Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 15.03.2024, Az.: S 19 AS 38/21
Bedarfsberechnung und Hilfsbedürftigkeit einer Bedarfsgemeinschaft
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 15.03.2024
- Aktenzeichen
- S 19 AS 38/21
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2024, 15541
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE::2024:0315.19AS38.21.00
Rechtsgrundlage
- § 7 Abs. 3 SGB II
In dem Rechtsstreit
B.
- Kläger -
Prozessbevollmächtigte:
C.
gegen
Jobcenter Landkreis Uelzen,
Lüneburger Straße 72, 29525 Uelzen
- Beklagter -
hat die 19. Kammer des Sozialgerichts Lüneburg auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 2024 durch die Richterin am Sozialgericht D. sowie die ehrenamtliche Richterin E. und den ehrenamtlichen Richter F. für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
Der Bescheid vom 08.01.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.02.2021 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, einen Leistungsanspruch nach dem SGB-II zu berechnen.
- 2.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II, was die Beklagte mit der Begründung mangelnder Hilfebedürftigkeit abgelehnt hatte.
Der 1991 geborene Kläger beantragte am 9. November 2020 Grundsicherung für Arbeitssuchende bei der Beklagten. Für ihn war ein rechtlicher Betreuer unter anderem mit dem Aufgabenkreis "Rechtsantrags und Behördenangelegenheiten" bestellt. Zu diesem Zeitpunkt lebte er mit seiner Freundin, der Zeugin, zusammen in einer Doppelhaushälfte in G.. Diese hatte er während seiner Ausbildung zum biologisch technischen Assistenten kennengelernt, sie hatten die Ausbildung gemeinsam absolviert. Die Beziehung entstand zum Ende der Ausbildung. Zusammen zog man nach G., weil beide eine Anstellung bei der H. gefunden hatten. Während der Probezeit erhielt der Kläger eine Kündigung.
In der Folge stellte er den Antrag auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen und gab im Antragsformular an, dass er mit einer "sonstigen Person (zum Beispiel andere Personen in einer Wohngemeinschaft)" seit 15. Juli 2020 zusammenwohne. Als Grundmiete fielen 500 € sowie 75 € Nebenkosten, 75 € Heizkosten und 25 € Stellplatzkosten an.
Im Fragebogen zur Ermittlung des Vorliegens einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft wurde angegeben, dass der Kläger die Weihnachtstage und Geburtstage zusammen mit seiner Freundin verbringe und gemeinsam eine Hausrats-, Unfall- und Rechtsschutzversicherung abgeschlossen habe. Auch das Auto werde gemeinsam genutzt. Die Miete sowie Strom, Heizkosten und Telefon überweise die Freundin.
Mit Schreiben vom 2. Dezember 2020 forderte die Beklagte den Kläger zur Mitwirkung auf. Es sollten folgende Unterlagen eingereicht werden: Anlage WEP für die Freundin, Personalausweis der Freundin, Anlage EK für die Freundin, Anlage VM für die Freundin, Kontoauszüge von allen Konten der letzten 3 Monate von der Freundin, Arbeitsvertrag der Freundin, Verdienstabrechnung für Oktober und November 2020 der Freundin, Arbeitsbescheinigung für den Kläger sowie die Verdienstabrechnung für November 2020 des Klägers.
Mit Schreiben vom 15. Dezember 2020 lehnte der rechtliche Betreuer es ab, Unterlagen der Freundin vorzulegen, mit dem Hinweis darauf, dass hierzu keine Verpflichtung bestehe. Er verwies dazu auf ein Urteil des SG Gießen vom 23. Februar 2016 - S 22 AS 1015/14.
Mit Bescheid vom 8. Januar 2021 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab. Sie begründete dies damit, dass ein Anspruch mangels Hilfebedürftigkeit nicht bestehe. Er wohne mit der Freundin zusammen, der Mietvertrag sei von beiden abgeschlossen, die Alltagsaufgaben im Haushalt würden gemeinsam erledigt, es sei gemeinsam eine Küche gekauft worden. Weihnachten, Geburtstage und Freizeit würden zusammen verbracht. Schließlich seien gemeinsame Versicherungen für Hausrat, Unfall und Rechtsschutz abgeschlossen worden.
Der Kläger erhob hiergegen, vertreten durch den rechtlichen Betreuer, Widerspruch mit Schreiben vom 13. Januar 2021. Der Kläger wohne erst seit Juli 2020 mit der Zeugin zusammen, es gäbe keine gemeinsamen Kinder, es würden keine Angehörigen zusammen versorgt, es lägen keine Befugnisse hinsichtlich der Verfügung über das Einkommen oder Vermögen des jeweils anderen vor und die Küche sei nicht zusammen angeschafft, sondern schlicht vom Vormieter übernommen worden. Die Versicherungsverträge könnten jährlich gekündigt werden, sodass sich ein langfristiges Einstehen und die Übernahme von Verantwortung hieraus nicht ableiten könne.
Mit Bescheid vom 18. Januar 2021 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Sie vertiefte ihre Ausführungen und stellte fehlende Hilfebedürftigkeit nach § 9 Abs. 2 SGB II fest.
