Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 05.06.2002, Az.: 1 B 32/02
Abschiebungsanordnung; Abschiebungsschutz; Abwägung; administrative Haftstrafen; Buddhist; ernstliche Zweifel; exilpolitische Betätigung; Grundrechte; Prognose; Regimekritiker; Richtigkeitsgewissheit; Vietnam; vollendete Tatsachen; vorläufiger Rechtsschutz; Willkür
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 05.06.2002
- Aktenzeichen
- 1 B 32/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 41877
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 51 Abs 1 AuslG
- § 42 Abs 2 VwGO
- § 80 Abs 4 VwGO
- § 80 Abs 5 VwGO
- § 51 Abs 1 VwVfG
- Art 19 Abs 2 EUGrdRCh
- Art 19 Abs 4 GG
- Art 3 MRK
- § 36 Abs 4 AsylVfG
- § 71 Abs 1 AsylVfG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Eine Aussetzung hat im Falle des gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung in Analogie zu § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO bei Vorliegen ernstlicher Zweifel im Regelfall zu erfolgen.
2. Die für eine Abschiebung und für das Schaffen vollendeter Tatsachen erforderliche Richtigkeitsgewißheit ist erst im Hauptsacheverfahren, im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aber nur ausnahmsweise zu erlangen.
3. Mit dieser Verfahrensweise wird bei ernsthaften Risiken einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Heimatstaat zugleich auch Art. 19 Abs. 2 EU-Charta der Grundrechte und Art. 3 EMRK Rechnung getragen.
4. Im unterentwickelten Rechtssystem Vietnams besteht für Regimekritiker wegen der willkürlichen Handhabung die Gefahr administrativer Haftstrafen.
Gründe
Der 1958 geborene Antragsteller vietnamesischer Staatsangehörigkeit und buddhistischen Glaubens kam - nach einem Aufenthalt in der CSFR (1988-1991) - im März 1991 auf dem Landweg in das Bundesgebiet und stellte hier erstmals einen Asylantrag mit der Begründung, er sei gegen das kommunistische System in Vietnam und habe von dort immer schon flüchten wollen, werde daher bei seiner Rückkehr nach Vietnam als "Landesverräter" bestraft. Sein Antrag wurde nach einer Anhörung durch Bescheid vom 23. April 1991 abgelehnt. Die dagegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg (Urt. des Verwaltungsgerichts Lüneburg v. 16.12.1993 - 1 A 622/91 -). Ein Antrag auf Zulassung der Berufung war erfolglos (Beschl. des Nds. OVG v. 1.2.1994 - 9 L 462/94 -).
Am 25. März 2002 stellte der Antragsteller mit der Begründung einen Asylfolgeantrag, er sei seit Oktober 1996 bzw. Jan. 1997 Mitglied im "Verein der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg e.V.", der regelmäßig Besprechungen und Sitzungen durchführe, in vielen Ländern der Welt systemkritisch aktiv sei, eine exilpolitische Zeitung herausgebe und in Vietnam verboten sei, so dass dessen Mitglieder in Vietnam bedroht, inhaftiert, gefoltert und verfolgt würden. Außerdem sei er in Deutschland in vielfacher Weise und sehr engagiert exilpolitisch aktiv, was er mit Fotos und Unterlagen belegen könne (Bl. 9 ff. der VerwV). Nach einer Anhörung vom 22. April 2002 lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 14. Mai 2002 - per Übergabe-Einschreiben zugestellt (abgesandt am 15.5. 02) - die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen; daneben wurde der Antragsteller aufgefordert, das Bundesgebiet binnen 1 Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, wobei ihm die Abschiebung nach Vietnam (oder einen anderen Staat) für den Fall angedroht wurde, dass er die Frist nicht einhalte.
Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 23. Mai 2002 bei der erkennenden Kammer Klage - 1 A 177/02 - erhoben und zugleich um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.
Der fristgerecht (§§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 1, 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG) bei der Kammer gestellte und auch sonst zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 1 A 177/02 hat Erfolg.
1. Fristgerecht ist der Antrag deshalb gestellt, weil der angefochtene Bescheid am 15. Mai 2002 zur Post gegeben und somit, da Fristablauf am 27. Mai 2002 war, am 22. Mai 2002 per Fax bei der Kammer fristgerecht angefochten worden ist.
