- Aktenzeichen
- 3 A 4622/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2017, 53987
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 3 Abs 2 EUV 604/2013
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Das italienische Aufnahmesystem ist aufgrund bestehender Kapazitätsdefizite nach wie vor systemisch mangelhaft im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO.
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 18. Mai 2017 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich dagegen, dass die Beklagte ihren Asylantrag als unzulässig abgelehnt und ihre Abschiebung nach Italien angeordnet hat.
Die am F. geborene Klägerin ist eritreische Staatsangehörige. Ein in Bezug auf ihre Person ausgestellter Auskunftsnachweis – Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchende – des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) datiert vom 15. Dezember 2016. In einem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates am 27. Dezember 2016 gab sie gegenüber dem Bundesamt an, ihr Heimatland Eritrea im Juli 2015 verlassen zu haben. Sie sei zunächst über den Sudan und Libyen nach Italien gereist, wo sie am 24. Oktober 2016 in Sizilien angekommen sei. Fingerabdrücke habe sie in Italien nicht abgeben müssen; einen Antrag auf internationalen Schutz habe sie in dem Land nicht gestellt. Von Italien habe sie ihre Reise fortgesetzt und sei, über die Schweiz kommend, am 5. Dezember 2016 in Deutschland eingereist. Nach Italien wolle sie nicht überstellt werden. Sie und weitere jüngere Flüchtlinge seien dort schlecht behandelt worden. Sie sei gezwungen worden auf der Insel – Sizilien – zu bleiben, obwohl sie immer habe nach Deutschland weiterreisen wollen. Ihre Familie habe ihr Deutschland als Ziel genannt und ein Cousin mütterlicherseits von ihr lebe in Hamburg. Die italienischen Behörden hätten ihr ein Schriftstück gegeben, mit dem sie im Supermarkt Lebensmittel bekommen habe.
Eine Abfrage in der EURODAC-Datenbank ergab im Hinblick auf die Klägerin einen Treffer der zweiten Kategorie für Italien (IT2RG01Y9E). Nach dem Ergebnis der Abfrage hatte die Klägerin am 24. Oktober 2016 in Pozzallo, Sizilien, Fingerabdrücke abgegeben und einen Asylantrag gestellt. Das Bundesamt stellte am 16. Februar 2017 ein Aufnahmegesuch an Italien, auf welches die italienischen Behörden nicht reagierten.
Mit Bescheid vom 18. Mai 2017 – der Klägerin zugestellt am 20. Mai 2017 – lehnte die Beklagte deren Antrag unter 1. als unzulässig ab, stellte unter 2. fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen, ordnete unter 3. die Abschiebung nach Italien an und befristete unter 4. das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 des Asylgesetzes (AsylG) unzulässig. Aufgrund der illegalen Einreise über Italien sei dieses Land gemäß Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 22 Abs. 7 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) für die Behandlung des Asylantrages zuständig. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG lägen nach ihren Erkenntnissen nicht vor. In Betracht käme insoweit eine Verletzung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und damit verbunden die Prüfung, ob im Fall einer Abschiebung die Betroffene tatsächlich Gefahr liefe, einer dieser absoluten Schutznorm widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverwaltungsgerichts bestünden, um eine Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK im Rahmen von Überstellungen nach der Dublin III-VO anzunehmen, hohe Hürden. Daraus folge, dass das absolut geschützte Menschenrecht aus Art. 3 EMRK nicht vor einfachen Rechtsverletzungen schütze, die politisch und moralisch gravierend sein möchten, aber eben keine Gefahr einer unmenschlichen Behandlung begründeten, die allein eine Aussetzung des Dublin-Systems rechtfertige. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Italien führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Ebenso fehlten Gründe für die Annahme, dass bei ihrer Abschiebung eine Verletzung des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) zu befürchten sei. Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG lägen – auch unter Berücksichtigung der von der Klägerin in dem Gespräch am 27. Dezember 2016 vorgebrachten Einwände – ebenfalls nicht vor. Der Bescheid setzt sich sodann mit der Situation des Aufnahme- und Asylsystems in Italien im Jahr 2016 auseinander. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Die Anordnung der Abschiebung nach Italien beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Gründe für eine weitere Reduzierung der Befristung des Wiedereinreiseverbotes nach § 11 Abs. 4 AufenthG lägen nicht vor.
Am 29. Mai 2017 hat die Klägerin Klage gegen den Bescheid vom 18. Mai 2017 erhoben. Sie trägt zur Begründung im Wesentlichen vor, die Beklagte setze sich nicht mit der aktuellen asylrechtlichen Situation in Italien auseinander. Eine individuelle Prüfung bezüglich ihrer Person sei nicht erfolgt.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 18. Mai 2017 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
Die Beteiligten haben, die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 20. Juni 2017 und die Klägerin mit Schreiben vom 6. September 2017, auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Sie haben sich darüber hinaus, die Beklagte in ihrer allgemeinen Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 und die Klägerin mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2017 mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter einverstanden erklärt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die das Gericht mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung und gemäß § 87 a Abs. 2 und 3 VwGO durch den Berichterstatter entscheiden kann, ist zulässig und begründet.
Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass gegen Entscheidungen des Bundesamtes, die Durchführung eines Asylverfahrens nach Maßgabe von § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG abzulehnen, eine Anfechtungsklage statthaft ist (vgl. zur Vorgängernorm § 27 a AsylG: Nds. OVG, Beschl. v. 06.11.2014 – 13 LA 66/14 –, juris Rn. 7; VG Hannover, Urt. v. 30.05.2016 – 10 A 965/16 –, juris Rn. 16; OVG NRW, Urt. v. 07.03.2014 – 1 A 21/12.A –, juris Rn. 31).
Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 18. Mai 2017 ist rechtswidrig und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die in dem Bescheid unter dem Tenor zu 1. getroffene Entscheidung des Bundesamtes, den Asylantrag der Klägerin gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 a AsylG als unzulässig abzulehnen, hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Nach der benannten Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt.
Da die Klägerin ihren Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes in Deutschland nach dem 1. Januar 2014 gestellt hat, sind nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO die Vorschriften dieser Verordnung anzuwenden. Zwar ist das Bundesamt aufgrund von Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO zunächst zutreffend von einer Zuständigkeit Italiens und infolgedessen gemäß Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO von der Pflicht des Landes zur Wiederaufnahme der Klägerin ausgegangen. Denn diese ist aus einem Drittstaat kommend illegal erstmalig in das Gebiet der Mitgliedstaaten nach Italien eingereist. Zudem haben die italienischen Behörden auf das Aufnahmegesuch des Bundesamtes nicht reagiert.
Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hier jedoch gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, da eine mündliche Verhandlung nicht stattfindet. Zu diesem Zeitpunkt kann sich die Beklagte nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 Dublin III-VO auf eine Zuständigkeit Italiens nicht mehr berufen. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO bestimmt, dass, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Verfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 GRCh mit sich bringen, der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fortsetzt, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat – hier die Beklagte – unter anderem dann der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat vorgenommen werden kann.
So ist es hier. Eine Überstellung nach Italien erweist sich im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO als unmöglich, weil aufgrund systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen beziehungsweise des Asylverfahrens eine Abschiebung der Klägerin dorthin nicht durchgeführt werden kann.
Das Bundesverwaltungsgericht hat zu dem insoweit anzusetzenden Prüfungsmaßstab, dem die erkennende Kammer auch für Überstellungen nach der Dublin III-VO folgt, ausgeführt:
„Für das in Deutschland - im Unterschied zu anderen Rechtssystemen - durch den Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte verwaltungsgerichtliche Verfahren hat das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit (vgl. Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 22 m.w.N. = Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 39) einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus den Erwägungen des Gerichtshofs zur Erkennbarkeit der Mängel für andere Mitgliedstaaten ergibt (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 und Rs. C-493/10 - a.a.O. Rn. 88 bis 94), Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung der o.g. Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Dann scheidet eine Überstellung an den nach der Dublin-II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat aus.“
(BVerwG, Beschl. v. 19.03.2014 – 10 B 6/14 –, juris Rn. 9)
Ausgehend von diesen Maßstäben ist aktuell von systemischen Mängeln der Aufnahmebedingungen in Italien auszugehen.
Im Hinblick auf die Situation für eine Familie mit kleinen Kindern, die aufgrund einer Zuständigkeit Italiens nach der Dublin II-VO in das Land zurückgeschickt werden sollte, hat die Große Kammer des EGMR in ihrem Urteil vom 4. November 2014 – 29217/12, Tarakhel/Schweiz –, NVwZ 2015, 127, Leitsätze 4 bis 6, in diesem Zusammenhang ausgeführt:
„Bei einer Überstellung nach den Dublin-Regeln kann die Vermutung, dass der Aufnahmestaat Art. 3 EMRK beachtet, wirksam widerlegt werden, wenn es nachweislich ernsthafte Gründe gibt anzunehmen, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer gegen diese Vorschrift verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In Italien besteht ein flagrantes Missverhältnis zwischen der Zahl der Asylanträge, die sich nach den Angaben der italienischen Regierung am 15.6.2013 auf 14184 belief, und den 9630 Plätzen in Einrichtungen, die nach dem Vortrag der italienischen Regierung die Beschwerdeführer aufnehmen würden. Danach kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Zahl von Asylbewerbern keine Unterkunft findet oder nur in überbelegten Einrichtungen ohne jede Privatsphäre oder sogar in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen. Deswegen würde Art. 3 EMRK verletzt, wenn die Schweizer Behörden die Beschwerdeführer nach Italien überstellen ohne vorherige individuelle Zusicherungen der italienischen Behörden, dass sie in einer dem Alter der Kinder entsprechenden Weise aufgenommen werden und die Familieneinheit gewahrt wird.“
Diese Vorgaben gelten nach Auffassung der erkennenden Kammer über den vom EGMR in dem zitierten Urteil konkret entschiedenen Einzelfall hinaus auch für alleinstehende erwachsene Personen.
