Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 29.10.2007, Az.: S 22 AS 888/06

Einstellung der Gewährung bereits bewilligter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II); Mitwirkungspflichten zur Gewährung von Sozialleistungen; Wiederholte Verletzung der in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
29.10.2007
Aktenzeichen
S 22 AS 888/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 65632
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOSNAB:2007:1029.S22AS888.06.0A

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid der Stadt H. vom 30. August 2006 wird aufgehoben.

  2. 2.

    Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten nur noch, ob der Beklagte die Gewährung bereits bewilligter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) ab 1. September 2006 zu Recht einstellen durfte.

2

Der Kläger ist gelernter Maurer und erhält Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts; zuletzt bewilligt mit Bescheid vom 21. Juli 2006 für die Zeit vom 1. August 2006 bis 31. Januar 2007. Dabei wurde die mit Bescheid vom 9. Juni 2006 ausgesprochene Absenkung des Arbeitslosengeldes II nach § 31 SGB II für die Zeit vom 1. August 2006 bis 30. September 2006 um 263,50 EUR (= 103,50 EUR Regelleistung nach § 20 SGB II zuzüglich 160,- EUR befristeter Zuschlag nach § 24 SGB II) berücksichtigt. Des Weiteren wurde das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. August 2006 bis 31. Oktober 2006 um weitere 103,50 EUR gemäß § 31 SGB II abgesenkt. Die Absenkungen des Arbeitslosengeldes II begründete der Beklagte damit, dass der Kläger nicht bzw. unzureichend seinen Verpflichtungen aus der Eingliederungsvereinbarung nachgekommen sei (Erstellung des Profils im Jobnetzwerk, regelmäßiges Einloggen in das Jobnetzwerk, Dokumentation von Eigenbemühungen im Jobnetzwerk, Bewerbung auf Stellenangebote als Maurer).

3

Der Kläger erhob gegen die Bescheide vom 9. Juni 2006 und 21. Juli 2006 Widerspruch. Die Widersprüche wurden mit Widerspruchsbescheid vom 29. August 2006 zurückgewiesen. Der Kläger habe sich letztmalig am 28. Juni 2006 in das Jobnetzwerk eingeloggt. Auf die angebotenen Stellen als Maurer habe er sich nicht beworben. Darüber hinaus sei er verpflichtet, auch andere Tätigkeiten auszuüben. Die Absenkungen des Arbeitslosengeldes II seien deshalb rechtmäßig.

4

Mit Bescheid vom 30. August 2006 hob die Stadt H. namens und im Auftrag des Beklagten den Bescheid vom 21. Juli 2006 gemäß § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) zum 1. September 2006 auf und stellte zu diesem Zeitpunkt die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ein. Der Kläger habe gemäß § 2 Abs. 1 SGB II alle Möglichkeiten zur Beendigung seiner Hilfebedürftigkeit auszuschöpfen. Zum 24. Juli 2006 sei er zu der Maßnahme "Aktiv in den Job" eingeladen worden. Auf die Rechtsfolgen bei Nichtteilnahme ohne wichtigen Grund sei er hingewiesen worden. Die bisher gewährten Leistungen würden daher gemäß "§ 2 i.V.m. § 7 SGB II und §§ 60 ff. SGB I zum 01.09.06 eingestellt".

5

Der Kläger hat am 28. September 2006 Klage erhoben, wendet sich gegen die mit den Bescheiden vom 9. Juni 2006 und vom 21. Juli 2006 ausgesprochenen Absenkungen und trägt des Weiteren vor, dass die Einstellung der Leistungen zum 1. September 2006 rechtswidrig sei (Aktenzeichen des Sozialgerichtes: S 22 AS 705/06).

6

Die Kammer hat den Rechtsstreit hinsichtlich des Bescheides vom 21. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. August 2006 und des weiteren Bescheides vom 30. August 2006 mit Beschluss vom 27. November 2006 abgetrennt und unter dem Aktenzeichen S 22 AS 888/06 weitergeführt.

7

In der mündlichen Verhandlung am 29. Oktober 2007 unter dem Aktenzeichen S 22 AS 705/06 hat der Beklagte den Klageanspruch anerkannt und die Absenkung für die Zeit vom 1. Juli 2006 bis 30. September 2006 zurückgenommen. In der mündlichen Verhandlung am 29. Oktober 2007 unter dem Aktenzeichen S 22 AS 888/06 hat der Beklagte dahingehend ein Teilanerkenntnis abgegeben, dass die mit Bescheid vom 21. Juli 2006 ausgesprochene weitere Absenkung für die Zeit vom 1. August 2006 bis 31. Oktober 2006 zurückgenommen wird. Der Kläger hat beide (Teil-)Anerkenntnisse angenommen.

8

Insoweit beantragt der Kläger nunmehr,

den Bescheid der Stadt H. vom 30. August 2006 aufzuheben.

