Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 21.12.2010, Az.: 32 Ss 142/10

Kriminalprognose muss einheitlich erfolgen, wenn Tatgericht über Aussetzung der Vollstreckung mehrerer aussetzungsfähiger, untereinander nicht gesamtstrafenfähiger Freiheitsstrafen zu entscheiden hat; Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung mehrerer aussetzungsfähiger, untereinander nicht gesamtstrafenfähiger Freiheitsstrafen gegen denselben Angeklagten; Einheitlichkeit der gemäß § 56 Abs. 1 StGB erforderlichen Kriminalprognose

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
21.12.2010
Aktenzeichen
32 Ss 142/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 36374
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2010:1221.32SS142.10.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Stade - 30.06.2010

Fundstelle

  • NStZ-RR 2011, 324

Amtlicher Leitsatz

1. Hat das Tatgericht über die Frage der Aussetzung der Vollstreckung mehrerer aussetzungsfähigen, untereinander nicht gesamtstrafenfähiger Freiheitsstrafen gegen denselben Angeklagten zu entscheiden, so muss die gemäß § 56 Abs. 1 StGB erforderliche Kriminalprognose angesichts der identischen Prognosegrundlagen einheitlich erfolgen.

2. Hat der Tatrichter die für den Rechtsfolgenausspruch relevanten Tatsachen einschließlich der für die Prognose maßgeblichen tatsächlichen Grundlagen vollständig festgestellt, kann das Revisionsgericht gemäß § 354 Abs. 1a StPO die Strafaussetzung zur Bewährung für alle aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen selbst gewähren, wenn wegen der Notwendigkeit einer einheitlichen Prognose und der Geltung des Verschlechterungsverbots auch der Tatrichter keine andere Entscheidung als die Aussetzung der Vollstreckung aller verfahrensgegenständlichen Freiheitsstrafen hätte treffen können. Über die nach § 268a StPO erforderlichen Nebenentscheidungen hat dennoch der Tatrichter zu entscheiden (Anschluss an BGH NStZ 2001, 319).

Tenor:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 3. kleinen Strafkammer des Landgerichts Stade vom 30. Juni 2010 aufgehoben, soweit die Aussetzung der Vollstreckung der gegen den Angeklagten verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr zur Bewährung versagt worden ist. Die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt.

2. Im Übrigen wird die Revision als unbegründet verworfen.

3. Der Angeklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

Gründe

1

I. 1. Der Angeklagte war durch das Amtsgericht Stade wegen Diebstahls in zwei Fällen und wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis unter Auflösung einer früheren Gesamtfreiheitsstrafe und Einbeziehung der dortigen Einzelstrafen zu einer neuen Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt worden. Die Vollstreckung dieser Gesamtfreiheitsstrafe hatte das Amtsgericht zur Bewährung ausgesetzt. Darüber hinaus hatte das Amtsgericht den Angeklagten wegen einer weiteren Diebstahlstat, die ihm durch Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Stade vom 10. September 2009 vorgeworfen worden war, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung dieser Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt.

2

Nach einer mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft erfolgten Teilrücknahme der zunächst unbeschränkt eingelegten Berufung hat der Angeklagte sich mit diesem Rechtsmittel lediglich noch gegen die Verurteilung wegen des letztgenannten Diebstahls mit dem Ziel des Freispruchs gewandt. Das Berufungsgericht hat mit dem nunmehr angefochtenen Urteil die Berufung des Angeklagten verworfen und lediglich den Tenor des amtsgerichtlichen Urteils klarstellend neu gefasst.

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2. Der Angeklagte ist nach den Feststellungen des Landgerichts bereits mehrfach wegen Eigentums und Vermögensdelikten in Erscheinung getreten. So wurde er im Jahr 2000 u.a. wegen Diebstahls in 34 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt, die er größtenteils verbüßen musste. 2001 erfolgte eine Verurteilung wegen Unterschlagung und Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe von 7 Monaten. Weiterhin wurde gegen ihn 2007 eine einjährige Freiheitsstrafe wegen unerlaubten Handeltreibens mit Schusswaffen verhängt. Die zunächst gewährte Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung wurde widerrufen und die Strafe vollstreckt. 2008 folgten weitere Verurteilungen wegen versuchten und vollendeten Diebstahls sowie wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu Freiheitsstrafen von drei bzw. neun Monaten Freiheitsstrafe. Dabei handelt es sich um Verurteilungen, die in die hier in der ersten Instanz gebildete Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten einbezogen worden sind.