Soweit in der entgegenstehenden Rechtsprechung insbesondere behauptet wird, die Aussagen zu der Unterbringungssituation von Asylbewerbern in Italien in der Tarakhel-Entscheidung des EGMR und in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 17.09.2014 – 2 BvR 732/14 –, juris Rn. 15 f., seien ausschließlich auf die Situation von Familien mit kleinen Kindern bezogen und deshalb insbesondere auf alleinstehende (junge) Männer und/oder Frauen von vornherein nicht übertragbar (vgl. z. B. VG Aachen, Beschl. v. 17.12.2014 – 2 L 622/14.A –, juris Rn. 29 f.; VG Oldenburg, Beschl. v. 15.12.2014 – 12 B 2771/14 –, juris Rn. 35; VG Arnsberg, Beschl. v. 09.12.2014 – 5 L 1237/14.A –, juris Rn. 6; VG Ansbach, Beschl. v. 09.12.2014 – AN 14 K 14.50187b –, juris Rn. 30; VG Hannover, Beschl. v. 05.12.2014 – 6 B 13305/14 –, n. v.; VG Stade, Beschl. vom 02.12.2014, 6 B 2025/14, n. v.) stimmt die Kammer dem nicht zu. Die Feststellungen des EGMR in der Tarakhel-Entscheidung zu den tatsächlichen Verhältnissen in Italien (EGMR, Urt. v. 04.11.2014, a. a. O., Rn. 106 ff.) und seine Schlussfolgerung daraus (EGMR, Urt. v. 04.11.2014, a. a. O., Rn. 115) sind seinen weiteren Ausführungen zu der Situation der Beschwerdeführer in dem von ihm konkret entschiedenen Fall einer Familie mit mehreren Kindern (EGMR, Urt. v. 04.11.2014, a. a. O., Rn. 120 ff.) vorgelagert. Sie beziehen sich – erkennbar – auf die Situation des dortigen Asylsystems insgesamt und betreffen damit alle Asylbewerber in Italien. Auch das BVerfG hat seine Aussage zu den Kapazitätsengpässen im asylrechtlichen Unterbringungssystem in Italien in tatsächlicher Hinsicht gerade nicht auf die Situation von Familien mit kleinen Kindern beschränkt (BVerfG, Beschl. v. 17.09.2014 – 2 BvR 732/14 –, juris Rn. 15). Daraus folgt zugleich, dass der vorliegende systemische Mangel hinsichtlich der Aufnahmebedingungen in Italien in Form unzureichender angemessener Unterbringungsmöglichkeiten auch für alleinstehende junge Frauen oder Männer die Gefahr begründet, im Falle einer Rücküberstellung einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, was einer Abschiebung entgegensteht. Dagegen lässt sich auch nicht anführen, der EGMR selbst habe in der Tarakhel-Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Verhältnisse in Italien nicht mit jenen in Griechenland zu vergleichen seien, die den Gerichtshof dazu veranlasst hätten, Abschiebungen dorthin als mit der EMRK unvereinbar anzusehen (EGMR, Urt. v. 04.11.2014, a. a. O., Rn. 114). Nach dem Verständnis der Kammer hat der EGMR vielmehr in der Tarakhel-Entscheidung seine Rechtsprechung zu einem möglichen Verbot von Abschiebungen innerhalb des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auf der Rechtsfolgenseite fortentwickelt und ihr darin eine neue Kategorie im Sinne eines „auflösend bedingten“ Abschiebungsverbotes bei drohenden Menschenrechtsverletzungen hinzugefügt. Nach dem bisherigen Rechtsverständnis waren Abschiebungen auf der Grundlage der Dublin III-VO nur entweder zulässig, oder – ausnahmsweise – wegen zu befürchtender Menschenrechtsverletzungen in Folge eines systemischen Versagens des Asylsystems im Zielland unzulässig. Nunmehr sieht der EGMR zusätzlich die Möglichkeit als gegeben an, in den Fällen, in denen zwar systemische Schwachstellen im Asylsystem eines Mitgliedstaates bestehen, dieses System aber jedenfalls noch als so hinreichend leistungsfähig angesehen werden kann, dass im Einzelfall die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung bei einer Überstellung abwendbar erscheint, Abschiebungen weiterhin durchzuführen. Erforderlich ist dafür aber nach Auffassung des EGMR, dass der aufnehmende Staat, dessen Asylsystem systemische Schwachstellen aufweist, vor der Rücküberstellung eine auf den jeweiligen Einzelfall bezogene, hinreichend konkrete „Garantieerklärung“ zu einer menschenrechtskonformen Behandlung der zu überstellenden Person abgibt. In einem solchen Fall ist dann eine Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat trotz dort vorhandener systemischer Schwachstellen nicht (mehr) „unmöglich“ im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, sondern wird zulässig (grundsätzlich zum Ganzen: VG Hannover, Beschl. v. 29.01.2015 – 3 B 13203/14 –, juris Rn. 27 ff.; Beschl. v. 23.04.2015 – 3 B 2129/15 –, juris Rn. 23 ff.).
An dieser Rechtsprechung hält die Kammer nach erneuter Überprüfung auch unter Berücksichtigung der Entscheidung der 3. Sektion des EGMR vom 13. Januar 2015 – 51428/10, A. M. E./Niederlande –, www.hudoc.echr.coe.int (englische Sprachfassung) = Asylmagazin 2015, 74, 86, fest.