2. Im Verfahren des § 8o Abs. 5 VwGO sind, ohne dass dies gesetzlich vorgegeben ist, in der Regel die beiderseitigen Interessen im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG gegeneinander abzuwägen. In dem Falle jedoch, daß dem Rechtsschutzantrag - wie hier - keine behördliche Vollzugsanordnung gem. § 8o Abs. 2 Nr. 4 VwGO vorausgeht, weil nach der Einschätzung des Gesetzgebers auf dem Sachgebiet generell schon ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht (vgl. § 75 AsylVfG), ist gerichtlich auf der Grundlage einer Interessenabwägung analog dem Maßstab des § 8o Abs. 4 Satz 3 VwGO zu entscheiden (Finkelnburg/Jank, NJW-Schriften Bd. 12, 4. Auflage 1998, Rdn. 849 ff./851; Schoch/ Schmidt-Aßmann-Pietzner, VwVG-Kommentar, Bd I / Std: Jan. 2000, § 80 Rdn. 252 m.w.N.) - es sei denn, es besteht hinsichtlich des Maßstabes eine gesetzliche Spezialregelung. Eine solche liegt mit § 36 Abs. 4 AsylVfG vor, ohne dass durch sie allerdings jener Maßstab des § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO verändert worden wäre.
Hiernach hat - als "Ausgleich" für den gesetzlichen Ausschluß (s.o.) - gerichtlich eine Aussetzung bei ernstlichen Zweifeln schon im Regelfall zu erfolgen (Kopp, VwGO-Komm. 12. Aufl. § 80 Rdnr. 115) - ein Rechtsgedanke, der u.a. auch in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gilt (Schoch, aaO. Rdn. 204; Sodan/Ziekow, Nomos-Komm. zur VwGO, Losebl., Bearb. Puttler, Rz 109; a.A. Kopp, aaO, Rdn. 116). Demgemäß kommt es hier auf ernstliche Zweifel an, die stets dann anzunehmen sind, wenn "Unklarheiten, Unsicherheiten und vor allem Unentschiedenheit bei der Einschätzung der Sach- und Rechtslage" bestehen (Schoch u.a., aaO., Rdn. 194) bzw. ein Erfolg im Hauptsacheverfahren gleichermaßen unwahrscheinlich wie wahrscheinlich ist (Kopp, aaO, Rdn. 116). Solche Zweifel liegen vor.
Auf diese Weise wird - auf der Grundlage einer prognostischen Risikoeinschätzung - zugleich auch Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union v. 7.12.2000 (Amtsblatt 2000/C 364/01 d. Europ. Gemeinsch.) und damit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK Rechnung getragen, demgemäß niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen werden darf, in dem für ihn das "ernsthafte Risiko" u.a. einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht. Ein solches Risiko besteht hier jedoch (s.u.).
3 Die Erfolgsaussichten des gestellten Antrages - und zugleich die genannten Zweifel - sind hier deshalb anzunehmen, weil bei einer summarischen Prüfung, wie sie für das Eilverfahren des § 80 Abs. 5 VwGO charakteristisch ist, das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 71 Abs. 1 AsylVfG und 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht von der Hand zu weisen ist.
Für ein Wiederaufgreifen gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 VwVfG genügt es, dass im 3-stufigen Wiederaufnahmeverfahren (vgl. dazu BayVGH, Inf-AuslR 1997, 47o m.w.N.; VG Lüneburg, InfAuslR 2000, S. 47) eine nachträgliche Änderung der Sachlage (oder Rechtslage) fristgerecht vorgetragen und die vorgetragenen Gründe an sich geeignet sind und es - analog § 42 Abs. 2 VwGO - möglich erscheinen lassen, dass ein günstigeres Ergebnis erzielt werden kann (BayVGH, aaO, m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234 [BVerwG 06.01.1972 - BVerwG III C 83.70]; 44, 338 [BVerwG 30.01.1974 - BVerwG VIII C 20.72]; 77, 325 [BVerwG 23.06.1987 - BVerwG 9 C 251.86]; BGH NJW 1982, 2128 [BGH 29.04.1982 - IX ZR 37/81]; OVG Münster DÖV 1984, 901). Nur dann, wenn das substantiierte Vorbringen nach jeder denkbaren Betrachtung materiellrechtlich völlig ungeeignet ist, ist ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens abweisbar, wobei verfassungsrechtlich die erforderliche "Richtigkeitsgewißheit" vorliegen muß (BVerfG, InfAuslR 1995, 342 [BVerfG 08.03.1995 - 2 BvR 2148/94] und InfAuslR 1995, 19 [BVerfG 05.10.1994 - 2 BvR 2333/93]). Ist das