9

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10

Soweit nunmehr nur noch die Einstellung der Leistungsgewährung zum 1. September 2006 streitig ist, trägt der Beklagte weiter vor, dass in Anbetracht der Gesamtumstände festzustellen war, dass das Verhalten des Klägers keinerlei Interesse an einer fruchtbaren Zusammenarbeit erkennen ließ und er - der Beklagte - dadurch zu Recht die Hilfebedürftigkeit habe anzweifeln dürfen. Die vollständige Leistungseinstellung sei deshalb gerechtfertigt gewesen.

11

Die Gerichtsakten zu den Aktenzeichen S 22 AS 705/06, S 22 AS 888/06 und S 22 AS 867/06 ER waren ebenso Gegenstand der Verhandlung, Beratung und Entscheidung wie die Verwaltungsakte des Beklagten, bestehend aus der Leistungsakte und der Vermittlerakte. Hinsichtlich des weiteren Vortrages der Beteiligten, insbesondere zu der umfangreichen Begründung des Bescheides vom 30. September 2006 mit Schriftsatz vom 27. Dezember 2007 (Blatt 20 bis 22 der Gerichtsakte S 22 AS 888/06), wird ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe

12

Die nach erfolgter Annahme des Teilanerkenntnisses (vgl. zur Rechtswirkung des Anerkenntnisses § 101 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) lediglich verbliebene zulässige Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 und 2 SGG ist begründet. Der gemäß § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens gewordene Bescheid vom 30. August 2006 ist rechtswidrig und beschwert daher den Kläger. Der Beklagte hat die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab 1. September 2006 zu Unrecht versagt.

13

I.

Soweit der Beklagte seine Entscheidung auf die Ermächtigungsgrundlage des § 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) stützt, sind die gesetzlichen Vorgaben nicht erfüllt.

14

Kommt danach derjenige, der eine Sozialleistung erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistungen bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise entziehen (§ 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I). Sozialleistungen dürfen wegen fehlender Mitwirkung nur entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folgen schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist (§ 66 Abs. 3 SGB I).

15

So liegt der Fall jedoch hier nicht.

16

Es fehlt an einem vor Bescheiderteilung zwingend ausgesprochenen, speziell auf die Regelung des § 66 SGB I ausgerichteten Hinweises an den Kläger (vgl. hierzu lesenswert Seewald in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 54. Ergänzungslieferung 2007, § 66, Rn. 12 bis 17 m.w.N. zur Rechtsprechung; anders §§ 24, 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X). Der Kläger hat darüber hinaus gegen keine der ihm nach den §§ 60 bis 62 und 65 SGB I obliegenden Mitwirkungspflichten zur Aufklärung des für die Leistungsgewährung notwendigen Sachverhaltes verstoßen. Des Weiteren hat der Beklagte sein Ermessen nicht betätigt (" kann der Leistungsträger "; vgl. § 39 SGB I; zum Ermessensnichtgebrauch Wagner in: jurisPK-SGB I, 1. Auflage 2005, Stand 1. August 2005, § 39, Rn. 20 m.w.N. zur Rechtsprechung; vgl. grundlegend: Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Auflage, 1999, § 7, Rn. 7 - 25).

17

II.

Die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage des § 31 SGB II sind, unabhängig von der Frage, ob die Absenkung verfahrensrechtlich eine Aufhebung der Leistungsbewilligung nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) erfordert oder ob die Absenkung nach § 31 SGB II die Regelung der §§ 45 ff SGB X verdrängt (vgl. hierzu Landessozialgericht Baden-Württemberg , Beschluss vom 22. Januar 2007 - L 13 AS 4160/06 ER-B -, [...] Rn.3), ebenfalls nicht erfüllt.

18

Danach wird das Arbeitslosengeld II unter Wegfall des Zuschlags nach § 24 in einer ersten Stufe um 30 vom Hundert der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung abgesenkt, wen der erwerbsfähige Hilfebedürftige sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, in der Eingliederungsvereinbarung festgelegte Pflichten zu erfüllen oder eine zumutbare Arbeit aufzunehmen und einen wichtigen Grund für sein Verhalten nicht nachweist (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b und c, Satz 2 SGB II). Bei wiederholter Pflichtverletzung nach Absatz 1 oder Absatz 2 wird das Arbeitslosengeld II zusätzlich um jeweils den Vomhundertsatz der nach § 20 maßgebenden Regelleistung gemindert, um den es in der ersten Stufe gemindert wurde (§ 31 Abs. 3 Satz 1 SGB II in der bis 31. Dezember 2006 geltenden und hier maßgeblichen Fassung). Die Belehrung über die Rechtsfolgen hat dabei konkret, verständlich, vollständig und zeitnah zu erfolgen (vgl. zuletzt Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen , Beschluss vom 6. September 2007 - L 7 AS 472/07 ER - m.w.N. zur ständigen Rechtsprechung).

