Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 11.08.2021, Az.: 1 Ss 36/21
Zulässigkeit der Reststrafenaussetzung bei Vorstrafen und Bewährungsversagen; Anforderungen an die Prognoseentscheidung bei einem suchtmittelabhängigen Täter
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 11.08.2021
- Aktenzeichen
- 1 Ss 36/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 68194
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2021:0811.1SS36.21.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Braunschweig - 06.04.2021 - AZ: 5 Ls 803 Js 26073/18
Rechtsgrundlagen
- § 56 Abs. 1 StGB
- § 56 Abs. 2 StGB
- § 354 Abs. 1a StPO
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Vorstrafen und Bewährungsversagen schließen eine erneute Strafaussetzung nicht von vorneherein aus.
- 2.
Wesentlicher Prognsoseumstand für die zu treffende Prognoseentscheidung gem. § 56 StGB bei einem suchtmittelabhängigen Täter ist die Frage, ob der Angeklagte noch betäubungsmittelabhängig ist.
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 6. April 2021 aufgehoben, soweit dem Angeklagten die Strafaussetzung zur Bewährung versagt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafabteilung des Amtsgerichts Braunschweig zurückverwiesen.
Gründe
Das Rechtsmittel des Angeklagten hat einen zumindest vorläufigen Erfolg. Die Entscheidung des Amtsgerichts Braunschweig vom 6. April 2021 ist auf den Hilfsantrag, der sich ausweislich der Revisionsbegründung ebenfalls allein auf die Bewährungsentscheidung bezieht, aufzuheben, soweit dem Angeklagten die Strafaussetzung zur Bewährung versagt worden ist.
I.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten am 6. April 2021 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz eines verbotenen Gegenstandes in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten verurteilt. Mit Schriftsatz vom 6. April 2021 hat der Verteidiger ein zunächst als Berufung bezeichnetes Rechtsmittel gegen das Urteil vom 6. April 2021 eingelegt und dieses nach Zustellung des Urteils am 3. Juni 2021 mit am 5. Juni 2021 beim Amtsgericht eingegangenem Schriftsatz als Revision bezeichnet. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts und beanstandet konkret die versagte Aussetzung zur Bewährung. Er beantragt, das Urteil des Amtsgerichts Braunschweig aufzuheben, soweit die Aussetzung der Vollstreckung der gegen den Angeklagten verhängten Freiheitsstrafe versagt worden ist, und die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, sowie hilfsweise, das Urteil aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen, wobei der Hilfsantrag unter Berücksichtigung der Revisionsbegründung dahingehend auszulegen ist, dass (auch) er sich lediglich auf die Bewährungsentscheidung bezieht.
Die Generalstaatsanwaltschaft erachtet die Revision für umfassend erhoben und beantragt, auf die (Sprung-) Revision des Angeklagten das Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 6. April 2021 aufzuheben, soweit dem Angeklagten eine Strafaussetzung zur Bewährung versagt worden ist, die darüber hinausgehende Revision des Angeklagten als unbegründet zu verwerfen und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung im Umfang der Aufhebung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Braunschweig zurückzuverweisen.
II.
Die Revision ist als Sprungrevision gem. § 335 Abs. 1 StPO statthaft und auch sonst zulässig; sie ist insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.
Die zuvor erfolgte Bezeichnung des Rechtsmittels als Berufung steht der Zulässigkeit nicht entgegen. Der Übergang zur Revision ist auch nach Berufungseinlegung innerhalb der Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO durch Erklärung gegenüber dem Amtsgericht möglich, wenn er klar und eindeutig erklärt wird (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 335, Rn.10 m. w. N.). So liegt der Fall hier.
Die Revision hat auch in der Sache Erfolg.
Der Angeklagte hat seine Revision wirksam auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung beschränkt. Zwar hat der Verteidiger im Rahmen der Revisionsbegründung ausgeführt, dass die Sachrüge, soweit sie nachstehend vereinzelt werde, damit nicht beschränkt werden, vielmehr umfassend erhoben werden solle. Vor dem Hintergrund des eindeutig formulierten Hauptantrages ist die Erklärung jedoch dahingehend zu verstehen, dass der Angeklagte allein eine über die von ihm konkret genannten Aspekte hinausgehende umfassende Überprüfung der Bewährungsentscheidung begehrt. Auch der Hilfsantrag ist vor dem Hintergrund der Revisionsbegründung dahingehend auszulegen, dass der Angeklagte für den Fall, dass die von ihm mit dem Hauptantrag begehrte Entscheidung nach § 354 Abs. 1a StPO nicht in Betracht kommt, die Aufhebung und Zurückverweisung des Urteils begehrt, soweit ihm die Strafaussetzung zur Bewährung versagt worden ist.
