Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 20.12.2010, Az.: 1 Ws 611/10
Erledigung der laufenden Bewährung durch Vollzug der Sicherungshaft aufgrund einer Anrechnung zur vollständigen Verbüßung der Freiheitsstrafe; Erlass der Strafe bei nachträglicher Verkürzung der Bewährungszeit bis zum Entscheidungszeitpunkt i.R.d. Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 20.12.2010
- Aktenzeichen
- 1 Ws 611/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 30295
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2010:1220.1WS611.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover - 09.11.2010 - AZ: 74/72 BRs 32/08
Rechtsgrundlagen
- § 453c StPO
- § 56a Abs. 2 S. 1 StGB
- § 56f StGB
- § 56g StGB
Fundstellen
- BewHi 2011, 281-283
- NStZ-RR 2011, 122-123
Verfahrensgegenstand
Sexuelle Nötigung
Amtlicher Leitsatz
Führt der Vollzug von Sicherungshaft aufgrund Anrechnung zu einer vollständigen Verbüßung der Freiheitsstrafe, hat dies nicht automatisch die Erledigung der laufenden Bewährung zur Folge. Der Verhältnis-mäßigkeitsgrundsatz gebietet es jedoch in diesem Fall, die Bewährungszeit nachträglich bis zum Entscheidungszeitpunkt zu verkürzen und sodann die Strafe zu erlassen.
In der Bewährungssache
...
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft
gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer 4 des Landgerichts Hannover vom 9. November 2010
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxxxxxxxxx,
den Richter am Oberlandesgericht xxxxxxxxxxxxxxx und
den Richter am Oberlandesgericht xxxxxxxxxx
am 20. Dezember 2010
beschlossen:
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die im Beschluss der Kammer vom 27. Mai 2008 (72 StVK 138/08) festgesetzte Bewährungszeit wird in dem Umfang verkürzt, dass sie mit Ablauf des 20. Dezember 2010 endet.
Die Strafe wird erlassen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.
Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).
Gründe
I.
Unter dem 25. September 2007 verhängte das Amtsgericht Hannover gegen den Verurteilten wegen sexueller Nötigung eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Nach Verbüßung der Hälfte der Strafe setzte das Landgericht Hannover am 27. Mai 2008 die Reststrafe zur Bewährung zum 1. Juli 2008 aus. Weil der Verurteilte in der Folgezeit weder für die Kammer noch für den eingesetzten Bewährungshelfer erreichbar war, erließ das Landgericht Hannover am 2. Dezember 2009 Sicherungshaftbefehl nach § 453c StPO. Der Verurteilte wurde am 29. Januar 2010 bei seiner Einreise von Belgien nach Deutschland am Flughafen H. festgenommen. Nachdem der Verurteilte in einem weiteren Verfahren am 27. Juli 2010 freigesprochen und in einer anderen Sache am 15. September 2010 zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt worden war, hob die Kammer den Sicherungshaftbefehl am 16. September 2010 auf, da ein Widerruf der Strafaussetzung nicht mehr in Betracht kam.
Da die Dauer der vom Verurteilten erlittenen Sicherungshaft die Dauer der noch nicht vollstreckten Restfreiheitsstrafe erreicht hatte und somit Vollverbüßung im Wege der Anrechnung nach § 453c Abs. 2 Satz 1 StPO eingetreten war, beantragte die Staatsanwaltschaft unter dem 21. Oktober 2010, die angeordnete Bewährungszeit um sieben Monate zu verkürzen. Dies lehnte die Kammer mit dem angefochtenen Beschluss ab. Zur Begründung führt sie aus, dass sich die laufende Bewährung durch die eingetretene Vollverbüßung der Strafe erledigt habe, so dass nichts Weiteres mehr zu veranlassen sei. Auch ein nachträglicher Straferlass käme nicht in Betracht.
Mit der hiergegen erhobenen Beschwerde begehrt die Staatsanwaltschaft weiterhin die Verkürzung der Bewährungszeit. Eine Erledigung des Bewährungsverfahrens sei dem StGB fremd. Diese könne nur durch Widerruf gemäß § 56f StGB oder Straferlass nach § 56g StGB beendet werden. Die Vollverbüßung habe keine Auswirkungen auf die seinerzeit zu Recht angeordnete Bewährung. Die Strafe könne somit grundsätzlich erst nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen werden. Um diese lange Frist nicht abwarten zu müssen, sei die Verkürzung der Bewährungszeit aus Verhältnismäßigkeitsgründen angezeigt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig (§ 453 Abs. 2 Satz 1 StPO) und begründet.
1.
Die Beschwerde ist gemäß § 453 Abs. 2 Satz 1 StPO statthaftes Rechtsmittel gegen nachträgliche Entscheidungen, die sich auf eine Strafaussetzung zur Bewährung beziehen. Zwar ist die Überprüfung durch den Senat gemäß § 453 Abs. 2 Satz 2 StPO auf die Feststellung der Gesetzwidrigkeit des angefochtenen Beschlusses beschränkt (vgl. OLG Celle, NdsRpfl. 1982, 222). Zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit gehört aber neben der Prüfung, ob die angefochtene Entscheidung in der angewendeten Vorschrift eine ausreichende Rechtsgrundlage hat und ob Ermessensmissbrauch vorliegt, in jedem Fall die Prüfung, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der Bestimmtheitsgrundsatz eingehalten sind (vgl. Meyer-Goßner, § 453 StPO, Rn. 12 m.w.N.). Dies zugrunde gelegt war der angefochtene Beschluss aufzuheben, denn die Auffassung der Kammer, für eine Abkürzung der Bewährungszeit sei nach eingetretener Vollverbüßung kein Raum mehr, erweist sich als ermessensfehlerhaft.
