Verwaltungsgericht Osnabrück
Beschl. v. 19.07.2001, Az.: 6 B 14/01

Übernahme der Kosten für eine ambulante Autismus-Therapie; Gewährung von Eingliederungshilfe; Personen, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch wesentlich behindert sind; Jugendhilfe für seelisch behinderte junge Menschen

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
19.07.2001
Aktenzeichen
6 B 14/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 26147
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOSNAB:2001:0719.6B14.01.0A

Verfahrensgegenstand

Streitgegenstand: Sozialhilfe (Eingliederungshilfe)

Prozessführer

A. B.,
gesetzl. vertr. d. C. u. D. B., E.

Rechtsanwälte Kroll und Partner, Haarenfeld 52 c, 26129 Oldenburg

Prozessgegner

Landkreis Osnabrück, A. S. 1, 49082 Osnabrück

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Zu den Voraussetzungen der Gewährung von Eingliederungshilfe bei frühkindlichem Autismus.

  2. 2.

    Kinder und Jugendliche mit autistischen Entwicklungsstörungen sind in der Regel sowohl geistig als auch seelisch behindert, wobei sich der Schwerpunkt der Behinderung im Laufe der Entwicklung mit dem Lebensalter verlagert.

In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Osnabrück - 6. Kammer -
am 19. Juli 2001
beschlossen:

Tenor:

Der Antragsgegner wird im Wege des Erlasses einer einstweiligen Verfügung verpflichtet, die Kosten für die Autismustherapie im Umfang von wöchentlich zwei Stunden zu übernehmen.

Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt der Antragsgegner.

Gründe

1

I.

Der Antragsteller begehrt die Übernahme der Kosten für eine ambulante Autismus-Therapie im Umfang von zwei Stunden wöchentlich.

2

Nach der sozialhygienischen Stellungnahme des Amtsarztes vom 15. September 1999 besteht bei dem am 5. August 1996 geborenen Antragsteller eine erhebliche Sprachentwicklungsstörung sowie eine allgemeine Entwicklungsverzögerung von 1 1/2 bis 2 Jahren mit auf ein Autismussyndrom hinweisenden Verhaltensweisen, so dass von einer geistigen Behinderung auszugehen sei. Die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft ist beim Antragsteller entsprechend der Stellungnahme in erheblichem Umfang beeinträchtigt. Der Antragsteller wurde am 26. August 1999 in der Integrativen Gruppe des F. -Kindergartens in Melle-Neuenkirchen aufgenommen. Die Kosten der Betreuung übernahm der Antragsgegner mit Bescheid vom 18. Oktober 1999 gem. § 39 BSHG i.V.m. § 40 Abs. 1 Nr. 2 a BSHG, nachdem der überörtliche Sozialhilfeträger unter dem 8. Oktober 1999 ein Grundanerkenntnis vom Aufnahmetag bis auf weiteres für die Betreuung in einer teilstationären Einrichtung für geistig Behinderte (Sonderkindergarten) abgegeben hatte.

3

Nachdem der Antragsgegner einen mit Schreiben der Eltern des Antragstellers vom 6. Juni 2000 gestellten Antrag auf weitergehende Hilfe in Form einer ambulanten Autismustherapie mit Bescheid vom 20. Juni 2000 abgelehnt hatte, beantragten die Eltern am 20. Dezember 2000 erneut die ambulante Autismus-Therapie im Umfang von wöchentlich 2 Stunden. Zur Begründung führten sie unter Bezugnahme auf eine zwischenzeitlich eingeholte entsprechende Stellungnahme des Autismus-Therapie-Zentrum in Bielefeld an, dass die zusätzliche ambulante Autismus-Therapie wegen seiner Probleme im Sozial- und Kontaktverhalten und zur Unterstützung seiner Persönlichkeitsentwicklung als unbedingt notwendig angesehen werde. Die Therapie solle seine kommunikativen Möglichkeiten und sein Aktivitätsrepertoire fördern, da eine autismusspezifische Förderung allein durch den Kindergarten nicht gewährleistet werden könne.