nicht der Fall, so ist erst im wiedereröffneten Asylverfahren zu prüfen, ob die vorgetragenen Gründe tatsächlich tragen und eine asylrelevante Verfolgung oder aber die Voraussetzungen für Abschiebungsverbote oder -hindernisse vorliegen (BayVGH, aaO m.w.N.; 1. Kamm. des 2. Senats des BVerfG, AuAS 1993, 189/190). Eine Vorwegnahme dieser Prüfung im Eilverfahren scheidet aus. Hierbei wirkt sich allerdings auch schon im Eilverfahren aus, dass § 77 Abs. 1 S. 1, 1. Halbs. AsylVfG die Regelungen zum Wiederaufnahme(Folge)antrag modifiziert und sich die gerichtliche Prüfung nicht etwa auf Tatsachen und Beweismittel beschränken kann, die innerhalb der 3-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 AsylVfG vorgetragen wurden. Vielmehr ist stets der gesamte Vortrag, der bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführt worden ist, zu berücksichtigen, um eine umfassende Beurteilung des Asyl- und Bleiberechts sicher zu stellen. Eine punktuelle Betrachtung nach Zeitabschnitten ist nicht statthaft (so BayVGH, Urt. v. 24.4.1997, aaO.). Das ist bei der summarischen Prüfung auch schon im vorliegenden Eilverfahren zu berücksichtigen.
Hier liegt es so, dass die unstreitige Mitgliedschaft des Antragstellers in dem gen. Verein unter Berücksichtigung seiner exilpolitischen, durch vietnamesische Stellen registrierten Betätigung in Deutschland in dem rechtshängigen Klageverfahren durchaus eine Gefährdung für den Fall seiner Rückkehr nach Vietnam belegen könnten. Es könnten daher - soweit z.Z. überschaubar, ohne künftige Veränderungen in Vietnam vorweg nehmen zu wollen - im maßgeblichen Klageverfahren unter der Geltung des § 86 Abs. 1 VwGO durchaus die Voraussetzungen eines Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG anzunehmen sein. Denn dem Antragsteller könnte bei einer Rückkehr nach Vietnam die von ihm befürchtete Verfolgung inzwischen (anders als noch 1993, vgl. dazu das Urt. v. 16.12.1993) aufgrund der sich in Vietnam geänderten Verhältnisse drohen. Das ist im hier vorliegenden Eilverfahren auch unter Berücksichtigung der im Bescheid angenommenen (hohen) Schwelle exilpolitischer Tätigkeit (S. 3 des Bescheides) derzeit zu Gunsten des Antragstellers beachtlich (§ 80 Abs. 5 iVm Abs. 4 S. 3 VwGO, s.o.), zumal unklar ist, wann diese angenommene (hohe) Schwelle durch welche Tätigkeiten im einzelnen konkret erreicht werden soll: "Ohne detaillierte Kenntnis der jeweiligen Aktionen und Publikationen der Betroffenen ist der Grad der Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht zu beurteilen" (so AA v. 26.2.1999, S. 7). Im übrigen aber schaffte eine einmal vollzogene Abschiebung - u.U. im Widerspruch zu Art. 19 Abs. 2 der EU-Grundrechts-Charta (s.o.) - endgültig vollendete Tatsachen zu Lasten des Antragstellers und Klägers, die im Hauptsacheverfahren nicht mehr revidierbar wären.
Nach § 51 Abs. 1 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem u.a. seine Freiheit wegen z.B. seiner Religion oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für solche Verfolgung ist dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen nicht zahlenmäßig, sondern qualitativ überwiegen ( BVerwG, DÖV 1993, 389 [BVerwG 03.11.1992 - BVerwG 9 C 21/92]; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8. 1993 - 11 L 5666/92 ). Ein solches Überwiegen der Verfolgungsumstände erscheint z.Z. bei abwägender (prognostischer) Betrachtung keineswegs ausgeschlossen. Der erhobenen Klage kommen somit Erfolgsaussichten zu, die im Rahmen des § 8o Abs. 5 VwGO ausreichende Zweifel (s.o.) an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides aufwerfen. Irreparable Maßnahmen - wie die angedrohte Abschiebung des Antragstellers mit ihren einschneidenden Folgen - dürfen damit unter dem verfassungsrechtlichen Gebot tatsächlich effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und mit Rücksicht auf Art. 19 Abs. 2 der EU-Grundrechts-Charta (s.o.) zunächst nicht ergriffen werden.