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3. Zu der dem Angeklagten mit der Anklage vom 10. September 2009 vorgeworfenen Diebstahlstat hat das Berufungsgericht festgestellt, dass der Angeklagte und der später geschädigte Zeuge D., die sich aufgrund einer früheren gemeinsamen Tätigkeit für ein Unternehmen kannten, sich nach Jahren in einem Lokal zufällig wieder getroffen hatten. Der Angeklagte arbeitete dort als Hausmeister. Der Zeuge D. bestückte in dem Lokal den Zigarettenautomaten im Rahmen einer Tätigkeit als Fahrer eines Unternehmens, das solche Automaten unterhält. Über gelegentliche Gespräche gingen die Kontakte jedoch nicht hinaus. In der Nacht vom 2. auf den 3. Juni 2009 begab sich der Angeklagte mit unbekannt gebliebenen Mittätern auf das Grundstück des Zeugen D. und hebelte dort die Fensterscheibe im Anbau des Wohnhauses auf. Wegen Umstellungen der Preise der aus Zigarettenautomaten erhältlichen Zigarettenpackungen hatte der Zeuge D. größere Mengen Zigarettenstangen sog. Randsorten in dem Anbau gelagert. Nach dem Aufhebeln entwendete der Angeklagte 43 Zigarettenstangen zu jeweils 20 Schachteln aus dem Anbau. Darüber hinaus nahm er auch eine angebrochene Stange mit Zigaretten der Marke Caballero mit sich. Der Gesamtwert der Beute betrug 3.440, Euro. Den Verlust hat der Arbeitgeber des Zeugen D. getragen.

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Das Berufungsgericht hat die getroffenen Feststellungen im Wesentlichen auf die Angaben des Zeugen D. und auf ein daktyloskopisches Gutachten des Landeskriminalamtes Niedersachen gestützt. Die Kammer hat ausführlich dargelegt, warum sie den Angaben des Zeugen über Art, Umfang und Grund der Lagerung größerer Zigarettenmengen in dem Anbau seines Hauses für glaubhaft hält. Ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten hat die Kammer vor allem auf den Umstand gestützt, dass sich auf dem Glas einer beschädigten Sonnenbrille des Zeugen D. ein Fingerabdruck des Angeklagten befand. Der Zeuge hatte diese Sonnenbrille früher im Rahmen seiner Tätigkeit als Auslieferungsfahrer von Zigaretten benutzt und die Brille zusammen mit anderen Gegenständen aus seinem zuvor genutzten Auslieferungsfahrzeug ebenfalls in dem Anbau aufbewahrt. Dagegen hat das Berufungsgericht seine Überzeugung von der Tatbegehung durch den Angeklagten nicht maßgeblich auf das Auffinden von Resten einer zuvor von dem Angeklagten gerauchten Zigarette im hinteren Bereich der auf dem Grundstück des Zeugen D. befindlichen Werkstatt gestützt. Die Kammer hat insoweit zugunsten des Angeklagten nicht auszuschließen vermocht, dass dieser sich aus einem anderen Grund und zeitlich vor der Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat auf dem Grundstück aufgehalten und bei dieser Gelegenheit die Zigarette geraucht hat.

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4. Die Kammer hat das festgestellte Verhalten des Angeklagten als Diebstahl in einem besonders schweren Fall (§ 242 Abs. 1, § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB) gewürdigt und aus im Urteil näher dargelegten Gründen eine Freiheitsstrafe von einem Jahr für tat und schuldangemessen erachtet. In Bezug auf die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe ist eine bewährungsweise Aussetzung mangels günstiger Legalprognose (§ 56 Abs. 1 StGB) nicht gewährt worden. Das Fehlen einer günstigen Prognose begründet die Kammer unter näheren Ausführungen mit dem Bewährungsversagen des Angeklagten und der schnellen Rückfallgeschwindigkeit, weil der Angeklagte eine weitere einschlägige Tat bereits 4 Monate nach dem Ende der Vollstreckung der letzten Freiheitsstrafe begangen hat. Da diese Tat von dem Angeklagten bereits in Kenntnis des Umstandes der Schwangerschaft seiner Lebensgefährtin und seiner bevorstehenden Vaterschaft begangen worden war, hat die Kammer den im Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung aktuellen persönlichen Verhältnissen des Angeklagten keine ausreichend stabilisierende Wirkung beigemessen.

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5. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision, die sowohl auf die Verletzung formellen Rechts als auch materiellen Rechts gestützt wird. Insbesondere beanstandet die Revision die Ablehnung von Hilfsbeweisanträgen auf Vernehmung von zwei namentlich benannten Zeuginnen, in deren Wissen gestellt wird, dass der Angeklagte vor der Tat besuchsweise auf dem Grundstück des Zeugen D. gewesen sei, dort eine Zigarette geraucht und sie ausgetreten habe.

