Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.06.2015, Az.: 16 K 53/15

Nichtsteuerbarkeit des Empfangs eines deutschen Reiseveranstalters von Reiseleistungen durch einen Unternehmer in einem anderen EU-Staat

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
11.06.2015
Aktenzeichen
16 K 53/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 36638
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2015:0611.16K53.15.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 13.12.2017 - AZ: XI R 4/16

Fundstellen

  • EFG 2016, 1307-1308
  • KSR direkt 2016, 12
  • KÖSDI 2016, 19952
  • MwStR 2016, 472-474
  • MwStR 2016, 285
  • SRTour 2016, 1-2
  • Umsatzsteuer direkt digital 2016, 22

Amtlicher Leitsatz

Ein deutscher Reiseveranstalter kann sich bei Empfang von Reiseleistungen durch einen Unternehmer in einem anderen EU-Staat direkt auf Art. 306 ff. MwStSystRL berufen mit der Folge dass die von ihm bezogenen Leistungen in Deutschland nicht steuerbar sind.

Tatbestand

1

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Klägerin sich in den Streitjahren 2009 bis 2012 direkt auf die Art. 306 bis 310 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vom 28. November 2006 (ABl. EU Nr. L 347 S. 1 - MwStSystRL) berufen kann, um eine Steuerschuldnerschaft für bezogene sonstige Leistungen einer Gesellschaft in Österreich für ihr Unternehmen abzuwehren.

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Die Klägerin ist eine GmbH, die in den Streitjahren als Reiseveranstalterin unternehmerisch tätig war. In der Zeit von Januar bis Juli 2014 führte der Beklagte bei ihr eine Umsatzsteuersonderprüfung durch, die sich auf die Streitjahre erstreckte. Der Sonderprüfer griff dabei u. a. folgenden Sachverhalt auf:

3

Die Klägerin hatte in den Streitjahren bei der D T GMBH mit Sitz in Linz (Österreich) Reisevorleistungen zur Durchführung von verschiedenen Radurlauben von Ort zu Ort bezogen. Die GMBH rechnete über diese Leistungen, die sich aus Unterbringung, Verpflegung, Beförderung und Vermietung von Fahrrädern zusammensetzten, gegenüber der Klägerin netto ohne Ausweis von Umsatzsteuer ab. Gegenüber den einzelnen Kunden trat die Klägerin als Reiseveranstalterin im eigenen Namen und für eigene Rechnung auf. In den Umsatzsteuererklärungen unterwarf sie den Differenzbetrag zwischen den von den Reisenden zu zahlenden Reisepreis und den Aufwendungen für die in Anspruch genommenen Reisevorleistungen unter Anwendung des § 25 Abs. 1 Umsatzsteuergesetz (UStG) der Umsatzsteuer. In den Ausgangsrechnungen an die Reisenden wies die Klägerin darauf hin, dass die Umsatzbesteuerung nach der gesetzlichen Margenbesteuerung erfolge. Umsatzsteuerrechtliche Folgerungen aus dem Bezug der Leistungen von der GMBH zog die Klägerin in den Streitjahren nicht.

4

Der Sonderprüfer ging davon aus, dass die von der GMBH erbrachten Leistungen an die Klägerin in Deutschland nach § 3 a Abs. 2 Nr. 1 UStG dort ausgeführt würden, wo sich die Hotels, in denen die Kunden übernachteten, befänden. Da die Radtouren sämtlich in Deutschland stattfänden, seien die Umsätze der GMBH steuerbar und auch steuerpflichtig. Die Klägerin schulde die entstandene Umsatzsteuer für diese Leistungen nach § 13 b Abs. 1 und Abs. 5 UStG 2010). Die Klägerin könne sich nicht auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - EUGH - (Urteil vom 26. September 2013 C-189/11, ECLI:EU:C:2013:587) und des Bundesfinanzhofs - BFH - (Urteil vom 21. November 2013 V R 11/11, BFH/NV 2014, 759) berufen, wonach die in Art. 306 ff. MwStSystRL geregelte Margenbesteuerung auch bei Leistungen eines Reisebüros an einen anderen Unternehmer für sein Unternehmen, mithin auch für die Leistungen der GMBH an sie anwendbar sei. Da es sich um neuere Rechtsprechung handele, hätten die GMBH und die Klägerin hiervon bei Leistungserbringung keine Kenntnis haben können. Es sei daher davon auszugehen, dass die GMBH das nationale Recht zutreffend angewendet und einen Vorsteueranspruch in Deutschland geltend gemacht habe. Insgesamt könne die Klägerin nicht unter Verweis auf die Rechtsprechung einseitig zur Margenbesteuerung optieren. Der Sonderprüfer erhöhte die Umsatzsteuer für die Klägerin als Leistungsempfängerin um 10.000 € (für 2009), 9.000 € (für 2010), 13.000 € (für 2011) und 11.000 € (für 2012). Wegen der weiteren Einzelheiten zu seinen Berechnungen wird auf Tz. 12 des Berichts des Beklagten vom 25. Juli 2014 über die Umsatzsteuersonderprüfung zur StNr. xxx; AD-Nr. xxx hingewiesen.

