Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 01.06.2001, Az.: 6 U 6/01

Aussichtslosigkeit; Berufungsrücknahme; Kollegialgericht; Meinungsäußerung; negative Prozeßprognose; Pflichtverletzung; positive Vertragsverletzung; Prüfungspflicht; Rechtsanwaltshaftung; Rechtsanwaltsvertrag; Rechtsmittelrücknahme; schriftliche Ankündigung; Zeugenaussage

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
01.06.2001
Aktenzeichen
6 U 6/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 40287
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG - 03.11.2000 - AZ: 13 O 2473/00

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 03.11.2000 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Wert der Beschwer übersteigt nicht 60.000,00 DM.

Tatbestand:

1

Der Kläger macht Schadensersatzansprüche aus einem Anwaltsvertrag geltend.

2

Er ist Eigentümer des Hauses ...  in E.... Die Eigentümerin des benachbarten Grundstückes ..., deren Haus mit dem des Klägers durch einen gemeinsamen Brandgiebel verbunden war, hat ihr ursprüngliches Haus abreißen und ein neues Gebäude errichten lassen.

3

Nach Abschluß der Baumaßnahmen hat der Kläger den Sachverständigen M. beauftragt, Beschädigungen an seinem Hause zu begutachten.

4

Der Sachverständige stellte fest, dass ein Regenfallrohr am Hause des Klägers abgetrennt worden war, Verschmutzungen des Blendmauerwerks im Bereich der abgebrochenen ehemaligen Eingangsstufenanlage vorhanden und dass in der Erdgeschoßwohnung im Brandgiebel des Hauses des Klägers Rißbildungen und Putzablösungen aufgetreten waren.

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Wegen dieser Beschädigungen hat der Kläger mit der Behauptung, die Mängel seien auf den Abriß bzw. die Neuerrichtung des Hauses auf dem Nachbargrundstück zurückzuführen, die Eigentümerin des Nachbargrundstückes vor dem Landgericht Aurich (Az.: 4 O 464/97) wegen Schadensersatzes in Anspruch genommen.

6

Das Landgericht hat mit Urteil von 11.06.1998 die Klage abgewiesen.

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Daraufhin hat der Kläger die Beklagten mit der Einlegung der Berufung, der Prüfung der Erfolgsaussichten und später der Durchführung der Berufung beauftragt.

8

Nach Einlegung der Berufung stellte er zudem einen Antrag im selbständigen Beweisverfahren zur Prüfung der Frage, ob die rückseitige Entwässerung des Hauses ... ausschließlich über den Anbau des Hauses des Klägers erfolgt sei und dort zu Durchfeuchtungen geführt habe.

9

Der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg hat mit der Begutachtung den Sachverständigen ... P... beauftragt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 14.12.1998 ausgeführt, dass das auf dem Nachbargrundstück des Klägers installierte, das Wasser auf sein Flachdach ableitende Regenfallrohr nicht zu Wasserschäden geführt haben könne. Ursache dafür seien vielmehr Mängel des Daches selbst.

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Nach Eingang des Gutachtens hat der Vorsitzende des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg Termin auf den 14.03.1999 anberaumt und prozeßleitend die Zeugen  B... und M... geladen.

11

Am 10. März 1999, wenige Tage vor dem anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung, ging eine schriftliche Erklärung des Zeugen B... bei Gericht ein.

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Darin hat der Zeuge unter anderem ausgeführt:

13

"Zu besagtem Sachverhalt (wann genau der Sachverständige meine derzeitige Wohnung in der ...  besichtigte) kann ich Ihnen jedoch keine genauen Zeitangaben machen, da der Vorfall bereits mehrere Jahre zurückliegt. Ich bin jedoch bereit, eine Zeugenaussage bezüglich des Sachverständigen zu machen, dass heißt ich bestätige jederzeit, dass keine Schäden vor den Rammarbeiten meiner Mietwohnung zu sehen waren. Der Schaden entstand erst bei Ausführung der Rammarbeiten, zu diesem Zeitpunkt verständigte ich meinen Vermieter, Herrn ... J..., der daraufhin mit einem Gutachter meine Wohnung besichtigte."

14

Vor Eintritt in die mündliche Verhandlung, hat der Vorsitzende des 1. Zivilsenats den Prozeßbevollmächtigten des Klägers, den Beklagten zu 1) eindringlich belehrt, dass das Rechtsmittel wegen der angekündigten Aussage des Zeugen B. und des im Beweissicherungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens ohne jede Erfolgsaussicht sei.

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Daraufhin nahm der Beklagte zu 1) die Berufung des Klägers zurück.

