Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 18.11.2021, Az.: 3 Kap 1/16
Erwerb eines vom Dieselskandal betroffenen VW mit einem Motor der Baureihe EA 189; Voraussetzung für Verkauf und Zulassung von Fahrzeugen auf dem US-amerikanischen Markt; Begriff der Insiderinformation; Nemo-tenetur-Grundsatz; Ad-hoc-Publizitätspflicht
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 18.11.2021
- Aktenzeichen
- 3 Kap 1/16
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 47475
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2021:1118.3KAP1.16.00
Rechtsgrundlagen
- a.F. § 13 Abs. 1 WpHG
- a.F. § 15 Abs. 1 WpHG
- a.F. § 15 Abs. 3 WpHG
- a.F. § 37 Abs. 2 WpHG
- a.F. § 37b Abs. 1 WpHG
- § 31 BGB
- § 166 BGB
- § 826 BGB
- § 826 Abs. 1 BGB
Fundstellen
- BB 2021, 2817-2818 (Pressemitteilung)
- BKR 2022, 660-669
- ZBB 2022, 64
Tenor:
in dem Kapitalanleger-Musterverfahren
D... I... GmbH gegen V... AG und
P... Automobil Holding SE
weist der Senat gemäß § 139 Abs. 1 ZPO zu den Fragen der Kursrelevanz (I.), § 15 Abs. 3 WpHG a.F. und des rechtmäßigen Alternativverhaltens (II.), des Nemo-tenetur-Grundsatzes (III.), der Wissenszurechnung (IV.) und § 826 BGB (V.) auf das Folgende hin:
Gründe
I.
Das Feststellungsziel aus den Schriftsätzen von Q... E... vom 31. Mai 2019 i.V.m. dem Schriftsatz vom 30. September 2019 und dem Schriftsatz von A.... & P.... vom 19. Juni 2019 i.V.m. dem Schriftsatz vom 15. Oktober 2019, jeweils Ziffer (iv) 6.a) lautet:
6.
a) Personen, die als verfassungsmäßig berufene Vertreter der Musterbeklagten zu 1) zu qualifizieren sind, war spätestens ab dem 6. Juni 2008 bekannt, dass die Musterbeklagte zu 1) für die Dauer des Einsatzes der Dieselaggregate mit der internen Bezeichnung EA 189 in ihren Dieselfahrzeugen, beginnend mit dem Modelljahr 2009, entgegen früherer öffentlicher Verlautbarungen nicht in der Lage war, Fahrzeuge mit Dieselmotoren herzustellen, die die in den USA jeweils geltenden NOx-Grenzwerte erfüllen. Diese Personen entschieden sich daher (bzw. nahmen Entscheidungen anderer Mitarbeiter des Konzerns der Musterbeklagten zu 1) zur Kenntnis und akzeptierten diese), PKW mit Dieselmotoren bis auf weiteres, jedenfalls aber für das Modelljahr 2009, auf Grundlage unrichtiger, allein durch eine nach geltenden Vorschriften in den USA unzulässige Manipulationssoftware erreichte Testwerte für NOx-Emissionen, deren Einhaltung Voraussetzung für den Verkauf und die Zulassung aller von der Musterbeklagten zu 1) für den U.S. amerikanischen Markt hergestellten Diesel-PKW war, in Verkehr zu bringen. Daraufhin wurden sämtliche für den U.S.-Markt bestimmten Diesel-PKW für das Modelljahr 2009 mit entsprechender Manipulationssoftware ausgestattet.
(i) Bei diesen Umständen handelte es sich um eine unverzüglich, spätestens am 31. August 2008 zu veröffentlichende, die Musterbeklagte zu 1) unmittelbar betreffende Insiderinformation im Sinne von §§ 13, 15 WpHG in der bis zum 1. Juli 2016 geltenden Fassung.
(ii) Die Unterlassung der vorgenannten Personen, die unverzügliche Veröffentlichung einer Ad hoc-Mitteilung durch die Musterbeklagte zu 1) aufgrund dieser Insiderinformation zu veranlassen, ist sittenwidrig im Sinne des § 826 BGB.
(iii) Diese Unterlassung war in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter auch vorsätzlich im Sinne des § 826 BGB.
(iv) Die Unterlassung dieser Ad-hoc-Mitteilung erfolgte vorsätzlich, hilfsweise grob fahrlässig im Sinne des § 37b Abs. 2 WpHG in seiner bis zum 1. Juli 2016 geltenden Fassung.