Soweit die 3. Sektion des EGMR in der benannten Entscheidung die Beschwerde eines jungen männlichen Asylsuchenden ohne abhängige Angehörige gegen seine Rückführung nach Italien verworfen hat, weil kein hinreichend reelles und unmittelbares Risiko erkennbar sei, das die Schwelle zu einer Eröffnung des Schutzbereichs von Artikel 3 EMRK erreiche, vermag die Kammer dieser Auffassung nicht zu folgen. Die 3. Sektion des EGMR hat in ihrer Entscheidung ohne erkennbare weitere Aufklärung des Sachverhalts keinen Anhalt für die Vermutung gesehen, dass der dortige Kläger außerstande sein würde, die zur Verfügung stehenden Ressourcen für Asylsuchende in Anspruch zu nehmen oder dass die italienischen Behörden nicht in angemessener Weise auf seine Bedürfnisse eingehen würden (EGMR, Urt. v. 13.01.2015 – 51428/10, A. M. E./Niederlande –, www.hudoc.echr.coe.int Rn. 36). Dies widerspricht aber den Feststellungen der Großen Kammer des Gerichtshofs in der Rechtssache Tarakhel. Danach sind jedenfalls hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Unterkünfte die Ressourcen in Italien derart knapp bemessen, dass es nicht genügt, Familien mit Kindern generell bevorzugt zu behandeln. Es bedarf vielmehr einer individuellen Zusicherung der geordneten Unterbringung.
Dass angesichts dessen sowie unter Berücksichtigung des aktuell gegenüber den Verhältnissen in 2014 nochmals erhöhten Zustroms von Flüchtlingen nach Italien alleinstehenden erwachsenen Asylsuchenden offenkundig keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK drohen soll, ist für die Kammer nicht nachvollziehbar. Die Kammer teilt insbesondere nicht die – auch nicht näher begründete – Auffassung der 3. Sektion des EGMR, es sei schon nicht ersichtlich, dass in diesen Fällen der Schutzbereich des Art. 3 EMRK berührt sei. Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR muss zwar eine Misshandlung ein notwendiges Minimum an Intensität erreichen, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, wobei dieses Minimum von den Umständen des Einzelfalls abhängt, beispielsweise der Dauer der Behandlung, ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie, in einigen Fällen, Geschlecht, Alter und dem Gesundheitszustand des Betroffenen (vgl. EGMR, Große Kammer, Urt. v. 26.10.2000 – 30210/96, Kudła/Polen –, NJW 2001, 2694, 2695 Rn. 91; Urt. v. 21.01.2011 – 30696/09, M. S. S./Belgien u. Griechenland –, NVwZ 2011, 413, 414 Rn. 219). Weiterhin hat der EGMR zwar wiederholt entschieden, dass Art. 3 EMRK die Vertragsparteien nicht allgemein dazu verpflichtet, jedem in ihrem Hoheitsgebiet ein Zuhause zur Verfügung zu stellen oder Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, Große Kammer, Urt. v. 18.01.2001 – 27238/95, Chapman/Vereinigtes Königreich –, ECHR 2001-I 43-89 (red. Leitsatz und Gründe – englische Sprachfassung); Urt. v. 21.01.2011. a. a. O., S. 415 Rn. 249). Zugleich hat der Gerichtshof aber betont, dass Asylsuchende als Angehörige einer besonders unterprivilegierten und verletzlichen Bevölkerungsgruppe besonderen Schutzes bedürfen. Auch das BVerfG hat festgestellt, dass von einer Rückführung in sichere Drittstaaten betroffene Ausländer – anders als bei einer Rückführung in ihr Heimatland – regelmäßig weder auf verwandtschaftliche Hilfe noch auf ein soziales Netzwerk bei der Suche nach einer Unterkunft für die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr zurückgreifen können (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.09.2014 – 2 BvR 732/14 –, juris Rn. 15 f.). Das betrifft die Klägerin als Frau oder einen alleinstehenden jungen Mann nicht weniger als eine Familie mit Kindern.
In einer solchen Konstellation sieht auch der EGMR in ständiger Rechtsprechung Art. 3 EMRK als verletzt an, wenn in einer Situation extremer materieller Armut und vollkommener Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung der Betroffene in einer Lage schwerwiegender Entbehrungen oder Not, die nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist, mit behördlicher Gleichgültigkeit konfrontiert wird (vgl. EGMR, 3. Sektion, Urt. v. 18.06.2009 – 45603/05, Budina/Russland –). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Verpflichtung, Asylsuchenden Unterkunft und hinreichende materielle Bedingungen zu gewähren, Bestandteil des positiven Rechts geworden und die Behörden gehalten sind, ihre eigene Gesetzgebung zu befolgen, aber ein dahingehendes Unterlassen es dem Betroffenen unmöglich macht, diese Rechte in Anspruch zu nehmen und für seine grundlegenden Bedürfnisse zu sorgen.