Am 27. Januar 2021 hat der Kläger Klage erhoben. Er begründet diese vor allem damit, dass er mit der Zeugin keine Bedarfsgemeinschaft gebildet habe, ein gegenseitiges Einstehen und Verantwortung füreinander übernehmen nicht stattgefunden habe. In der mündlichen Verhandlung am 15. März 2024 hat er zudem angegeben, dass man sich vor rund anderthalb Jahren getrennt habe und er die damals bei der Freundin entstandenen Schulden zurückgezahlt habe.
Er beantragt,
wie erkannt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Sache mündlich am 21. April 2023 verhandelt und dabei den Sachverhalt durch Einvernahme der Zeugin weiter aufgeklärt. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist beim tenorierten Umfang erfolgreich.
Der angegriffene Bescheid vom 8. Januar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Januar 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die Beklagte war nicht berechtigt, den Anspruch des Klägers aufgrund fehlender Hilfebedürftigkeit nach § 9 Abs. 2 SGB II abzulehnen, da sie keine genaue Kenntnis über das Einkommen der Zeugin hatte.
Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen.
Zu Recht ist die Beklagte davon ausgegangen, dass es sich bei der Zeugin und dem Kläger um eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II handelte. Nach § 7 Absatz 3 Nummer 3c SGB II gehören
zur Bedarfsgemeinschaft als Partnerin des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten eine Person, die mit diesem in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander Einzustehen. Eine solche Gemeinschaft ist grundsätzlich dann anzunehmen, wenn es sich um eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft handelt, die daneben keine weiteren Lebensgemeinschaften gleicher Art zulässt und sich durch eine Bindung von solchem Gewicht auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen für Partner füreinander begründen (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 7 (Stand: 19.03.2024), Rz. 218). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist dabei von besonderer Bedeutung, ob eine Partnerschaft besteht, ob man zusammen in einem gemeinsamen Haushalt lebt und ein wechselseitiger Wille für eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft vorliegt. Es kommt also darauf an, dass die Partner sich so füreinander verantwortlich fühlen, dass sie zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt sicherstellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse verwenden (a. a. O., Rz. 225). Dieser subjektive Wille kann anhand objektiver Kriterien nach außen treten. Insoweit hat der Gesetzgeber Vermutungstatbestände in § 7 Absatz 3a SGB II aufgestellt, wie zum Beispiel das Zusammenleben von mehr als einem Jahr oder das Vorhandensein gemeinsamer Kinder. Allein das Fehlen eines Vermutungstatbestandes lässt jedoch nicht das Merkmal einer Bedarfsgemeinschaft entfallen. Vielmehr ist dies aufgrund der Gesamtumstände festzustellen. Ausgangspunkt ist, dass nicht eingetragene oder nicht verheiratete Paare gegenüber eingetragenen oder verheirateten Paaren nicht bessergestellt werden dürfen.
Zur Überzeugung der Kammer handelte es sich bei dem Kläger und der Zeugin zum Zeitpunkt der Antragstellung um eine Bedarfsgemeinschaft i. S. d. § 7 Absatz 3 Nummer 3c SGB II.
Zwar waren der Kläger und die Zeugin erst kurz vor Antragstellung, nämlich im Juli 2020 zusammengezogen, sie kannten sich jedoch bereits seit Beginn der Ausbildung im Jahre 2018 und waren auch vor dem Zusammenzug ein Paar. Während des Zusammenlebens kümmerte sich hauptsächlich die Zeugin um die Wäsche. Die Aufgaben wurden partnerschaftlich verteilt. Sowohl der Kläger als auch die Zeugin haben in der mündlichen Verhandlung angegeben, ein Paar gewesen zu sein. Die Küche war gemeinsam vom Vormieter übernommen und der Mietvertrag von beiden unterschrieben worden, was ein gemeinsames Wirtschaften erkennen lässt. Zur Absicherung des Klägers war dieser von der Zeugin in deren bestehende Versicherungsverhältnisse zu Haftpflicht, Unfall und Rechtsschutz aufgenommen worden, worin sich gemeinsame Sorge und Verantwortung füreinander ausdrücken. In der Gesamtschau dieser Umstände ist das Bestehen einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft zu sehen. Denn der Wertung kann nicht entgegengehalten werden, dass die Partnerschaft erst seit kurzer Zeit bestand und auch das Lebensalter beider jung war. Es ist gerade kennzeichnend für Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaften, dass diese einen Anfang haben, während dessen man das Zusammenleben ausprobiert. Dies bedeutet aber auch, dass das füreinander Verantwortung übernehmen und das füreinander Einstehen seinen Beginn hier findet und in der Partnerschaft erprobt wird. Gerade dieses Ausprobieren des Zusammenlebens, des gemeinsamen Wirtschaftens in Bezug auf Alltagsangelegenheiten dient der Erkenntnisgewinnung, ob sich die Partnerschaft langfristig bewährt. Ohne diese Phase handelte es sich gerade nicht um eine Partnerschaft, sondern um eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft. So haben sich aber weder der Kläger noch die Zeugin verstanden. Vielmehr stand im Vordergrund, ein gemeinsames Zusammenleben und die Partnerschaft auszuprobieren.
Die Leistungen sind daher unter Zugrundelegung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der gesamten Bedarfsgemeinschaft zu berechnen.
Eine Auskunftspflicht der Zeugin besteht nach § 60 Abs. 4 SGB II.
Die Entscheidung zu den Kosten folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).