1. Der Senat geht davon aus, dass der erste Satz dieses Feststellungsziels jeweils wie folgt zu lesen ist:
a) Personen, die als verfassungsmäßig berufene Vertreter der Musterbeklagten zu 1) zu qualifizieren sind, war spätestens ab dem 6. Juni 2008 bekannt, dass die Musterbeklagte zu 1) für die Dauer des Einsatzes der Dieselaggregate mit der internen Bezeichnung EA 189 in ihren Dieselfahrzeugen, beginnend mit dem Modelljahr 2009, entgegen früherer öffentlicher Verlautbarungen nicht in der Lage war, Fahrzeuge mit Dieselmotoren herzustellen, die die in den USA jeweils geltenden NOx-Grenzwerte erfüllen, und in ausreichendem Maße von den Kunden auf dem US-amerikanischen Markt nachgefragt würden. ...
Diese Klarstellung beruht darauf, dass es der Musterbeklagten nach dem Verständnis des Senats unter Inkaufnahme erheblicher Nachteile an anderer Stelle technisch möglich gewesen wäre, Dieselmotoren herzustellen, die die in den USA jeweils geltenden NOx-Grenzwerte erfüllt hätten, Fahrzeuge mit den entsprechenden Nachteilen aber nicht marktgängig gewesen wären (vgl. etwa Initialschriftsatz der Musterklägerin vom 4. August 2017, Rn. 70-74, 132; Schriftsatz der Beigeladenen California State Teachers' Retirement System (CalSTRS) u.a. vom 15. Dezember 2017, Rn. 29, 132; Schriftsatz der Beigeladenen Reisert vom 13. August 2018, Rn. 268 a.E.; Musterklageerwiderung der Musterbeklagten zu 1) vom 28. Februar 2018, Rn. 573). Nach dem Verständnis des Senats ist diese Feststellung jedenfalls als Minus im oben genannten Feststellungsziel enthalten - wenn nicht das oben genannte Feststellungsziel ohnehin so zu verstehen ist, dass es sich auf die Herstellung von Dieselmotoren für marktgängige Fahrzeuge bezieht.
2. Zu dem oben genannten Feststellungsziel ist zwischen der Musterklägerin und der Musterbeklagten zu 1) unstreitig, dass die jeweiligen Bereichsleiter der Aggregateentwicklung der Musterbeklagten zu 1) in den Jahren 2009 bis 2015 Kenntnis davon hatten, dass die Musterbeklagte zu 1) entgegen früherer öffentlicher Verlautbarungen nicht in der Lage sein würde, Fahrzeuge mit Dieselmotoren herzustellen, die die in den USA jeweils geltenden NOx-Grenzwerte im obigen Sinne erfüllen.
Dabei geht der Senat davon aus, dass sich die genannten Jahreszahlen auf die jeweiligen Modelljahre der Musterbeklagten zu 1) beziehen, namentlich, dass die jeweiligen Bereichsleiter der Aggregateentwicklung der Musterbeklagten zu 1) bereits im Laufe des Jahres 2008 bzw. der jeweils folgenden Jahre Kenntnis davon hatten, dass die Musterbeklagte zu 1) entgegen früherer öffentlicher Verlautbarungen nicht in der Lage sein würde, Fahrzeuge des Modelljahres 2009 bzw. der jeweils folgenden Modelljahre mit Dieselmotoren herzustellen, die die in den USA jeweils geltenden NOx-Grenzwerte im obigen Sinne erfüllen.
3. Zwischen der Musterklägerin und der Musterbeklagten zu 1) ist ferner unstreitig, dass die jeweiligen Bereichsleiter Kenntnis davon hatten und akzeptierten, dass die PKW mit Dieselmotoren des Typs EA 189 für die Modelljahre 2009 bis 2015 mit einer nach geltenden Vorschriften in den USA unzulässigen Manipulationssoftware ausgestattet wurden und allein hierdurch die NOx-Grenzwerte auf dem Prüfstand erreicht werden konnten, die Voraussetzung für den Verkauf und die Zulassung der Fahrzeuge auf dem US-amerikanischen Markt waren.