4

Mit Bescheid vom 19. Januar 2001 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben mit Widerspruchsbescheid vom 13. März 2001 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller unstreitig einen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 2 a BSHG in einer Einrichtung zur teilstationären Betreuung (Sonderkindergarten) habe, in der die notwendige Hilfe einschließlich der Autismustherapie umfassend sicherzustellen wäre. Alternativ zur Betreuung in einem Sonderkindergarten könnte die Betreuung auch in einer integrativen Gruppe eines Regelkindergartens stattfinden. Für diese Betreuung sei § 2 Abs. 1 VO über die Mindestanforderungen für die gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern vom 29. November 2000 anzuwenden. In dieser Verordnung sei abschließend geregelt, in welcher Höhe der überörtliche Träger der Sozialhilfe Kosten für die Betreuung von behinderten Kindern in diesen Einrichtungen zu tragen habe. Gem. § 2 S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 1 Abs. 2 der genannten VO werde über den Personalkostenanteil für eine heilpädagogische Fachkraft hinaus zur Abgeltung aller weiteren Aufwendungen eine Pauschale in Höhe von zur Zeit 662 DM je betreutem Kind und Monat gezahlt. Nach § 2 Satz 2 der Verordnung seien weitergehende Kostenübernahmen des Sozialhilfeträgers ausgeschlossen. Mit dieser Pauschale seien auch sämtliche Kosten für notwendige Fördermaßnahmen abgegolten. Neben dem Personalkostenanteil und der Pauschale könnten daher keine weiteren Aufwendungen übernommen werden. Dem Träger des Regelkindergartens sei das Behinderungsbild des Kindes bei der Aufnahme bekannt gewesen. Man habe sich dort offenbar in der Lage gesehen, eine dem Behinderungsbild des Kindes entsprechende Betreuung sicherzustellen. Bei der integrativen Förderung handele es sich um ein Angebot, welches zwar alternativ zur Förderung in einem Sonderkindergarten in Anspruch genommen werden könne, jedoch einen zusätzlichen Anspruch des Hilfeempfängers auf Kostendeckung gegenüber dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe nicht begründe. Der gesetzliche Anspruch auf Eingliederungshilfe werde seitens des Kostenträgers in vollem Umfang erfüllt. Die Stellungnahme des Autismus-Therapie-Zentrums sei nicht geeignet, eine andere Entscheidung zu rechtfertigen. - Soweit mit der Widerspruchsbegründung ein Anspruch nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 BSHG geltend gemacht werde, müsse im Hinblick auf den Nachranggrundsatz auf die Inanspruchnahme der Krankenversicherung des Vaters, bei dem der Antragsteller mitversichert sei, verwiesen werden.

5

Nachdem auch die G. -Krankenkasse, bei der der Antragsteller familienversichert ist, unter dem 23. Januar 2001 den Antrag auf Übernahme der Kosten für die streitge ambulante Autismus-Therapie abgelehnt hatte, hat der Antragsteller unter dem Aktenzeichen 6 A 40/01 rechtzeitig Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist, und um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründung des Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtschutzes bezieht er sich auf die eingereichten Stellungnahmen des Autismus-Therapie-Zentrums in H., nach denen bei ihm ein ergänzender Förderbedarf für eine zusätzliche ambulante Einzeltherapie bestehe. Den Ausführungen des Antragsgegners sei das im BSHG niedergelegte Bedarfsdeckungsprinzip entgegen zu halten. Sollte der Anspruch seine Grundlage nicht - wie vom Antragsgegner unterstellt - in den §§ 39 ff. BSHG, sondern in § 35 a SGB VIII finden, sei darauf hinzuweisen, dass der Antragsgegner auch als örtlicher Jugendhilfeträger zur Gewährung der Hilfe nach § 35 a SGB VIII zuständig sei.