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II. Die Revision hat mit der Sachrüge in dem aus dem Tenor ersichtlichen geringen Umfang in Bezug auf den Rechtsfolgenausspruch Erfolg. Das weitergehende Rechtsmittel ist dagegen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Soweit mit der Revision Verfahrensrügen erhoben werden, so sind diese unzulässig erhoben, weil sie die den behaupteten Verfahrensverstößen zugrunde liegenden Tatsachen nicht in einer den Anforderungen von § 344 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechenden Weise nennen.

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1. Der Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils war allerdings dahin zu korrigieren, als auch die Vollstreckung der Freiheitsstrafe von einem Jahr für den Diebstahl zum Nachteil des Zeugen D. zur Bewährung auszusetzen war. Die Aussetzung der Vollstreckung auch dieser Freiheitsstrafe war im Hinblick auf die rechtskräftige - Aussetzung der Vollstreckung der im selben Verfahren verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten zwingend.

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Erfasst der Verfahrensgegenstand mehrere, jeweils für sich aussetzungsfähige Freiheitsstrafen, so kann durch das Tatgericht über die Frage der Aussetzung lediglich einheitlich entschieden werden. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die zwingend einheitliche Entscheidung über verschiedene der Aussetzung zugängliche Freiheitsstrafen in seinem Beschluss vom 7. Februar 2007 (2 StR 17/07) ausdrücklich herausgestellt (aaO. Rn. 4). Die Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung über die Prognose nach § 56 Abs. 1 StGB für sämtliche durch das tatrichterliche Urteil ausgeurteilten, aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen ergibt sich aus der Bedeutung und Funktion der Prognose selbst. Die Kriminalprognose gemäß § 56 Abs. 1 StGB ist - wie die übrigen gesetzlichen Aussetzungskriterien auch - keine feststehende statistische Größe. Diese unterliegt vielmehr sämtlichen relevanten Entwicklungen und Veränderungen der Aussetzungskriterien und der prognoserelevanten Anknüpfungstatsachen, die sich bis zum dem maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt, dem Ende der letzten Tatsacheninstanz, ergeben (vgl. Groß, in. Münchener Kommentar zum StGB, Band 2, 2005, § 56 Rn. 49 m.w.N.). Bezogen auf diesen Zeitpunkt kann die nach § 56 Abs. 1 StGB erforderliche Prognose angesichts der für alle Strafen identischen Prognosegrundlagen nur einheitlich vorgenommen werden. Dies schließt es aus, für mehrere aussetzungsfähige Freiheitsstrafen, über die im selben Verfahren zu entscheiden ist, im Hinblick auf die Bewährungsfrage unterschiedliche Prognosen zu stellen (vgl. BGH v. 17.2.2007 - 2 StR 17/07). Angesichts dessen war es bereits dem Amtsgericht versagt, die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung beider Strafen mit unterschiedlichem Ergebnis zu treffen. Wegen der erforderlichen Einheitlichkeit der Prognoseentscheidung einerseits und des andererseits hier eingreifenden Verschlechterungsverbots (§ 331 StGB) hätte das Berufungsgericht danach auch die Vollstreckung der im Berufungsrechtszug allein noch zu überprüfenden Freiheitsstrafe von einem Jahr zur Bewährung aussetzen müssen.

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2. Über die durch das Berufungsgericht unterbliebene Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe von einem Jahr kann der Senat gemäß § 354 Abs. 1a StPO selbst entscheiden, einer Zurückverweisung allein deswegen bedarf es nicht. Da über die Frage einer Aussetzung der Vollstreckung beider ausgeurteilter Freiheitsstrafen zur Bewährung lediglich einheitlich entschieden werden kann, ist angesichts des lediglich vom Angeklagten eingelegten Rechtsmittels wegen der Geltung des Verschlechterungsverbotes aus §§ 331, 358 Abs. 2 StPO und der für die Vollstreckung der rechtskräftigen zweiten Gesamtfreiheitsstrafe gewährten Bewährung zwingend auch die Vollstreckung der weiteren Freiheitsstrafe von einem Jahr zur Bewährung auszusetzen. Die Anforderungen an eine eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 118, 212 ff.) im Wege einer verfassungskonformen Auslegung von § 354 Abs. 1a StPO aufgestellt hat, liegen angesichts des im angefochtenen Urteil vollständig dargestellten Strafzumessungssachverhalts und der sich ausschließlich zugunsten des Angeklagten auswirkenden Änderung des Urteils durch den Senat vor.

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3. Über die nach § 268a StPO noch erforderlichen Nebenentscheidungen im Hinblick auf die Aussetzung der Vollstreckung auch der Freiheitsstrafe von einem Jahr hat das Landgericht zu entscheiden (siehe BGH NStZ 2001, 319).

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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO. Da der Angeklagte mit dem Rechtsmittel einen Freispruch erstrebt hat, ist der erzielte Teilerfolg so gering, dass § 473 Abs. 4 StPO nicht zur Anwendung gelangt.