16

Mehrere Wochen nach dem Termin, am 12.04.1999, setzte sich der Zeuge B. mit der Beklagten zu 4) telefonisch in Verbindung und teilte mit, dass er zwischenzeitlich Unterlagen gefunden habe, aus denen sich ergebe, daß entgegen seiner schriftlichen Stellungnahme gegenüber dem 1. Zivilsenat die Schäden nicht im zeitlichen Zusammenhang mit den Rammarbeiten, sondern vielmehr bei Durchführung der Abrißarbeiten entstanden seien.

17

Der Kläger hat behauptet, dass ohne Rücknahme der Berufung der Senat die Zeugen vernommen und der Irrtum des Zeugen B. bereits im Rahmen der Vernehmung zu Tage getreten wäre und zu einer Korrektur der Aussage geführt hätte.

18

Der Senat hätte seine zunächst geäußerte Beurteilung geändert und der Kläger hätte im Rechtsstreit obsiegt .

19

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, dass die Rücknahme der Berufung schon deshalb dem Gebot der anwaltlichen Sorgfalt widersprochen habe, zum anderen aber auch, weil der Beklagte die vor Rücknahme der Berufung notwendige Abstimmung mit dem Kläger unterlassen habe.

20

Die Beklagten haben behauptet, dass nach der schriftlichen Stellungnahme nicht mit einer anderen Aussage des Zeugen B. zu rechnen gewesen sei.

21

Ihrer Auffassung nach sei in der Rücknahme der Berufung eine schuldhafte Pflichtverletzung des Anwaltsvertrages nicht zu sehen.

22

Da die Berufung nach der ausdrücklichen Erklärung des Berufungsgerichts chancenlos und ein weiteres Rechtsmittel nicht gegeben gewesen sei, sei die Rücknahme der Berufung zur Schadensverminderung, nämlich der Vermeidung zweier weiterer Gebühren, sachgerecht gewesen.

23

Das Landgericht hat mit Urteil vom 03.11.2000 die vorliegende Klage abgewiesen.

24

Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, dass die Rechtsmittel-Rücknahme durch den Beklagten zu 1) ein schuldhaftes Fehlverhalten nicht darstelle. Da der Senat unabhängig von der weiteren Beweisaufnahme ganz offensichtlich bereits zu einer bestimmten Überzeugung gelangt sei, hätte eine Beweisaufnahme nur weitere, vom Kläger zu tragende, Kosten verursacht.

25

Einer vorherigen Abstimmung mit dem Kläger habe es nicht bedurft, da der Anwalt - sofern ihm besondere Weisungen nicht erteilt sind - den Auftrag aus eigener Entscheidung erledigen könne.

26

Mit der Berufung verfolgt der Kläger unter Wiederholung und Konkretisierung seines erstinstanzlichen Vortrages weiterhin den mit der Klage geltend gemachten Schadensersatz.

27

Der Kläger beantragt,

28

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 34.885,37 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 15.07.1999 zu zahlen.

29

Die Beklagten beantragen,

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die Berufung zurückzuweisen.

31

Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

32

Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache keinen Erfolg.

33

Das Landgericht Oldenburg ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß dem Kläger der geltend gemachte Schadensersatz nicht zusteht.

34

Auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

35

Eine positive Vertragsverletzung (§§ 280, 286 BGB analog) des zwischen den Parteien geschlossenen Anwaltsvertrages (§ 675 BGB) durch die Beklagten kann nicht festgestellt werden.

36

Dieser Vertrag, durch den die Beklagten mit der Prozeßvertretung des Klägers in dem Berufungsverfahren 1 U 110/98 - Oberlandesgericht Oldenburg - betraut wurden, begründete für die Beklagten die Verpflichtung, den Kläger umfassend zu beraten und seine Interessen innerhalb der Gesetze und Standesrechte in optimaler Weise wahrzunehmen (OLG Frankfurt NJW 1988, Seite 3269 ff, 3270 [OLG Frankfurt am Main 12.01.1988 - 14 U 178/86]).

37

Dem ist der Beklagte zu 1) im Senatstermin am 18. März 1999 in nicht zu beanstandender Weise nachgekommen.

I.

38

Vor Eintritt in die mündliche Verhandlung hatte der Vorsitzende des 1. Zivilsenats auf die nach Auffassung des Senats fehlenden Erfolgsaussichten für das Rechtsmittel hingewiesen und dies auch im einzelnen erläutert.

39

Zwar durfte der Beklagte zu 1) nicht allein wegen des Hinweises des 1. Senats die Berufung zurücknehmen, da ein Anwalt von Richtern vertretenen Auffassungen nicht blindlings Folge leisten darf, sondern diese auf ihre Tauglichkeit und rechtliche Haltbarkeit zu prüfen hat (vgl. Vollkommer, Anwaltshaftungsrecht, 1989, Rnr. 303). Auf die Meinung eines Kollegialgerichtes darf sich ein Anwalt dann nicht verlassen, wenn der gerichtliche Vorschlag unvertretbar erscheint und gegen eine negative gerichtliche Entscheidung noch ein Rechtsmittel zulässig gewesen wäre (Rinsche, Haftung des Rechtsanwalts und Notars, 5. Aufl., Rnr. I 154, 155; OLG Frankfurt a.a.O.)