6

Der Antragsteller beantragt,

den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm die Kosten für eine Autismustherapie durch Verrichtung des Autismus-Therapie-Zentrums H. im Umfang von wöchentlich zwei Stunden für einen Zeitraum von einem Jahr zu gewähren.

7

Die Antragsgegnerin beantragt unter Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid,

den Antrag abzulehnen.

8

Ergänzend macht er geltend, dass § 43 SGB I in Absatz 1 voraussetze, dass zwischen mehreren Leistungsträgern streitig sei, wer zur Leistung verpflichtet sei. Nur für diesen Fall bestehe die Möglichkeit vorläufiger Leistungen. Eine Streit bestehe insoweit nicht. Im Falle des Antragstellers liege nicht eindeutig eine ausschließlich seelische Behinderung vor. Vor diesem Hintergrund habe sich der überörtliche Sozialhilfeträger als für die Hilfeleistung zuständig angesehen. Es bestehe daher kein Zuständigkeitsstreit, da sich Jugendhilfeträger und Sozialhilfeträger in der Beurteilung des Falles insoweit einig seien. Streitig sei im vorliegenden Fall allein, im welchem Umfang Leistungen zu erbringen seien.

9

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Niederschrift des Erörterungstermins vom 11. Mai 2001 Bezug genommen.

10

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

11

Gem. § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung unter anderem zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn diese Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint. In diesem Sinne nötig ist eine einstweilige Anordnung, wenn sowohl der geltend gemachte Anspruch als auch die Eilbedürftigkeit der begehrten Regelung glaubhaft gemacht worden sind. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.

12

Dem Antragsteller steht gegen den Antragsgegner ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für die hier streitige Therapie zu.

13

Der Anspruch ergibt sich aus §§ 39, 40 i. d. vor dem 1. Juli 2001 geltenden Fassung des BSHG. Zwar hat der Gesetzgeber die Vorschriften über die Eingliederung Behinderter durch das am 1. Juli 2001 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (BGBl. I Nr. 27, S. 1046) umfassend neu geregelt und in diesem Zuge u.a. auch die Vorschriften zur Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 BSHG (Art. 15 SGB IX) geändert. Nach Art. 67 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX sind aber Leistungen auf Teilhabe bis zum Ende der Leistungen oder der Maßnahme die Vorschriften vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden, wenn der Anspruch vor dem Inkrafttreten des SGB IX entstanden ist. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Denn der Eingliederungshilfebedarf ist bereits nach altem Recht entstanden, weil die Eltern des Antragstellers die Gewährung der Hilfe für die hier streitige Einzeltherapie bereits im Dezember 2000 beantragt haben und bereits damals der Bedarf bestand.

14

Nach § 39 Abs: 1 Satz 1 BSHG a. F. ist Personen, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch wesentlich behindert sind, Eingliederungshilfe zu gewähren. Bei dem Antragsteller liegt eine Behinderung vor, die die Eingliederung des Antragstellers in die Gesellschaft wesentlich erschwert. Dies ergibt sich bereits aus der sozialhygienischen Stellungnahme des Amtsarztes und wird von den Beteiligten insoweit auch nicht bestritten.

15

Weiterhin spricht Überwiegendes dafür, dass die festgestellte Beeinträchtigung der Eingliederung darauf zurückzuführen ist, dass der Antragsteller an frühkindlichem Autismus erkrankt ist. Eine entsprechende Diagnose haben bereits die von den Eltern des Antragstellers konsultierten Kinderärzte Dres. I. und J., der Oberarzt Dr. K. des Kinderhospitals in L., der Amtsarzt des Antragsgegners in der sozialhygienischen Stellungnahme und auch Diplom-Psychologe M. M. des Autismus-Therapie-Zentrum gestellt. Dies wird auch von den Parteien nicht in Zweifel gezogen.