In diesem Zusammenhang sind die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie, ABl. L 180 S. 96), genannten Mindeststandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen. Nach Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie tragen die Mitgliedsstaaten dafür Sorge, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können, die einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet. Bei vorübergehenden Unterbringungsengpässen erlaubt Art. 18 der Aufnahmerichtlinie für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich sein sollte, niedrigere Standards der Unterbringung, wobei allerdings unter allen Umständen die Grundbedürfnisse gedeckt werden müssen. Zu diesen Grundbedürfnissen rechnet die Kammer auch die Unterkunft an sich, die Versorgung mit Nahrung, elementare Hygienebedürfnisse und den Schutz vor Übergriffen und geschlechtsbezogener Gewalt einschließlich sexueller Übergriffe und Belästigung in Unterbringungszentren.
Es steht für die Kammer außer Zweifel, dass auch die Klägerin diese Grundbedürfnisse tatsächlich hat. Es ist auch nicht erkenn- bzw. begründbar, dass Art. 3 EMRK diese in der Aufnahmerichtlinie konkretisierten elementaren Grundbedürfnisse nicht auch für die Gruppe der alleinstehenden, jungen und gesunden erwachsenen Asylsuchenden, der die Klägerin angehört, garantiert. Dass Art. 3 EMRK bei schutzbedürftigen Personen im Sinne von Art. 21 der Aufnahmerichtlinie die Berücksichtigung weiterer individueller Bedürfnisse gebietet – etwa hinsichtlich der gemeinsamen Unterbringung von Familien und des Schutzes der Kinder oder des Bedarfs besonderer medizinischer Versorgung –, steht dem nicht entgegen.
Auch der Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie:
„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet.
Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass dieser Lebensstandard gewährleistet ist, wenn es sich um schutzbedürftige Personen im Sinne von Artikel 21 und um in Haft befindliche Personen handelt.“
erlaubt keine derartige Differenzierung am untersten Rand der Existenzsicherung. Vielmehr sind eine – dauerhafte – Obdachlosigkeit und Unterernährung ebenso wie Gewalt und gesundheitsgefährdende Zustände in Unterkünften geeignet, auch alleinstehende erwachsene und (bisher) gesunde Asylbewerber an Grenzen der körperlichen und seelischen Belastbarkeit zu bringen, vor deren Überschreitung sie Art. 3 EMRK schützen soll (zum Ganzen: z.B. VG Hannover, Beschl. v. 23.04.2015 – 3 B 2129/15 –, juris Rn. 27 ff.).
Dass die Neufassungen der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU und der Aufnahme-richtlinie 2013/33/EU in das italienische Recht übernommen sind, ist keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass das Asylverfahren in Italien inzwischen richtlinienkonform ist (so aber OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 18.07.2016 – 13 A 1859/14.A –, juris Rn. 73 f.). Denn maßgeblich ist nicht der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade deren praktische Umsetzung (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 07.03.2014 - 1 A 21/12.A -, juris Rn. 91). Diese ist in Italien aber nach wie vor defizitär (so auch: VG Hannover, Urt. v. 03.08.2017 – 10 A 4960/17 –, n. v.).
Die erkennende Kammer hält an ihrer dargestellten Auffassung auch vor dem Hintergrund des Urteils des EGMR, Kammer II, vom 30. Juni 2015 – 39.350/13, A. S./Schweiz –, NLMR 2015, 202, 203, fest. Sofern der EGMR in dieser Entscheidung für den Fall einer Rücküberstellung eines Asylbewerbers mit einer posttraumatischen Belastungsstörung nach Italien eine Verletzung von Art. 3 EMRK verneint, vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Der EGMR stellt in seiner Begründung insoweit zunächst darauf ab, dass nach der Tarakhel-Entscheidung ernsthafte Zweifel an den Kapazitäten des italienischen Asylsystems bestünden. Die Möglichkeit einer rechtswidrigen Unterbringung einer erheblichen Zahl von Asylbewerbern könne daher nicht ausgeschlossen werden. In einem nächsten Schritt kommt der Gerichtshof dann zu dem Schluss, dass sich der Beschwerdeführer allerdings derzeit nicht in einem kritischen Gesundheitszustand befinde. Es fehlten Anzeichen dafür, dass er, wenn er nach Italien zurückgeschickt werde, keine angemessene medizinische Versorgung erhalten würde. Für die Kammer ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Weiteres erkennbar, dass die von dem EGMR erneut ausdrücklich hervorgehobenen Bedenken hinsichtlich einer Verletzung von Art. 3 EMRK aus der Tarakhel-Entscheidung ausgeräumt oder anders zu bewerten sind. Denn die zu befürchtende Rechtsverletzung resultiert bereits aus den vorhandenen Kapazitätsengpässen des italienischen Aufnahme- und Unterbringungssystems. In welchem Maße ein Asylbewerber erkrankt ist oder ob er bei einer Erkrankung Zugang zu medizinischer Versorgung erwarten kann, steht mit dieser Annahme schon grundsätzlich nicht in einem direkten Zusammenhang. Schwerlich kann aber aus dem Umstand, dass eine erkrankte Person nicht hinreichend dargelegt hat, welche Schwierigkeiten in Italien im Hinblick auf ihre notwendige medizinische Behandlung bestehen, der Schluss gezogen werden, rücküberstellte Asylbewerber wären von den unstreitig vorhandenen Kapazitätsproblemen nicht betroffen.