19

Diese Vorgaben beachtend, war der Beklagte nicht berechtigt, das Arbeitslosengeld II zum 1. September 2006 um 30 vom Hundert der Regelleistung abzusenken, denn wann dem Kläger welche Arbeitsangebote als Maurer mit welcher Rechtsfolgenbelehrung offeriert wurden, deren Aufnahme der Kläger dann verweigert haben soll, konnte nicht aufgeklärt werden. Gleiches gilt für die Maßnahme "Aktiv in den Job".

20

Die Kammer weist klarstellend darauf hin, dass eine Vermittlung von Arbeitsangeboten durchaus über das von dem Beklagten betriebene Jobnetzwerk erfolgen kann. Will der Beklagte jedoch hieran anknüpfend Sanktionen aussprechen, hat er im Hinblick auf die objektive Beweislast (vgl. hierzu Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, 2006, § 103, Rn. 19 a) für eine hinreichende Dokumentation Sorge zu tragen.

21

Eine 30 vom Hundert der Regelleistung übersteigende Absenkung des Arbeitslosengeldes II kam bereits nicht in Betracht, weil unter Beachtung der (Teil-)Anerkenntnisse allenfalls eine erstmalige Absenkung in Betracht zu ziehen gewesen wäre.

22

III.

Soweit sich der Beklagte in dem Bescheid vom 30. August 2006 im Hinblick auf die maßgebliche Ermächtigungsgrundlage nicht festlegen will oder kann und auch die Regelung des § 48 SGB X anführt, sind deren Voraussetzungen ebenfalls nicht erfüllt.

23

Tritt danach in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung ein, ist der Verwaltungsakt insoweit mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (§ 48 Abs.1 Satz 1 SGB X).

24

Der Auffassung des Beklagten, dass mit der Nichterfüllung der Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung oder der Weigerung einer Arbeitsaufnahme bereits die Anspruchsvoraussetzung der Hilfebedürftigkeit (§§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II) nicht (mehr) vorläge und daher eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen einträte, vermag die Kammer nicht folgen. Denn § 31 SGB II stellt für die Fälle einer unzureichenden Arbeitsbereitschaft gegenüber den §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II die speziellere und damit abschließende Vorschrift dar (vgl. hierzu ausführlich Klaus in: jurisPK-SGB II, 2. Auflage 2007, Stand 29. September 2007, Rn. 28 - 30; Berlit in: info also, 2003, 195, 198 unter Bezugnahme auf § 25 Bundessozialhilfegesetz) und verwehrt damit den Rückgriff auf § 48 SGB X.

25

Verweigert der Hilfebedürftige die Erfüllung seiner Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung oder die Aufnahme einer Arbeit, enthält § 31 SGB II eine klare Sanktionsvorschrift. Dieses ergibt sich für § 31 SGB II aus der Überschrift des Unterabschnittes 3 ("Anreize und Sanktionen"). Die Regelung des § 31 SGB II wäre überflüssig, wenn im Falle der Weigerung der Arbeitsaufnahme bereits die Anspruchsvoraussetzungen nach den §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 SGB II entfielen. Hinzu kommt, dass § 31 SGB II - wie bereits dargestellt - ein abgestuftes System an Sanktionen mit vorheriger Rechtsfolgenbelehrung vorsieht. Dieses abgestufte System belegt, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die Weigerung, einer Obliegenheit aus der Eingliederungsvereinbarung nachzukommen oder eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, gerade nicht das vollständige Entfallen des Leistungsanspruches zur Folge haben soll (vgl. auch Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand Oktober 2007, K § 9 Rn. 82; Korenke, SGb 2004, 525, 529). Schließlich ist zu beachten, dass bei einer Obliegenheitsverletzung des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen auch die Ansprüche der übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft auf Sozialgeld entfielen, da diese hierauf nach § 28 SGB II nur Anspruch haben, wenn sie mit einem hilfebedürftigen Erwerbsfähigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Ob diese Sozialgeldberechtigten dann über das Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) abgesichert wären, erscheint im Hinblick auf die Regelungen des § 5 Abs. 2 SGB II und § 21 SGB XII jedenfalls fraglich.

26

Etwas anderes ergibt sich erst recht nicht aus dem gegenüber den §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 SGB II allgemeinen Grundsatz des Forderns nach § 2 SGB II, zumal nachträglich festgestellte "Zweifel" an der Hilfebedürftigkeit die durch Bescheid bereits festgestellte Hilfebedürftigkeit nicht entfallen lassen können. Hilfebedürftigkeit entfällt nur dann nachträglich, wenn der Hilfeempfänger seinen Bedarf (§§ 19 ff SGB II) nunmehr durch Einkommen (§ 11 SGB II) oder Vermögen (§ 12 SGB II) decken kann.

27

Ist die Hilfebedürftigkeit des Klägers demnach nicht nach den §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II entfallen und stand dem bereits bewilligten Anspruch kein anrechenbares Einkommen oder Vermögen entgegen, ist keine Änderung in den Verhältnissen eingetreten.

28

Die Kostenentscheidung beruht auf der Regelung des § 193 SGG.

29

Das Urteil kann mit der Berufung angefochten werden; §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.