16

Bei dem frühkindlichen Autismus handelt es sich um ein vom Verhalten her definiertes, d.h. psychopathologisches Syndrom, dessen Umgrenzung allerdings nicht sicher geklärt ist. Bei einer derartigen Erkrankung liegen tiefgreifende Entwicklungsstörungen vor, denen komplexe Störungen des zentralen Nervensystems, insbesondere im Bereich der Wahrnehmungsverarbeitung zugrunde liegen. Kinder und Jugendliche mit autistischen Entwicklungsstörungen sind in der Regel sowohl geistig als auch seelisch behindert, wobei sich der Schwerpunkt der Behinderung - wie bei allen Mehrfachbehinderungen sich im Laufe der Entwicklung mit dem Lebensalter verlagert (Stellungnahme des wissenschaftlichen Beirates des Bundesverbandes Hilfe für das autistische Kind, Prof. Dres. N., November 1993).

17

Ob im vorliegenden Fall aufgrund des beim Antragsteller vorliegenden spezifischen Störungsbildes von einer geistigen oder seelischen Behinderung auszugehen ist, kann letztendlich dahinstehen. Zwar ist die Zuordnung der Behinderung aufgrund des in § 10 Abs. 2 Satz SGB VIII zu entnehmenden Vorrangs der Jugendhilfe für seelisch behinderte junge Menschen insofern relevant, als im Falle einer seelischen Behinderung der geltend gemachte Anspruch seine Grundlage in § 35 a SGB VIII a. F. finden würde und damit Anspruchsgegner der Jugendhilfeträger wäre. Im vorliegenden Fall nötigt dies aber dennoch nicht dazu, die Art der Behinderung zu klären. Wäre entgegen der bislang von dem Amtsarzt und von den Beteiligten insoweit übereinstimmend getroffenen Feststellung statt von einer geistigen Behinderung tatsächlich von einer seelischen Behinderung auszugehen, hätte das auf den Ausgang des vorliegenden Verfahrens keinen Einfluss, weil in diesem Fall der Antragsgegner in seiner Eigenschaft als örtlich zuständiger Jugendhilfeträger verpflichtet wäre, den geltend gemachten Eingliederungsbedarf zu decken. Die von dem Antragsgegner angeführte, auf § 6 a Nds AGBSHG beruhende Verordnung über die Übernahme von Kosten der Sozialhilfe für die Betreuung behinderter Kinder in integrativen Gruppen von Kindertagesstätten v. 21. Juni 1993 (Nds. GVBl. S. 156) kann auch einem Jugendhilfeanspruch nicht entgegengehalten werden, da diese Verordnung - wie unten ausgeführt - nicht das Leistungsverhältnis zwischen dem Träger Jugendhilfe und dem Hilfesuchenden betrifft.

18

Der geltend gemachte Anspruch besteht gemäß §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 2 a BSHG in dem geltend gemachten Umfang. Der Antragsteller hat bei Zugrundelegung des bisherigen Sach- und Streitstandes die Kosten für eine ergänzende Einzeltherapie im Umfang von 2 Stunden in der Woche glaubhaft gemacht. Aufgrund der vorliegenden Stellungnahmen des Diplompsychologen M. M., dessen Ausführungen im Erörterungstermin vom 11. Mai 2001 sowie der Angaben der für den Antragsteller im Kindergarten zuständigen Heilpädagogin ist bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass bei dem Antragsteller trotz der während des Kindergartenaufenthaltes erzielten Entwicklungsfortschritte der von ihm geltend gemachte ergänzende autismusspezifische Förderbedarf besteht. Denn nach den Ausführungen der ihn betreuenden Heilpädagogin kann dem Antragsteller im Kindergarten keine autismusspezifische Therapie angeboten werden, weil die Heilpädagogin nicht über die entsprechende Ausbildung für die Durchführung einer Autismustherapie verfügt. Darüber hinaus ist aufgrund der Stellungnahmen des Diplompsychologen M. M., denen der Antragsteller nicht entgegen getreten ist, nachvollziehbar, dass aufgrund des spezifischen Störungsbildes für autistische Kinder, zu denen der Antragsteller zählt - eine auf diese Erkrankung abgestimmte Einzeltherapie erforderlich ist, um die störungstypischen Beeinträchtigungen bei der Sprachentwicklung sowie bei der Kontaktaufnahme mit anderen Menschen und die Lernbehinderung zu behandeln, um auf diese Weise die Eingliederung in die Gesellschaft zu fördern. Aufgrund der bei autistischen Kinder vorliegenden Beeinträchtigungen bei der Kontaktaufnahme und der Interaktion mit Dritten erscheint es auch plausibel, dass autistische Kinder die Lernangebote in einer Gruppensituation nur eingeschränkt nutzen können und es deshalb geboten ist, sie ergänzend einzeln zu fördern, um positive Fördereffekte zu erzielen.