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Der Beklagte folgte der Rechtsansicht seines Sonderprüfers und erließ auch unter Berücksichtigung eines weiteren zwischen den Beteiligten unstreitigen Punktes am xxx 2014 geänderte Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre.

6

Hiergegen erhob die Klägerin am xxx 2014 Einspruch. Der EuGH und ihm folgend der BFH hätten entschieden, dass sich ein Steuerpflichtiger unmittelbar auf Art. 306 ff. MwStSystRL berufen könne, weil die Beschränkung der Leistungsempfänger in § 25 Abs. 1 UStG nicht europarechtskonform sei. Nach den Vorgaben des Europarechts befände sich der Ort der Leistungen der GMBH an die Klägerin in Österreich, mithin seien diese nicht steuerbar. Die Klägerin berufe sich ausdrücklich auf die Regelungen in der MwStSystRL.

7

Der Rechtsbehelf blieb erfolglos. Im Einspruchsbescheid vom xxx 2015 führte der Beklagte zur Begründung aus, dass die nationale Regelung in § 25 Abs. 1 UStG keine Margenbesteuerung der Leistungen der GMBH an die Klägerin zulasse. Die bezogenen Leistungen seien umsatzsteuerbar, weil die Sonderregelung in § 25 Abs. 1 Satz 4 UStG nicht anwendbar sei. Zwar stellten Art. 306 ff. MwStSystRL nicht darauf ab, ob die Reiseleistung an einen Endverbraucher und nicht an einen Unternehmer für sein Unternehmen erbracht werde. Bis zu einer gesetzlichen Anpassung dieser Norm an die europarechtlichen Vorgaben müsse diese Regelung aber berücksichtigt werden.

8

Mit ihrer Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Nach der Rechtsprechung des BFH könne sich ein Steuerpflichtiger unmittelbar auf Art. 306 ff. MwStSystRL berufen, weil § 25 Abs. 1 UStG zu eng gefasst sei. Die Berufung auf die günstigere Regelung in der Richtlinie sei in allen offenen Steuerfällen zulässig. Der Ansicht des Sonderprüfers, der auf die Verhältnisse bei Leistungserbringung abstelle, sei daher nicht zu folgen. Die Berufung auf die Vorschriften in Art. 306 ff. MwStSystRL könne der Klägerin nicht mit dem Argument abgeschnitten werden, sie sei von der Margenbesteuerung durch die GMBH nur indirekt betroffen. Entscheidend sei vielmehr, dass das Europarecht für ihre Steuerfestsetzung günstiger sei (Hinweis auf BFH, Urteil vom 24. Oktober 2013 V R 17/13, BFH/NV 2014, 35).

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Die Klägerin beantragt,

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die Umsatzsteuerbescheide 2009 bis 2012 vom xxx 2014 in der Fassung des Einspruchsbescheids vom xxx 2015 zu ändern und die Umsatzsteuer 2009 um 10.000 €, die für 2010 um 9.000 €, die für 2011 um 13.000 € und die für 2012 um 11.000 € herabzusetzen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er hält an seiner im Einspruchsbescheid geäußerten Rechtsansicht fest. Ergänzend weist er darauf hin, dass im Unterschied zum im Urteil des BFH vom 24. Oktober 2013 V R 17/13 entschiedenen Fall es durch die Berufung der Klägerin auf Art. 306 ff. MwStSystRL zu einem endgültigen Steuerausfall komme, wenn die GMBH sich in Österreich auf die inhaltlich § 25 UStG entsprechende nationale Vorschrift berufe. Auch fehle es im Streitfall an einer ordnungsgemäßen Rechnung der GMBH an die Klägerin wegen des fehlenden Hinweises auf die Margenbesteuerung.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist begründet.

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Die Umsatzsteuerbescheide 2009 bis 2012 vom xxx 2014 und der Einspruchsbescheid vom xxx 2015 sind insoweit rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, als der Beklagte gegenüber der Klägerin als Leistungsempfängerin Umsatzsteuer für die von der GMBH bezogenen Leistungen in den Streitjahren festgesetzt hat. Zwar bestand für die Klägerin unstreitig eine Steuerschuldnerschaft für diese Leistungen nach deutschem Umsatzsteuerrecht, weil § 25 Abs. 1 UStG für die Beurteilung der Leistungen der GMBH an die Klägerin als Unternehmerin für ihr Unternehmen nicht anwendbar ist. Jedoch kann sich die Klägerin auf die für sie günstigeren Regelungen in Art. 306 ff. MwStSytRL berufen, die dazu führen, dass die von ihr bezogenen Leistungen in Deutschland nicht steuerbar sind.