Sofern die 3. Sektion des EGMR in ihrer Entscheidung vom 4. Oktober 2016 – 30474/14, Ali u. a./Schweiz u. Italien –, www.hudoc.echr.coe.int (englische Sprachfassung) = juris Orientierungssatz, ausführt, einer Familie mit minderjährigen Kindern drohe im Falle einer Überstellung keine menschenunwürdige Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, sieht die Kammer sich ebenfalls nicht veranlasst, ihre bisherige Rechtsprechung aufzugeben. Der EGMR hat in diesem Fall die von den italienischen Behörden abgegebene Zusicherung der Zuweisung einer kindgerechten Unterkunft bei Dublin-Rückkehrfamilien für ausreichend und mit europäischem Recht vereinbar gehalten. Wenn sich der EGMR in seiner Entscheidung vom 4. Oktober 2016 auf die von Italien in Reaktion auf die Tarakhel-Entscheidung allgemein erklärte Garantie bezieht, ist diese – auch mit den fortlaufend übersandten Listen der SPRAR-Projekte und der Praxis der Mitgliedstaaten, die italienischen Behörden 15 Tage vor einer Überstellung zu informieren – nicht ausreichend, um die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK auszuräumen. Nach dem Tarakhel-Urteil des EGMR vom 4. November 2014 hat Italien allgemein erklärt, alle Familien mit Kindern würden im Falle einer Rückkehr nach den Dublin-Regeln zusammenbleiben und familien- beziehungsweise kindgerecht untergebracht. Diese Erklärung ist ohne jeglichen Einzelfall-Bezug für alle Dublin-Rückkehrer abgeben worden und für sich genommen daher ohne Aussagewert. Der EGMR hat in der Tarakhel-Entscheidung vor dem Hintergrund der vorhandenen systemischen Mängel und als Reaktion auf diese „vorherige individuelle Zusicherungen der italienischen Behörden“ verlangt. Einem systemimmanenten Missstand kann aber weder durch eine allgemeine Erklärung noch durch die schlichte Information, dass eine Person überstellt wird, wirkungsvoll begegnet werden. Erforderlich ist insoweit vielmehr, dass von Italien in jedem Fall eine individuelle Unterbringung garantiert wird. Denn nur dann ist die aufgrund der systemischen Schwachstellen generell bestehende Befürchtung einer Verletzung von Art. 3 EMRK nicht mehr gerechtfertigt.
Die Auswertung aktueller Erkenntnismittel zeigt auf, dass sich die Lage in Italien auch im Jahr 2017 nicht grundlegend verändert hat. Nach wie vor sind die vorhandenen Kapazitäten der Aufnahme- und Unterbringungssysteme nicht ausreichend, um die vorhandenen sowie die neuankommenden Flüchtlinge mit einer Unterkunft zu versorgen.
Nach dem „Country Report: Italy“ der Asylum Information Database vom Februar 2017 (AIDA-Report) besteht das Missverhältnis zwischen den erforderlichen und den verfügbaren Plätzen trotz einer Erhöhung der Unterkunftsmöglichkeiten seit 2014 jedenfalls auch zu Beginn des Jahres 2017 fort. Verschärfend wirke sich nach dem Bericht aus, dass mittlerweile die überwiegende Zahl der Antragsteller in temporären Notunterkünften – den sogenannten CAS-Aufnahmezentren – unter problematischen Bedingungen untergebracht werde. Den 181.436 Flüchtlingen, die im Jahr 2016 nach Italien eingereist sind, standen im Februar 2017 einschließlich der beschriebenen Notunterkünfte 175.734 Plätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen gegenüber, welche allerdings keineswegs nur für die im laufenden Jahr eingereisten Antragsteller ausreichen müssen, sondern auch für die bereits im Land befindlichen Antragsteller (so auch: Verwaltungsgericht Hannover, Urt. v. 03.08.2017 – 10 A 4960/17 –, n. v.).