Dabei ist der Senat der Auffassung, dass es sich bei den jeweiligen Bereichsleitern der Aggregateentwicklung um verfassungsmäßig berufene Vertreter der Musterbeklagten zu 1) jedenfalls für den Bereich Aggregateentwicklung handelt; die weitergehende Frage, ob es sich bei den jeweiligen Bereichsleitern der Aggregateentwicklung auch um verfassungsmäßig berufene Vertreter der Musterbeklagten zu 1) in Bezug auf ihre Kapitalmarktpublizitätspflichten handelt, dürfte erst im Zusammenhang mit der Frage des Verschuldens relevant werden (siehe dazu unten, Ziffer IV).
4. Bei den zum Feststellungsziel zu 6.a festgestellten Umständen handelt es sich nach Auffassung des Senats um eine Insiderinformation im Sinne von §§ 13, 15 WpHG a.F.
a) Eine Insiderinformation ist gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG a.F. eine konkrete Information über nicht öffentlich bekannte Umstände, die sich auf einen oder mehrere Emittenten von Insiderpapieren oder auf die Insiderpapiere selbst beziehen und die geeignet sind, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen.
aa) Konkret i.S.d. § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG a.F. ist eine Information, wenn sie spezifisch genug ist, um einen Schluss auf die mögliche Auswirkung des bereits existierenden Umstands oder des bereits eingetretenen Ereignisses auf die Kurse von Finanzinstrumenten zuzulassen (BGH, Beschluss vom 23. April 2013 - II ZB 7/09 -["Geltl"], NJW 2013, 2114 [BGH 23.04.2013 - II ZB 7/09] [2116 Rn. 19]). Dabei kommt es nach Auffassung des Senats nicht drauf an, ob mit (weit) überwiegender Wahrscheinlichkeit mit einer Aufdeckung dieser Umstände zu rechnen war, so dass es sich bei den im oben genannten Feststellungsziel genannten Umständen um konkrete Informationen i.S.d. § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG a.F. handeln dürfte.
bb) Eine Eignung zur Kursbeeinflussung ist gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 WpHG a.F. gegeben, wenn ein verständiger Anleger die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde. Das Kursbeeinflussungspotential einer Information ist dabei in objektiv-nachträglicher, auf den Zeitpunkt des Insiderhandelns abstellender Ex-ante-Prognose zu ermitteln (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 - XI ZR 51/10 - ["IKB"], NJW 2012, 1800 [BGH 13.12.2011 - XI ZR 51/10] [1804 Rn. 41]). Die Prüfung soll nach dem zur Auslegung heranzuziehenden ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/124/EG der Kommission vom 22. Dezember 2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6 betreffend die Begriffsbestimmung und die Veröffentlichung von Insiderinformation und die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation (vgl. EuGH, Urteil vom 28. Juni 2012 - C-19/11 - ["Geltl"], NJW 2012, 2787 [2789 f. Rn. 55]) anhand der ex ante vorliegenden Informationen erfolgen und soll die möglichen Auswirkungen der Information in Betracht ziehen, insbesondere unter Berücksichtigung der Gesamttätigkeit des Emittenten, der Verlässlichkeit der Informationsquelle und sonstiger Marktvariablen, die das entsprechende Finanzinstrument beeinflussen (BGH, Beschluss vom 23. April 2013 - II ZB 7/09 - ["Geltl"], NJW 2013, 2114 [2117 Rn. 22]).
Abzustellen ist dabei auf die Perspektive eines mit den Marktgegebenheiten vertrauten, börsenkundigen Anlegers (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 - XI ZR 51/10 - ["IKB"], NJW 2012, 1800 [BGH 13.12.2011 - XI ZR 51/10] [1804 Rn. 41]; OLG München, Musterentscheid vom 15. Dezember 2014 - KAP 3/10 - ["HRE"], juris, Rn. 453), der zum Zeitpunkt seines Handelns alle am Markt verfügbaren Informationen kennt (OLG Stuttgart, Musterentscheid vom 22. April 2009 - 20 Kap 1/08 - ["Geltl"], NZG 2009, 624 [628] [OLG Stuttgart 22.04.2009 - 20 Kap 1/08][OLG Stuttgart 22.04.2009 - 20 Kap 1/08]; vgl. auch BaFin, Emittentenleitfaden, 4. Auflage 2013, Ziffer III.2.1.4, S. 35). Entscheidend ist dabei nach allgemeiner Ansicht, ob eine Information für einen verständigen Anleger einen Handlungsanreiz darstellt, also einen Verkaufs- oder Kaufanreiz auslöst und das Geschäft lohnend erscheint (Royé/Fischer zu Cramburg, in: Heidel, Wertpapierhandelsgesetz, 4. Auflage 2013, § 13, Rn. 4; Assmann, in: Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Auflage 2019, Art. 7 VO (EU) Nr. 596/2014, Rn. 82 m.w.N.), weil die erwartete Rendite abzüglich der Transaktionskosten (etwa die Ordergebühren) die Opportunitätskosten, d.h. die Rendite, die eine Anlage in Finanzinstrumenten mit vergleichbarem Risiko erzielen würde, übersteigt (Klöhn, in: KK-WpHG, 2. Auflage 2014, § 13, Rn. 198; dem hat sich der Emittentenleitfaden der BaFin in der neuesten Fassung angeschlossen: 5. Auflage 2020, Modul C, Stand: 25. März 2020, S. 12). Ein Geschäft kann auch als lohnend angesehen werden, wenn die mögliche Rendite in einem vermiedenen Kursverlust liegt (Klöhn, a.a.O.; Emittentenleitfaden 2020, a.a.O.). Demgegenüber scheiden solche Fälle aus, in denen die Verwertung einer nicht öffentlich bekannten Information von vornherein keinen nennenswerten wirtschaftlichen Vorteil verspricht, und damit kein Anreiz besteht, die Information zu verwenden (Emittentenleitfaden 2009, S. 33; 2013, S. 35).