Denn das Verfolgungsrisiko in Vietnam gem. dem geänderten und neu gefassten VietStGB ist z.Z. sehr schwer einzuschätzen, weil die Reaktionsweise vietnamesischer Behörden "ständigen, zum Teil sehr irrationalen Veränderungen unterworfen" ist (so die sachverständige Stellungn. von Dr. G. Will, Hamburg, vom 14.9.2000, S. 3). Ein Verbot der Doppelbestrafung ist im VietStGB nicht enthalten (so AA an VG Leipzig v. 8.8.2001). Eine dahingehende Prognose, Verhaftungen, Bestrafungen, Umerziehungsmaßnahmen und Zwangsarbeit würden in Vietnam nur und ausschließlich bei "exponierter" Betätigung im Ausland vorgenommen, ist nach Lage der Dinge nicht mehr möglich und geht an der Irrationalität und der dem Zufall verhafteten Willkürlichkeit des vietnamesischen "Rechtssystems" vorbei. Vielmehr
"müssen all diejenigen vietnamesischen Staatsbürger, die im Ausland öffentliche Kritik an dem Regierungssystem ihres Landes bzw. an der Politik ihrer Regierung geübt haben, bei ihrer Rückkehr nach Vietnam mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen" (so Dr. G. Will in seiner gutachterl. Stellungn. v. 14.9.2000, S. 1).
Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich diesbezüglich wie folgt zur Lage in Vietnam gutachterlich geäußert (Stellungn. v. 14.9.2000 an 29. Kammer des Bay. VG München, S. 3):
"Berücksichtigt man all diese Faktoren, so wird zumindest erklärbar, warum manche auch gegenüber ausländischen Medien geäußerten Auffassungen prominenter Oppositioneller ohne nennenswerte Sanktionen und Repressionen hingenommen werden, während kritische Anmerkungen eines unbekannten Bürgers sehr schwerwiegende Bestrafungen nach sich ziehen können."
Aktivitäten unbekannter Bürger, die mit im Ausland operierenden Oppositionsgruppen in Zusammenhang gebracht werden können, werden "meist mit Landesverrat gleichgesetzt" (so Dr. G. Will, aaO.; vgl. Bl. 3 des Asylantrages v. 26.9.91). Oppositionelles Verhalten wird "schlicht als Unbotmäßigkeit bzw. Frechheit angesehen, der mit körperlicher Gewalt und massiver Einschüchterung zu begegnen" ist (Dr. G. Will, aaO.). Diese - neueren - gutachterlichen Äußerungen sind Folge einer sach- und fachkundigen Beobachtung der tatsächlichen vietnamesischen Verhältnisse, die zudem indizieren, dass der Rechtssektor ohnehin "noch weitgehend unterentwickelt" ist (so AA v. 26.2.1999). Nach der Einschätzung der IGFM (Pressemitteilung v. 18.10.2001) "entpuppt sich Vietnam als ein "rechts-beugender Staat"". Dabei mag noch außer Betracht bleiben, dass Vietnam ohnehin ein Staat mit "besonders unzuverlässigem Urkundenwesen" ist und z.B. eine Legalisation von vietnamesischen Urkunden "nach wie vor nicht möglich" ist (Nds. MJ v. 17.1.2002 - 44.12-120 241/30)
Eine deutliche Bedrohung des buddhistischen Antragstellers ist auch aus den Strafvorschriften herzuleiten, die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften und deren Mitgliedern stark beschränken (Art. 81 c vietnStGB - Verbreitung von Zwietracht - und Art. 199 vietn-StGB - Betreiben abergläubischer Praktiken -). Denn die sozialen Probleme haben zugenommen, so dass die Reformpolitik an Glaubwürdigkeit verloren hat und sich viele Menschen den Religionsgemeinschaften zuwenden. In der Stellungnahme von Dr. Will vom 16. Juni 1999 an das VG Freiburg heißt es diesbezüglich:
"Die vietnamesische Regierung sah sich daher auch veranlaßt, am 19.4.1999 ein Dekret über die Zulässigkeit religiöser Aktivitäten zu erlassen, in dem gefordert wird, die entsprechenden Vorschriften rigoros anzuwenden, um jeden Mißbrauch der Religion im Kampf gegen die Volksmacht zu unterbinden."