Die Ausführungen des Urteils zur Frage der Strafaussetzung zur Bewährung erweisen sich als materiell-rechtlich unvollständig.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat dazu in ihrer Stellungnahme vom 19. Juli 2021 ausgeführt:
"Die Prognoseentscheidung gem. § 56 StGB ist grundsätzlich Sache des Tatrichters, dem hierbei zudem ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt, so dass das Revisionsgericht nach ständiger Rechtsprechung im Zweifel die vom Tatgericht vorgenommene Bewertung bis an die Grenze des Vertretbaren hinnehmen muss (BGH, Urteil vom 25.04.2012, 5 StR 17/12, m. w. N.; OLG Braunschweig, Urteil vom 24.10.2014 - 1 Ss 61/14, zitiert nach beck-online). Es kann nur in Ausnahmefällen eingreifen, wenn erkennbar unzutreffende Maßstäbe angewandt, naheliegende Umstände übersehen oder festgestellte Umstände fehlerhaft gewichtet wurden (OLG Braunschweig a. a. O.; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 56 Rn. 11). Dabei ist der Tatrichter zwar nicht gehalten, eine umfassende Darstellung aller irgendwie mitsprechenden Erwägungen vorzunehmen, es bedarf jedoch einer Erörterung der wesentlichen nach Lage des Falles bei der Entscheidung zu berücksichtigenden Gesichtspunkte. Das Tatgericht muss bei der vorzunehmenden umfassenden Bewertung sämtlicher für die Beurteilung maßgeblicher Tatsachen darlegen, dass es bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung die erforderliche Gesamtwürdigung vorgenommen und dabei alle wesentlichen Umstände des Falles einbezogen hat (KG, Urteil vom 05.10.2007 - (4) 1 Ss 307/07 (191/07), (4) 1 Ss 307-07 (191/07), zitiert nach juris). Im Rahmen dieser vorzunehmenden Gesamtwürdigung ist eine Gegenüberstellung der bisherigen und der gegenwärtigen Lebensverhältnisse des Täters erforderlich und bedarf es einer eingehenden Auseinandersetzung mit den Vortaten und den Umständen, unter denen sie begangen wurden (OLG Braunschweig, a. a. O.; KG, a. a. O.). Die Annahme oder die Verneinung einer günstigen Prognose bedarf dabei grundsätzlich einer eingehenden, nicht nur formelhaften, den Gesetzestext wiederholenden Darlegung, es muss aus den Urteilsgründen auch erkennbar sein, ob eine theoretisch mögliche Strafaussetzung mangels günstiger Kriminalprognose oder wegen des Fehlens besonderer Umstände nicht erfolgt ist (BGH, Beschl. v. 10.7.2014 - 3 StR 232/14, zitiert nach beck-online).
Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Denn den Urteilsausführungen ist bereits nicht vereinzelt zu entnehmen, ob das Gericht sich gem. § 56 Abs. 2 StPO [Anm. des Senates: § 56 Abs. 1 StGB] mangels positiver Sozialprognose oder mangels besonderer Umstände [Anm. des Senates: § 56 Abs. 2 StGB] an der Strafaussetzung zur Bewährung gehindert gesehen hat.
Das Amtsgericht hat in den Urteilsgründen umfassend ausgeführt, dass sich der geständige Angeklagte glaubhaft vom Betäubungsmittelkonsum distanziert habe und seit 3 Jahren keine neuen Verfahren bekannt geworden seien, woraus das Amtsgericht den Schluss gezogen hat, dass er nicht mehr mit Betäubungsmitteln handele oder diese konsumiere. Das Amtsgericht hat die Menge der aufgefundenen Betäubungsmittel und die Tatsache, dass es sich um eine "weiche" Droge handelt, berücksichtigt und die Verfahrensdauer ebenso in die Bewertung eingestellt wie die Tatsache, dass der Angeklagte mit dem Widerruf der laufenden Bewährung zu rechnen hat, gleichwohl aber im Hinblick auf die Tatsache, dass der Angeklagte zur Tatzeit wegen einer einschlägigen Tat unter Bewährung stand, eine Strafaussetzung zur Bewährung abgelehnt.