Die Unterbringungssituation für geflüchtete Personen in Italien war auch im Verlauf des ersten Halbjahres 2017 weiterhin unzureichend. Im April 2017 waren nach Regierungsangaben insgesamt 175.385 Asylsuchende in Aufnahmezentren untergebracht. Die vorhandenen Kapazitäten waren daher bereits zu diesem Zeitpunkt nahezu ausgeschöpft. Die überwiegende Zahl – 136.706 Personen – kam in sogenannten „temporären“, „außerordentlichen“ Zentren unter. Nur 25.563 Personen lebten in besser eingerichteten Zentren, die zuständig für den Schutz der Asylsuchenden und Geflüchteten sind (Pro Asyl: Die schwierige Situation von Flüchtlingen in Italien, 06.04.2017, www.proasyl.de). Schon diese Zahlen machen deutlich, dass es den italienischen Behörden trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen ist, eine ausreichende Anzahl an angemessenen Unterbringungsmöglichkeiten vorzuhalten. Die Situation hat sich aufgrund des stetig anwachsenden Zustroms von Flüchtlingen weiter zugespitzt. Von Januar bis Ende Juni 2017 sind rund 80.000 Migranten in Italien eingetroffen. Dies bedeutet eine Steigerung um 14,5 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum 2016. Die in dem Land vorhandenen Flüchtlingsunterkünfte waren zum Ende dieses Zeitraumes heillos überfüllt (Die Presse: 10.000 Flüchtlinge in vier Tagen: Italien droht mit Hafensperre, 28.06.2017, www.diepresse.com). Bis zum 19. Juli 2017 wurden gut 93.000 Menschen gezählt, die über das Mittelmeer Italien erreicht haben. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum – 2016 war mit insgesamt 180.000 Flüchtlingen das Rekordjahr – liegt darin eine Steigerung von rund 10.000 Personen (Die Tageszeitung: Hungerstreik für weniger Migranten, 24.07.2017, www.taz.de.) Nach einem Bericht des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) vom August 2017 hat sich die Zahl der von Nordafrika über das Mittelmeer nach Italien gelangten Personen gegenüber dem Vorjahreszeitraum sogar um 19 Prozent erhöht (UNHCR: Desperate Journeys, S. 9, August 2017, www.unhcr.org). Bei der Auswertung der genannten Zahlen ist zu berücksichtigen, dass in den vergangenen Jahren nur ein Teil der Eingereisten in Italien einen Asylantrag gestellt hat. Eine Vielzahl von Personen ist in andere europäische Länder weitergereist. Diese Möglichkeit ist aufgrund der seit 2015 deutlich engmaschigeren Grenzkontrollen sowie der fast lückenlosen Erfassung der Flüchtlinge in den italienischen Hotspots deutlich reduziert (Die Tageszeitung: Hungerstreik für weniger Migranten, 24.07.2017, www.taz.de). Der mit dieser Entwicklung einhergehende erhöhte Unterbringungs- und Organisationsaufwand lässt darauf schließen, dass sich die Kapazitätsengpässe weiter verschärfen werden. Zwar wurde als Reaktion auf den stetigen Zustrom nach Angaben des Innenministeriums die Zahl der Flüchtlingsunterkünfte in den vergangenen vier Jahren mehr als verfünffacht. Diese Anstrengungen sind aber dennoch nicht ausreichend, weswegen die Regierung derzeit 20.000 zusätzliche Unterkünfte sucht (Österreichischer Rundfunk: Erneut Tausende in Italien angekommen, 15.07.2017, www.orf.at.). Die Bemühungen der Regierung sind aufgrund des weiterhin bestehenden Kapazitätsdefizits indes für sich genommen nicht geeignet, von einem in systemischer Hinsicht mangelfreien italienischen Aufnahme- und/oder Asylsystem auszugehen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Umsetzung des Vorhabens wegen der zunehmenden Weigerung der Kommunen, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, ungewiss ist (Österreichischer Rundfunk: Erneut Tausende in Italien angekommen, 15.07.2017, www.orf.at; Die Tageszeitung: Hungerstreik für weniger Migranten, 24.07.2017, www.taz.de).
Aufgrund des Mangels von Aufnahmekapazitäten ist nach dem AIDA-Report auch bei Dublin-Rückkehrern damit zu rechnen, dass diese Personen sich selbstständig eine Unterkunft suchen müssten. Dies gilt insbesondere deshalb, weil keine besonderen Unterbringungsmöglichkeiten mehr für diese Personengruppe vorgehalten werden (Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe an das VG Hannover vom 12.09.2017). Hierfür sprechen auch die Ergebnisse des Monitoring-Projektes des Danish Refugee Council und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe “Is mutual trust enough?“ vom Februar 2017, zu finden über www.fluechtlingshilfe.ch (Monitoring Bericht). Danach konnte in keinem der sechs beobachteten Fälle von den Ende 2016 im Rahmen des Dublin-Verfahrens zurückgenommenen Asylbewerbern den Betroffenen bei ihrer Rückkehr eine SPRAR-Unterkunft zur Verfügung gestellt werden, obgleich es sich ausnahmslos um besonders „vulnerable“ und daher bevorzugt zu behandelnde Personen wie schwangere Frauen und Familien mit Säuglingen handelte (s. auch: VG Braunschweig, Urt. v. 21. April 2017 – 5 A 273/16 –, n. v.). Einer schwangeren Frau wurde am Flughafen in Mailand von Polizisten mitgeteilt, dass sie ihr keine Unterkunft anbieten könnten, sie müsse selbst eine finden. Die Frau musste eine Woche auf der Straße schlafen und wurde durch private Hilfen mit Essen versorgt (Monitoring-Bericht, S. 10 f.). Ein Ehepaar – die Frau erwartete ebenfalls ein Kind –, das einer Abschiebung zuvorkommen wollte und deshalb freiwillig aus der Schweiz nach Italien ausgereist ist, musste dort ebenfalls eine Woche auf der Straße leben. Anschließend bekam zunächst die schwangere Frau und mehrere Tage später auch ihr Mann einen Platz in einer Unterkunft. Auch wenn die Ergebnisse des Monitoring-Berichts aufgrund der geringen Fallzahlen nicht repräsentativ sein mögen, ist der Umstand, dass in zwei von sechs Fällen besonders schutzwürdige Personen auf der Straße leben mussten, ein starkes Indiz für systemische Schwachstellen des italienischen Unterkunftssystems. Bei alleinstehenden Personen oder Personen, die nach Italien überstellt werden, ist in den meisten Fällen festzustellen, dass diese Personen keine Unterstützung von den Organisationen am Flughafen erhalten und sich mindestens die erste Zeit ohne Unterkunft durchschlagen müssen. Dies betrifft auch alleinstehende Frauen (Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe an das VG Hannover vom 12.09.2017).