19

Der Antragsgegner ist verpflichtet, die Kosten für die zusätzliche Betreuung zu übernehmen. Zwar handelt es sich bei der Entscheidung des Trägers der Sozialhilfe, in welcher Form und in welchem Maß Eingliederungshilfe zu gewähren ist, nach § 4 Abs. 2 BSHG um eine Ermessensentscheidung. Die Regelung des § 40 BSHG gewährt nämlich im Grundsatz keinen Anspruch auf eine konkrete Maßnahme (BVerwG, Urt. v. 2. September 1993 - 5 C 50.91 - BVerwGE 94, 127, 133; VGH Mannheim, Urt. v. 18. Dezember 1996 - 6 S 2598/94 - Behindertenrecht 1997,164 ff.). Das der Behörde eingeräumte Ermessen ist aber durch die sich aus § 39 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BSHG folgende Rechtspflicht bestimmt und begrenzt, im Einzelfall solche Maßnahmen zu ergreifen, die im Hinblick auf die Person des Hilfesuchenden, die Art und Schwere seiner Behinderung am besten versprechen, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe, dem Behinderten eine Eingliederung zu ermöglichen, und die in § 39 Abs. 3 Satz 2 BSHG a. F. beschriebenen Einzelziele so weit wie möglich und nachhaltig erfüllt werden können (BVerwG, Urt. v. 31. August 1995, Buchholz § 40 BSHG Nr. 19 Seite 8/9). Unter Berücksichtigung dieser Zielsetzungen kommt vorliegend vorläufig nur eine zusätzliche Betreuung von wöchentlich zwei Stunden in Betracht. Nach Ansicht der Kammer kann der Antragsteller auch nicht auf die Inanspruchnahme eines Sonderkindergartenplatzes verwiesen werden. Abgesehen davon, dass aufgrund der nachvollziehbaren Ausführungen des Diplompsychologen M. M., die Förderung in einem Sonderkindergarten dem Antragsteller nur eingeschränkte Möglichkeiten gibt, die bei ihm vorhandenen Ressourcen effektiv zu nutzen, sowie auch nicht ersichtlich ist, dass der Verbleib des Antragstellers in der integrativen Gruppe des Kindergartens gänzlich ungeeignet ist und im übrigen nach § 3 Abs. 6 S. 1 KiTaG die von § 39 BSHG erfassten Kinder nach Möglichkeit gemeinsam mit nicht behinderten Kindern in einer Gruppe betreut werden sollen, dürfte dem Antragsteller, nachdem er nunmehr zwei Jahre in der integrativen Gruppe betreut wird, aufgrund seiner Erkrankung der Wechsel in einen anderen Kindergarten oder eine Kindergartengruppe zum jetzigen Zeitpunkt wegen der damit verbundenen Veränderung der äußeren Rahmenbedingungen nicht (mehr) zumutbar sein. Dass dem Antragsteller in der integrativen Gruppe eine gezielte autismusspezifische Einzelintegration angeboten werden kann, ist nicht ersichtlich, dies hat der Antragsgegner bislang auch nicht geltend gemacht.

