Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 18.08.2020, Az.: 1 B 229/20

häusliche Gewalt; wechselseitige Gewalt; Platzverweis; Wegweisung; Wohnungsverweisung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
18.08.2020
Aktenzeichen
1 B 229/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71510
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

Der vom Antragsteller gestellte Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO hat Erfolg, weil sich die Verfügung der Antragsgegnerin vom 12. August 2020 bei summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist.

Dies folgt zwar noch nicht aus der vorliegend fehlenden Anhörung zur beabsichtigten Maßnahme, weil diese gemäß § 45 Abs. 2 VwVfG bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden kann. Damit ist das Hauptsacheverfahren und nicht das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gemeint. Dementsprechend führt der Abschluss eines Eilverfahrens nicht zur Beendigung der Heilungsmöglichkeit (vgl. OVG Niedersachsen, Beschl. v. 9. Dezember 2019 - 11 ME 337/19 - m.w.N.). Dass eine ordnungsgemäße Anhörung des Antragstellers nach Aufnahme des Sachverhalts durch die vor Ort eingesetzten Beamten nicht erfolgt ist, verdeutlicht bereits der von PK D. angefertigte Bericht vom 13. August 2020, in dem lediglich festgehalten wird, dass der Antragsteller nach Ausspruch der Wohnungsverweisung (von sich aus) unter Tränen erklärt habe, in Göttingen niemanden zu haben, wo er hingehen könne, ohne dass dies in den Entscheidungsprozess eingeflossen wäre. Von der Anhörung konnte nach den Umständen des Einzelfalls auch nicht nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG abgesehen werden, weil der Antragsteller vor Ort zugegen und eine maßgebliche Verzögerung der Entscheidung nicht zu befürchten war.

Allerdings wird sich die angefochtene Wohnungsverweisung im Hauptsacheverfahren voraussichtlich auch in der Sache als rechtswidrig erweisen. Nach § 17a Abs. 1 Satz 1 NPOG kann die Polizei eine Person für die Dauer von höchstens 14 Tagen aus der von ihr bewohnten Wohnung verweisen und ihr das Betreten der Wohnung und den Aufenthalt in einem bestimmten Umkreis der Wohnung untersagen, wenn dies erforderlich ist, um eine von dieser Person ausgehende gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung von einer in derselben Wohnung wohnenden Person abzuwehren.

Insoweit ist bereits fraglich, ob die (unzweifelhaft) vorliegende Gefahr weiterer Körperverletzungen, die aufgrund der u.a. im Rahmen des Einsatzes vom 1. August 2020 bekannt gewordenen Vorgeschichte auch als gegenwärtig zu bewerten war, tatsächlich vom Antragsteller ausgeht. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Beigeladene im Rahmen des am 1. August 2020 erfolgten Polizeieinsatzes eingeräumt hatte, dem Antragsteller einen Tisch samt Aschenbecher entgegengeschleudert und diesen mit einem Staubsaugerkorpus geschlagen zu haben, als er versuchte, den von der Beigeladenen ausgehenden Übergriff abzuwehren und sich ins Badezimmer zu flüchten. Auch bei dem weiteren Vorfall vom 12. August 2020, der zur hier streitgegenständlichen Wohnungsverweisung des Antragstellers führte, war es die Beigeladene, die den Antragsteller selbst nach eigenen Schilderungen zuerst körperlich attackiert hatte, weil sie „etwas ausgerastet“ sei. Die im Rahmen der Auseinandersetzung lediglich aufgetretene Beule am Kopf der Beigeladenen ließe sich sowohl mit der Darstellung des Antragstellers in Einklang bringen, wonach die Beigeladene im Rahmen einer von ihm ausgeführten Abwehrbewegung gegen den Türrahmen gestoßen sei, als auch mit der (insoweit abweichenden) Schilderung der Beigeladenen, wonach der Antragsteller ihren Kopf absichtlich gegen die geflieste Badezimmerwand gestoßen habe. Dagegen ließen sich für den von der Beigeladenen weiterhin behaupteten Würgegriff vor Ort und entgegen der Darstellung der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 13. August 2020 gerade keine entsprechenden Würgemale, Rötungen etc. feststellen (vgl. den von PKA E. und PK’in F. angefertigten Vermerk vom 13. August 2020).

Vor dem geschilderten Hintergrund ließe sich allenfalls annehmen, dass es sich um einen Fall von wechselseitiger Gewaltausübung handelt, bei dem nicht festzustellen ist, wer den „größeren Anteil“ trägt oder wer die größere Gefahr verursacht. Dass der Antragsteller als Mann die stärkere und schon deshalb gefährlichere Person wäre, lässt sich jedenfalls dann nicht anführen, wenn die Frau - wie hier - ihrerseits dazu neigt, Gegenstände als Hilfsmittel der Gewalt einzusetzen. In derartigen Konstellationen entspricht es der Verhältnismäßigkeit, denjenigen Partner aus der Wohnung zu verweisen, dem es eher zuzumuten ist, diese zu verlassen bzw. dessen Verweisung das am wenigsten eingriffsintensive Mittel darstellt (vgl. VG Lüneburg, Beschl. v. 13. Juni 2003 - 3 B 47/03 -; BeckOK PolR Nds/Waechter, 15. Ed. Stand Januar 2020, NPOG § 17a Rn. 24; Saipa u.a./Beckermann, NPOG, 26. Ergl. Stand November 2019, § 17a Rn. 7). Derartige Erwägungen sind von den Einsatzbeamten vor Ort jedoch - schon aufgrund der fehlenden Anhörung - überhaupt nicht angestellt worden. Wären die hier vorliegenden Umstände des Einzelfalls berücksichtigt worden, hätte sich ergeben, dass es der Beigeladenen bereits nach der vormals gegen sie gerichteten Wohnungsverweisung vom 1. August 2020 und auch danach noch einmal ohne Weiteres kurzfristig gelungen war, bei ihrer Schwägerin unterzukommen, während der Antragsteller nach seinen unbestrittenen Angaben in Göttingen über keinerlei Freunde oder Familienangehörige verfügt, die ihn aufnehmen könnten. Entsprechend gab der Antragsteller im gerichtlichen Verfahren an, derzeit in seinem Pkw zu übernachten und damit faktisch obdachlos zu sein.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung erfolgt gem. §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Ziff. 35.4 und 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Eine Halbierung des Werts ist im hiesigen Eilverfahren nicht angezeigt, weil sich die zugrundeliegende Maßnahme kurzfristig erledigt und die Entscheidung im Eilverfahren somit einer Entscheidung über die Hauptsache gleichkommt.