Nach einer Pressemitteilung der IGFM v. 13.12.2001 sind im Laufe des Jahres 2001 alle bedeutenden Persönlichkeiten der buddhistischen, evangelischen und der katholischen Religionsgemeinschaften sowie der Hoa-Hao-Religion in Vietnam - ohne Gerichtsverfahren - inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt worden. Versammlungen von Religionsgemeinschaften seien von der Volkspolizei und der Armee "brutal aufgelöst" worden. Aus Protest gegen die religiöse Unterdrückung haben sich im Jahre 2001 zwei Buddhisten selbst verbrannt, weitere Selbstverbrennungen sind angekündigt. Der Antragsteller dürfte deshalb im Falle seiner Rückkehr allein wegen seines buddhistischen Glaubens inzwischen einer deutlichen Gefährdung ausgesetzt sein. Nach einer IGFM-Pressemitteilung vom 18.7.2001 häufen sich inzwischen die Berichte aus Vietnam über Misshandlungen, Schikanen und Folter der Behörden gegenüber Gläubigen. Schüler eines Pfarrers seien wegen ihres Engagements "bereits mehrmals verhaftet, zusammengeschlagen und gefoltert" worden, "um falsche Geständnisse zu erpressen". Außerdem heißt es in der zuletzt gen. Pressemitteilung:
"Die vietnamesische Regierung versucht, sie durch alltägliche Schikanen, Hinderung an der Berufsausübung, Geldstrafen wegen angeblicher Verstöße gegen Verkehrsregeln, Mißhandlungen, Verhöre usw. einzuschüchtern. Die katholischen Laien sollen aufhören, Pfarrer Ly zu unterstützen, sich für die Anliegen der Pfarrgemeinden einzusetzen oder unter Hausarrest gestellte Geistliche zu besuchen".
Der Asienreferent der IGFM meint demzufolge (Pressemitteilung v. 18.7.2001):
"Die Unterdrückung der Religionsgemeinschaften in Vietnam erreicht eine neue Qualität. Die breit angelegte Gewaltaktion nicht nur gegen Priester und aktive Laien der katholischen Kirche zeigen, daß die Regierung Vietnams unwillig ist, die zahlreichen Konflikte mit den Gläubigen auf friedlichem Wege zu lösen.
Die IGFM ist daher sehr besorgt, dass die vietnamesische Regierung massiv gegen die Religionsgemeinschaften vorgeht. Es handele sich um eine "Kursänderung" der vietnamesischen Regierung. Beleg hierfür ist u.a. das unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführte Verfahren gegen Pfarrer Ly, der ohne jede Verteidigung am 19. Oktober 2001 in Hue zu 15 Jahren Gefängnis abgeurteilt wurde, wobei die "Brutalitäten gegen seine Familie und Gemeindemitglieder" (so die Pressemitteilung der IGFM v. 22.10.2001) noch hinzu kommen. Diese tatsächlichen Veränderungen in Vietnam belegen für den Fall der Abschiebung das Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Antragstellers iSv Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechts-Charta.
Anknüpfungspunkt für Maßnahmen gegen den Antragsteller könnte heute (anders als noch 1993) auch die Tatsache sein, dass es in Vietnam sog. "administrative Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist. (vgl. Der Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999). Das Instrument administrativer Haft entstammt der französischen Kolonialzeit und dient ganz eindeutig der "Ausschaltung unliebsamer `Konterrevolutionärer Gegner"" (so der Lagebericht des AA v. 26.2. 1999). Es greift in Bürgergrundrechte wie z.B. Art. 72 ein und widerspricht den Bestimmungen des Int. Pakts über bürgerliche u. politische Rechte (AA v. 26.2.1999, S. 3). Die Strafen werden administrativ verhängt, ohne dass sie justiziell von einer unabhängigen 3. Gewalt auf ihre Berechtigung hin noch kontrolliert werden. Entsprechende Strafmaßnahmen tragen deutliche Anzeichen reiner Willkür (Dr. G. Will, S. 3 der Stellgn. v. 14.9.2000). Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich dazu wie folgt geäußert:
"Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um eine Maßnahme handelt, derer sich die vietnamesischen Behörden vor allem in den etwas abgelegeneren Provinzen gerne bedienen, um mißliebige Kritiker aus dem Verkehr zu ziehen und einzuschüchtern." (Dr. G. Will, Stellung. v. 14.9.2000, aaO. S. 5).