2.
Grundsätzlich ist in der Rechtsprechung geklärt, dass eine Strafaussetzung zur Bewährung in einem Urteil nicht in Betracht kommt, wenn die verhängte Strafe auf Grund von Anrechnung bereits als voll verbüßt anzusehen ist (vgl. BGHSt 31, 25). Geschieht die Anordnung einer Strafaussetzung gleichwohl, beschwert diese den Verurteilten und kann im Wege des Rechtsmittels angefochten werden (vgl. BGH NJW 2002, 1356 [BGH 22.01.2002 - 4 StR 392/01]; NJW 1961, 612). Unterbleibt diese Anfechtung indessen, lässt sich dieser Rechtsfehler gleichwohl nicht durch den Erlass der Strafe vor Ablauf der Bewährungszeit korrigieren (vgl. OLG Köln, NStZ 1999, 534). Denn eine solche Möglichkeit wäre mit der durch die Nichtanfechtung des Urteils eintretenden Rechtskraft nicht vereinbar.
Diese zum Revisionsrecht ergangene Rechtsprechung ist auf den vorliegenden Fall zwar nicht ohne Weiteres übertragbar. Denn anders als im Erkenntnisverfahren steht dem Verurteilten vorliegend kein Rechtsmittel zur Verfügung, gegen die ihm auferlegte Bewährung nach Eintritt der Strafvollverbüßung vorzugehen. Die in dieser Rechtsprechung zum Ausdruck kommende Wertung muss aber aus systematischen Gründen auch in der hier vorliegenden Konstellation Beachtung finden. Denn das StGB sieht nur zwei Alternativen vor, die zur Beendigung einer bewilligten Bewährung führen. Neben dem Widerruf nach § 56f StGB und dem Straferlass des § 56g StGB ist ein weiterer Tatbestand hierfür nicht vorgesehen. Insbesondere die von der Kammer angenommene Erledigung der Bewährung ist nach dem eindeutigen Wortlaut des § 56g Abs. 1 ("Widerruft das Gericht die Strafaussetzung nicht, so erlässt es die Strafe (...)") ausgeschlossen. Dies hat zur Folge, dass grundsätzlich trotz eingetretener Vollverbüßung die Bewährungszeit weiter läuft und erst nach ihrem Ablauf eine abschließende Entscheidung darüber, ob die Bewährung durch Widerruf oder Straferlass zu beenden ist, zu treffen ist.
3.
Ein solches Abwarten widerspricht indessen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Für den Verurteilten wäre es unzumutbar, trotz durch Anrechnung eingetretener Vollverbüßung noch bis zum Ende der angeordneten Bewährungszeit mit dem Makel eines unter Bewährung stehenden Straftäters leben und die ihm aufgegebenen Weisungen erfüllen zu müssen. Dass dem Verurteilten mangels zu verbüßender Reststrafe ein Widerruf der Strafaussetzung nicht mehr droht (vgl. BGHSt 31, 25 (28)), ändert nichts an der staatlich ihm aufgegebenen Anordnung, bestimmte Weisungen erfüllen zu müssen. Der Verurteilte läuft zudem Gefahr, dass ihm im Falle neuer Straftaten bei einer anstehenden Verurteilung zum Nachteil gereichen könnte, er habe zur Tatzeit unter Bewährung gestanden. Dies hätte eine ungerechtfertigte Schlechterstellung des Verurteilten denjenigen gegenüber zur Folge, bei denen aufgrund einer schon vor dem Urteil erlittenen Untersuchungshaft eine Bewährung aufgrund Vollverbüßung nicht in Betracht kommt. Insoweit ist die von der Staatsanwaltschaft beantragte Bewährungszeitverkürzung nach § 56a Abs. 2 StGB verbunden mit einer vorzeitigen Entscheidung über die Beendigung der Bewährung der einzige gangbare Weg. Da die Mindestdauer der Bewährung von zwei Jahren (§ 56a Abs. 2 Satz 1 StGB) bereits erreicht ist, konnte die Bewährungszeit entsprechend verkürzt werden. Eine rückwirkende Verkürzung kam dabei entsprechend der Rechtsprechung zum Verbot rückwirkender Verlängerung der Bewährungszeit außerhalb des Anwendungsbereichs des § 56f Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB (vgl. OLG Oldenburg, NStZ 2008, 462) allerdings nicht in Betracht, so dass das Ende der Bewährungszeit auf den Ablauf des Tages, an dem dieser Beschluss ergeht, zu bestimmen war.
4.
Zugleich war gemäß § 56g StGB die Strafe zu erlassen. Zwar hat hierzu bislang keine Anhörung der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde, des Verurteilten oder seines Bewährungshelfers nach § 453 Abs. 1 Satz 2 bis 4 StPO stattgefunden. Es war indessen vorliegend unerheblich, ob auf diese Weise Erkenntnisse zu Tage treten, die einen Widerruf nach § 56f StGB zur Folge haben könnten. Denn ein Widerruf setzt voraus, dass im Zeitpunkt seines Erlasses ein noch zu verbüßender Strafrest vorhanden sein muss (vgl. BGHSt 31, 25 (28)). Scheidet ein solcher wegen eingetretener Vollverbüßung der Strafe aus, ist der Straferlass nach§ 56g Abs. 1 StGB die einzige denkbare Folge.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 2 Satz 2 StPO.