Der Einschätzung, dass das italienische Asyl- und Aufnahmeverfahren systemisch mangelhaft ist, steht nicht entgegen, dass seit etwa Mitte Juli 2017 deutlich weniger Migranten Italien erreichen. Zwar sank die Zahl der ankommenden Personen nach Angaben des italienischen Innenministeriums im August 2017 sogar um 90 Prozent (Die Zeit: Italien meldet Rückgang von Flüchtlingszahlen, 28.08.2017, www.zeit.de). Angesichts der dargestellten, über Jahre bestehenden und während des gesamten ersten Halbjahres 2017 stetig zunehmenden Probleme in Bezug auf die Unterbringungskapazitäten ist jedoch nicht davon auszugehen, dass sich die Situation jetzt schon hinreichend entspannt hat. Insoweit bleibt abzuwarten, ob es sich um eine langfristige Entwicklung handelt.
Die zu der Frage der systemischen Mängel des italienischen Asyl- und Aufnahmeverfahrens aktuell ergangene anderslautende Rechtsprechung rechtfertigt keine andere Beurteilung. Sofern in den erstinstanzlichen Entscheidungen systemische Mängel verneint werden (VG München, Beschl. v. 12.07.2017 – M 9 S 17.51545 –, juris Rn. 27 ff.; VG Cottbus, Beschl. v. 12.07.2017 – 5 L 442/17.A –, juris Rn. 11 ff.; VG Osnabrück, Beschl. v. 08.08.2017 – 5 B 212/17 –, juris Rn. 11 ff.), beruht die Einschätzung im Wesentlichen auf Rechtsprechung und Erkenntnismitteln der vergangenen Jahre. Soweit die Gerichte – so auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 18. Juli 2016 – 13 A 1859/14.A –, juris Rn. 105 – in ihrer Entscheidung darauf abstellen, die Schwelle zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch Italien wäre erst dann überschritten, wenn – was nicht erkennbar sei – absehbar wäre, dass auf die erhöhte Zahl von Einwanderern keinerlei Maßnahmen zur Bewältigung des Problems ergriffen würden, ist dem nicht zu folgen. Im Hinblick auf die Frage, ob in einem bestimmten Mitgliedstaat systemische Mängel bestehen, kommt es nicht maßgeblich darauf an, inwieweit sich der betroffene Staat um die Behebung einer vorhandenen Mangellage bemüht. Entscheidend ist vielmehr, ob die tatsächlichen Begebenheiten darauf schließen lassen, dass aufgrund der in größerem Maße vorhandenen Funktionsstörungen auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine rechtswidrige Behandlung droht. Dies kann aber auch dann der Fall sein, wenn sich der Mitgliedstaat zwar bemüht, die Funktionsstörung zu beseitigen, seine Maßnahmen aber – wie in Italien – noch nicht den gewünschten Erfolg herbeigeführt haben. Sofern das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen systemische Mängel auch mit der Begründung verneint, nach Italien rücküberstellten Personen drohe keine monatelange Obdachlosigkeit (OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18.07.2016 – 13 A 1859/14.A –, juris Rn. 75), folgt die erkennende Kammer dem nicht. Systemische Rechtsverletzungen sind nach den dargestellten Maßstäben (s. o.) nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil rücküberstellte Flüchtlinge keine monatelange Obdachlosigkeit zu befürchten haben. Insoweit ist bereits nicht davon auszugehen, dass ein Eingriff in die betroffenen Schutzgüter aus Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK erst dann vorliegt, wenn ein Flüchtling mehrere Monate auf der Straße leben muss. Darüber hinaus kommt es nach den dargestellten Maßstäben (s. o.) nicht darauf an, wie lange rücküberstellte Personen mit einem Leben auf der Straße rechnen müssen. Der Umstand, dass nach den Regeln der Dublin III-VO rücküberstellte Personen regelmäßig mit Obdachlosigkeit rechnen müssen, ist insoweit ausreichend.
Italien hat im Fall der Klägerin eine Unterbringungsmöglichkeit nicht im Sinne der Tarakhel-Rechtsprechung individuell garantiert. Vielmehr erfolgte auf das Übernahmeersuchen der Beklagten keine Reaktion seitens der italienischen Behörden.
Es bestehen im Falle der Klägerin zudem keine Anhaltspunkte für eine Zuständigkeit eines anderen – dritten – Staates im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO. Dass ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens vom Bundesamt in Betracht gezogen worden ist und zeitnah mit Erfolg um Übernahme des Klägers gebeten werden könnte, ist nicht ersichtlich.
Mit der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung sind die Entscheidungen in dem angegriffenen Bescheid unter 2. – angeordnete Abschiebung nach Italien –, 3. – Abschiebungsverbote – und unter 4. – Einreiseverbot – gegenstandslos geworden und zur Klarstellung ebenfalls aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.