Allerdings sind Erkenntnisse über die vietnamesische Praxis in diesem Bereich "nur schwer zu erhalten" (so Lagebericht des AA v. 26.2. 1999), so dass unklar ist, welche Personen aufgrund welcher Erkenntnisse in die Lager verbracht und dort "abgestraft" werden. In der FAZ v. 21.1.1999 heißt es insoweit:
Ein im Westen ausgebildeter Jurist war mehr als zehn Jahre in Haft, auf Grund administrativer Entscheidungen und ohne je ein Gericht gesehen zu haben. "Sie schlagen nicht, sie stecken dich in Einzelhaft oder in ein Arbeitslager - bis du die Gesetze des Klassenkampfs endlich eingesehen hast", sagt er... (FAZ v. 21.1. 1999).
Aufgrund der veränderten, vielschichtigen Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden heute nicht mehr abzugeben. Es ist dem Zufall überlassen, ob jemand repressiv "behandelt" wird oder nicht. Willkürliche Verhaftungen finden statt, wobei das ohnehin nur formale Recht, einen Beistand hinzuzuziehen, nicht einmal eingehalten wird (so im Verfahren gegen Pfarrer Ly, vgl. IGFM-Presse-mitt. v. 22.10. 2001; so auch der Einzelentscheider-Brief Febr. 1999). Eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden ist im Einzelfall unmöglich:
"Da das Vorgehen der vietnamesischen Behörden und auch der Justiz, wie oben bereits ausgeführt, ganz wesentlich politisch beeinflußt und im übrigen in hohem Maße korrupt ist, ist eine objektive Beurteilung, ob sich die zuständigen Stellen von den...geschilderten Erwägungen bei der Entscheidung über das Ob und Wie einer Bestrafung des Betroffenen leiten lassen, praktisch unmöglich." - ai-Stellungnahme v. 2.2.1999 (ASA 41-97.145).
Damit ist mit erheblichen Zweifeln behaftet, ob der Antragsteller - von künftigen Veränderungen in Vietnam während des Klageverfahrens abgesehen - im Hauptsacheverfahren als Flüchtling iSv § 3 AsylVfG noch so ohne weiteres abgelehnt werden könnte. Nach den gegenwärtigen Erkenntnissen ist hier bei zusammenfassender Abwägung vielmehr prognostisch eine Wahrscheinlichkeit für Verfolgungsmaßnahmen gegenüber dem Antragsteller gegeben Deshalb ist ihm - mit Blick auf die angedrohte Abschiebung - zunächst angesichts von Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechts-Charta und unter der Geltung des Art. 19 Abs. 4 GG vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren.
4. Im übrigen stehen der gem. Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht etwa ausnahmsweise besonders gewichtige Gründe entgegen, die es erlaubten, schon vor Abschluß des Verfahrens der Hauptsache die weitgehend irreparable, vollendete Tatsachen schaffende Abschiebung durchzuführen, die von der Antragsgegnerin angedroht worden ist (Pkt. 3 des Bescheides v. 14.5.2002). Denn es ist so, daß der Rechtschutzanspruch eines Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG um so stärker ist, je gewichtiger die ihm auferlegte und abverlangte Belastung ist (BVerfGE 35, 382 / 4o2; BVerfGE, NVwZ 1985, 4o9; BVerfG (3. K. des 2. Senats) NVwZ-Beilage 1996, 19 [BVerfG 27.10.1995 - 2 BvR 384/95] m.w.N.). Deshalb ist sein Rechtsschutzantrag nur im Falle eindeutiger und unumstößlicher Richtigkeit (BVerfG, InfAuslR 1995, 19 [BVerfG 05.10.1994 - 2 BvR 2333/93]) abweisbar, die regelmäßig erst im Hauptsacheverfahren zu erlangen ist:
Droht ... dem Ast. bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Grundrechte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - ... - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (so die 3. Ka. des 2. Senats des BVerfG, Beschl. v. 27.1o.1995, NVwZ-Beilage 3/1996, S. 19 [BVerfG 27.10.1995 - 2 BvR 384/95] m.w.N.)
An solcher unumstößlichen Richtigkeit fehlt es hier jedoch. Vielmehr ist angesichts der Willkürlichkeit behördlicher Maßnahmen gegenüber Renegaten in Vietnam eine Verfolgung des Antragstellers wegen seines buddhistischen Glaubens und wegen seiner exilpolitischen Betätigung naheliegend. Damit sind die erforderlichen Zweifel (s.o.) belegt, ist das Risiko iSv Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechts-Charta gegeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO iVm § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
Dieser Beschluß ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.