40

Wenn allerdings Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Meinungsäußerung des Kollegialgerichts nicht erkennbar sind, so kann dem Anwalt, der sich danach richtet, auch dann kein Schuldvorwurf gemacht werden, wenn sich zu einem späteren Zeitpunkt ein anderes Bild ergibt (vgl. Rinsche, a.a.O. Rnr. I 157).

41

So liegt der Fall hier.

42

Zutreffend hat das Landgericht ausgeführt, dass nach dem unmißverständlichen Hinweis des Senats die Berufungsrücknahme zur Vermeidung weiterer Kosten im Interesse des Klägers nahelag.

43

Die Bewertung des Senats, dass wegen der schriftlichen Äußerung des Zeugen B. und dem Ergebnis des Gutachtens des Sachverständigen P. Erfolgsaussichten für das Rechtsmittel nicht bestünden, ist nachvollziehbar und plausibel.

44

Dass eine Durchführung der Beweisaufnahme zu einer Veränderung des Standpunktes des Senats geführt hätte, ist nicht zu erkennen.

45

Es ist davon auszugehen, daß der Zeuge B. seine wenige Tage vor dem Termin abgegebene schriftliche Erklärung im Rahmen der Beweisaufnahme bestätigt hätte, da die später von dem Zeugen vorgenommene Korrektur seiner Darstellung allein auf das Auffinden von schriftlichen Unterlagen nach dem Verhandlungstermin zurückzuführen ist.

46

Anhaltspunkte dafür, dass die Einvernahme des Privatsachverständigen M... zu einer anderen Beurteilung geführt hätte , sind nicht ersichtlich.

47

Entgegen der Auffassung des Klägers hat der Sachverständige in dem Gutachten vom 08. Oktober 1998 sich zu Mängeln des Daches nicht geäußert.

48

Aufgrund des Gutachtens ist nicht nachvollziehbar, dass der Sachverständige den Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen P... widersprochen hätte.

49

Für eine solche Annahme hatten zudem weder das Gericht noch der Beklagte zu 1) konkreten Anhalt: Das schriftliche Gutachten des Privatsachverständigen ist den damaligen erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten des Klägers erst mit Schreiben vom 13.04.1999, mithin nach mündlicher Verhandlung vor dem 1. Senat des Oberlandesgerichts Oldenburg, überhaupt zugegangen.

II.

50

Der Beklagte zu 1) war auch nicht etwa verpflichtet, den Erlaß eines Versäumnisurteils gegen den Kläger zu veranlassen .

51

Der Beklagte zu 1) hatte zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich bis zum Ablauf der Einspruchsfrist gegen ein Versäumnisurteil Umstände ergeben könnten, die eine andere rechtliche oder tatsächliche Beurteilung und damit die Fortsetzung des Berufungsverfahren rechtfertigen könnten .

52

Insbesondere war - wie oben näher ausgeführt - die Korrektur der schriftlichen Stellungnahme des Zeugen B. nicht voraussehbar.

53

Eine grundsätzliche Verpflichtung eines Anwalts, ohne Vorliegen besonderer Umstände  aus genereller Vorsicht und Fürsorge ein Versäumnisurteil gegen seinen Mandanten ergehen zu lassen, besteht nicht.

54

Eine solche Verpflichtung wäre  - auch wegen der damit verbundenen Kostenlast -  nur dann anzunehmen, wenn konkrete Anhaltspunkte eine "Flucht in die Säumnis" sachgerecht erscheinen lassen.

III.

55

Nicht zu beanstanden ist die Auffassung des Landgerichts, dass eine Verpflichtung des Beklagten zu 1) zur Kontaktaufnahme und Rücksprache vor Rücknahme der Berufung nicht bestanden habe.

56

Unstreitig hat der Kläger dem Beklagten zu 1) besondere Weisungen für die Wahrnehmung des Termins nicht erteilt. In einem solchen Falle darf der Anwalt einen Auftrag aus eigener Entschließung erledigen, wobei er nur darauf zu achten hat, dass dabei Nachteile für den Auftraggeber vermieden werden (Vollkommer, am angegebenen Ort, Rnr. 192 m. w. N; Rinsche, a. a.O., Seite 62).

57

Mithin war die Rücknahme der Berufung zur Vermeidung weiterer Kosten, insbesondere vor dem Entstehen einer weiteren Beweisgebühr, sinnvoll, nachvollziehbar und stellt ein schuldhaftes Verhalten des Beklagten nicht dar.

58

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713, 546 Abs. 2 ZPO.