16

Nach neuerer Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 21. November 2013 V R 11/11, BFH/NV 2014, 4356 und vom 20. März 2014 V R 25/11, BFH/NV 2014, 1173) kann sich ein Unternehmer, der gegenüber anderen Reiseunternehmern Reiseleistungen für deren Unternehmen erbringt, in Abweichung von § 25 Abs. 1 UStG direkt auf Art. 306 ff. MwStSystRL berufen und eine sogenannte Margenbesteuerung seiner Reiseleistungen verlangen, weil die EU-Regelung auch dann anwendbar ist, wenn die Reiseleistung nicht an einen Endverbraucher, sondern an einen Unternehmer für sein Unternehmen erbracht wird (vgl. auch EuGH, Urteil vom 26. September 2013 C-189/11, Rdnrn. 51 ff.).

17

Entgegen der Auffassung des Beklagten kann sich im Streitfall auch die Klägerin auf diese für sie günstigeren Normen der MwStSystRL berufen, obwohl sich die Regelungen eigentlich nur auf die von der GMBH erbrachten sonstigen Leistungen beziehen. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die nationalen Gerichte bei einem Widerspruch zwischen den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts und den Bestimmungen des Unionsrechts gehalten, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen, indem sie erforderlichenfalls jede - auch spätere - entgegenstehende Vorschrift des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lassen, ohne dass die vorherige Beseitigung dieser Vorschrift auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragt oder abgewartet werden müsste. Es ist alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften "auszuschalten", die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013 C-617/10, NJW 2013, 1415). In Übereinstimmung hiermit kann sich der Steuerpflichtige nach der Rechtsprechung insbesondere auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber richtlinienwidrigen Regelungen des nationalen Rechts berufen (BFH, Urteil vom 11. Oktober 2012 V R 9/10, BFH/NV 2013, 170). In Bezug auf den Anwendungsvorrang eines unionsrechtlichen Tatbestands ist allein die Steuerminderung für den Steuerpflichtigen maßgebend, der sich auf ihn als günstigere Regelung berufen will. Unerheblich demgegenüber ist, welchen rechtlichen Interessen die Bestimmung des Unionsrechts dient. Die Rechtsfolgen des von einem Steuerpflichtigen geltend gemachten Anwendungsvorrangs beschränken sich auf seine Person und wirken sich nicht auf die Besteuerung des anderen am Leistungsaustausch Beteiligten aus (BFH, Urteil vom 24. Oktober 2013 V R 17/13, BFH/NV 2014, 284). Zur Überzeugung des Senats sind die Steuerausfälle, die sich dadurch ergeben, dass der eine Teil des Leistungsaustauschs sich auf eine für ihn günstigere Unionsregelung beruft, während der andere Teil an der für ihn günstigeren nationalen Regelung festhält, notwendige Folge des Gebots, das Unionsrecht in jedem Falle gegenüber dem entgegenstehenden nationalen Recht durchzusetzen.

18

Der Einwand, dass die Klägerin nicht über ordnungsgemäße Rechnungen der GMBH verfüge, weil auf ihnen entgegen § 14 a Abs. 6 Satz 1 UStG in der Fassung des AmtshilfeRLUmsG vom 26. Juni 2013 (BGBl. 2013, 1809) der Hinweis auf Sonderregelung für Reisebüros fehle, kann schon deshalb nicht durchschlagen, weil in § 14 a Abs. 6 UStG besondere Verpflichtungen der GMBH als leistende Unternehmerin geregelt sind. Im Übrigen gilt diese zusätzliche Verpflichtung erst für Leistungen, die ab 30. Juni 2013 erbracht werden.

19

Unter Anwendung des EU-Rechts sind die sonstigen Leistungen der GMBH an die Klägerin in den Streitjahren in Deutschland nicht steuerbar. Nach Art. 307 Abs. 1 MwStSystRL sind die Leistungspakete der GMBH als eine sonstige Leistung zu qualifizieren. Die einheitliche Dienstleistung wird in Österreich besteuert, da die GMBH dort ihren Sitz hat (Art. 307 Abs. 1 MwStSystRL). Mangels Steuerbarkeit der Leistungen ist eine Steuerschuldnerschaft der Klägerin als Leistungsempfängerin nicht möglich.

20

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Nebenentscheidungen folgen aus § 151 Abs. 1 und 3 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war nach § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO für notwendig zu erklären.

21

Die Steuerberechnung wird dem Beklagten nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO übertragen.