Vorstrafen und Bewährungsversagen schließen eine erneute Strafaussetzung zur Bewährung nicht von vornherein aus. Ist der Angeklagte in der Vergangenheit einschlägig vorbestraft und Bewährungsversager, so kann zwar in der Regel nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erwartet werden, dass er sich im Fall einer erneuten Bewährungschance anders als in der Vergangenheit verhalten wird, da er durch seine erneute Straffälligkeit gezeigt hat, dass er nicht willens oder fähig ist, sich frühere Verurteilungen zur Warnung dienen zu lassen (OLG Braunschweig a.a.O.). Diese Indizwirkung kann jedoch entfallen, wenn nach Würdigung der Persönlichkeit des Angeklagten einschließlich seiner Beweggründe für die früheren Taten und deren Begleitumständen günstige Veränderungen in seinen Lebensverhältnissen festgestellt werden, die geeignet sind, die Annahme künftigen Wohlverhaltens zu tragen (OLG Koblenz, Urteil vom 01.09.2014 - 2 OLG 3 Ss 70/14, zitiert nach beck-online).
Eine dahingehende Abwägung sämtlicher relevanter Umstände ist den Urteilsausführungen nicht zu entnehmen; die Urteilsausführungen lassen vielmehr besorgen, dass das Amtsgericht sich allein aufgrund der Tatbegehung im Rahmen einer laufenden Bewährung an der Gewährung einer weiteren Strafaussetzung zur Bewährung gehindert gesehen hat."
Dem tritt der Senat bei.
Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht, war das Urteil insoweit aufzuheben und im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Eine Entscheidung nach § 354 Abs. 1a StPO kam nicht in Betracht. Zwar kann der Senat gem. § 354 Abs.1a StPO die Strafaussetzung zur Bewährung für aussetzungsfähige Freiheitsstrafen selbst gewähren, wenn der Tatrichter die für den Rechtsfolgenausspruch relevanten Tatsachen einschließlich der für die Prognose maßgeblichen tatsächlichen Grundlagen vollständig festgestellt hat und sich deren Voraussetzungen ohne Zweifel aus den Urteilsfeststellungen ergeben (OLG Celle, Beschluss vom 21. Dezember 2010, 32 Ss 142/10, Rn. 11, zitiert nach juris). Entgegen der Auffassung des Angeklagten fehlt es jedoch an der vollständigen Feststellung aller prognoserelevanter Umstände. Vielmehr erscheinen noch weitere prognoserelevante Feststellungen geboten. Ein wesentlicher Umstand für die zu treffende Prognoseentscheidung ist die Frage, ob der Angeklagte noch betäubungsmittelabhängig ist (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 16. Januar 2018, 1 OLG 2 Ss 74/17, Rn. 7f., m.w.N., zitiert nach juris). Insoweit sind die bisher vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen lückenhaft. Das Amtsgericht hat zu der Betäubungsmittelabhängigkeit des Angeklagten festgestellt, dass der 32-jährige Angeklagte seit seinem 16. Lebensjahr regelmäßig Cannabis und zur Tatzeit im Jahre 2018 zwei Gramm Cannabis täglich konsumiert habe. Des Weiteren hat das Amtsgericht festgestellt, dass sich der Angeklagte glaubhaft vom Betäubungsmittelkonsum distanziert habe, was es (nur) damit begründet, dass in den zurückliegenden 3 Jahren seit der Tatbegehung keine neuen Taten bekannt geworden seien. Allein darauf die Annahme zu stützen, dass der Angeklagte seine Betäubungsmittelabhängigkeit überwunden habe, greift indes zu kurz. Gänzlich unklar bleibt, wie es dem langjährig betäubungsmittelabhängigen Angeklagten gelungen ist, sich "zu distanzieren", etwa durch die Wahrnehmung von Therapieangeboten, Wechsel seines sozialen Umfeldes etc..
III.
Die Entscheidung über die Kosten der Revision ist dem Amtsgericht vorbehalten, weil der endgültige Erfolg des Rechtsmittels derzeit nicht absehbar ist.