20

Der Antragsgegner kann dem Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Einzeltherapie nicht die Verordnung über die Übernahme von Kosten der Sozialhilfe für die Betreuung behinderter Kinder in integrativen Gruppen von Kindertagesstätten entgegenhalten. Diese Regelungen betreffen nämlich nicht das durch bundesrechtliche Vorschriften geregelte Leistungsverhältnis zwischen Hilfeempfänger und Sozialhilfeträger. Vielmehr betrifft die Verordnung, die ausschließlich die Art und Weise der Finanzierung einer Kindertagesstätte mit integrativer Betreuung durch den überörtlichen Träger der Sozialhilfe regelt, nur das Verhältnis zwischen dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe und dem Träger der Kindertagesstätte. Dies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut der Vorschriften, als auch aus dem Gesetzeszweck. Die nunmehr in § 6 a Nds AGBSHG enthaltene Verordnungsermächtigung wurde durch das Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder (KiTaG) geschaffen. Das KiTaG sollte nach Begründung des Gesetzentwurfes in erster Linie die Finanzierung der Kindertagesstätten gesetzlich absichern und die finanzielle Beteiligung des Landes an den in kommunaler und freier Trägerschaft betriebenen Kindertagesstätten festlegen (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, Landtags-Drucks. 12/3280, S. 15), so dass lediglich Ansprüche zwischen dem Träger der Kindertagesstätte und dem Land Niedersachsen geregelt wurden. Dass der Landesgesetzgeber mit der Verordnungsermächtigung dem zuständigen Ministerium die Möglichkeit geben wollte, die den Eingliederungshilfeberechtigten nach bundesrechtlichen Vorschriften zustehenden Ansprüche zu modifizieren oder gar zu begrenzen, lässt sich dem KiTaG und den Materialien nicht entnehmen.

21

Die Kammer kann im vorliegenden Fall dahinstehen lassen, ob die Therapie Bestandteil der bereits gewährten teilstationären Eingliederungshilfe ist oder es sich bei ihr um eine eigenständige ambulante Eingliederungsmaßnahme handelt, weil dies auf den Ausgang des Verfahrens keinen Einfluss hätte. Denn der Antragsgegner wäre in beiden Fällen zur Deckung des geltend gemachten Bedarfs verpflichtet, entweder als örtlicher Träger der Sozialhilfe oder als vom überörtlichen Träger herangezogener Sozialhilfeträger. Darüber hinaus muss auch in diesem Verfahren nicht der Frage nachgegangen werden, ob der Träger der Kindertagesstätte gegenüber dem Träger der Sozialhilfe verpflichtet wäre, den Bedarf an Eingliederungshilfe zu decken. Diese Fragen sind im Rahmen der Kostenerstattungsverfahren zwischen dem örtlichen und überörtlichem Träger der Sozialhilfe sowie dem Träger der Kindertagesstätte zu klären.

22

Der Antragsteller hat auch einen entsprechenden Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Regelung ist notwendig, um effektiven Rechtsschutz zu gewähren, weil die durch das Abwarten auf eine Hauptsacheentscheidung eintretende Verzögerung bei der Behandlung für den Antragsteller nicht zumutbar wäre. Nach der nachvollziehbaren Stellungnahme des Diplompsychologen M. M. vom Autismus-Therapie-Zentrums in H. ist im Falle einer autistischen Erkrankung eine frühe und intensive Förderung angezeigt, da wegen der in den ersten Lebensjahren vorhandenen lernsensiblen Phase sich positive Fördereffekte erzielen lassen.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 188 S. 2 VwGO.

Beckmann
Dörmann
Dr. Wichardt