Nach Ansicht des Senats ergibt sich aus der tatbestandlichen Anknüpfung an die Perspektive eines verständigen Anlegers in § 13 Abs. 1 Satz 2 WpHG a.F., dass sich der Gesetzgeber hier bewusst gegen das Anknüpfen an fixe Grenzwerte entschieden hat (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung des Anlegerschutzes - AnSVG vom 24.5.2004, BT-Drucksache 15/3174, S. 34; zum Ganzen vgl. Assmann, in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Auflage 2012, § 13, Rn. 62-65 m.w.N.). Bei der Frage, ob ein verständiger Anleger eine Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde, handelt es sich nach Auffassung des Senats nicht um eine Tatsachen-, sondern um eine Rechtsfrage, für deren Beantwortung die Umstände des jeweiligen Einzelfalles maßgeblich sind; bei dem Tatbestandsmerkmal der Kurserheblichkeit handelt es sich danach um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der einer rein wirtschaftswissenschaftlichen wie auch wissenschaftlich-empirischen Erfassung nicht zugänglich ist (vgl. Mennicke/Jakovou, in: Fuchs, WpHG, 2. Auflag 2016, § 13, Rn. 148 f. m.w.N.). Eine Ex-post-Bewertung der Kursrelevanz, die auf der Grundlage umfangreicher wirtschaftswissenschaftlicher und finanzmathematischer Sachverständigengutachten erfolgt, würde ersichtlich nicht der Entscheidungssituation eines Ad-hoc-Verantwortlichen über etwaige Mitteilungspflichten oder eines Anlegers über seine etwaigen Investitionen Rechnung tragen. Diesen stehen in ihren Entscheidungssituationen - zumindest in aller Regel - keine solchen Sachverständigengutachten zur Verfügung.
cc) Die sogenannte Aufdeckungswahrscheinlichkeit ist nach Auffassung des Senats im Rahmen der Prüfung der Kursrelevanz gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG a.F. ohne Relevanz. Vielmehr ist zu unterstellen, dass die betreffenden Umstände öffentlich bekannt geworden sind.
Der - hier vorliegende - Fall eines (zum damaligen Zeitpunkt) nicht aufgedeckten rechtswidrigen Verhaltens gibt keinen Anlass zu einer teleologischen Reduktion des § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG a.F., zumal es ein Insider regelmäßig selbst in der Hand hätte, das öffentliche Bekanntwerden der Information herbeizuführen. Deshalb gebietet der Zweck der §§ 13, 15 WpHG a.F., der unter anderem darauf gerichtet ist, unzulässigem Insiderhandel vorzubeugen (vgl. Begr RegE 2. FMFG, BT-Drucks. 12/6679, S. 34; Begr RegE AnSVG BT-Drucks. 15/3174, S. 34), auch bei der Prüfung der Kursrelevanz von (noch) nicht aufgedecktem rechtswidrigen Verhalten dessen öffentliche Bekanntheit zu unterstellen. Zudem wird ein verständiger Anleger in aller Regel nicht in der Lage sein, die Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung eines bislang nicht öffentlich bekannt gewordenen rechtswidrigen Verhaltens einzuschätzen; die dazu erforderlichen Interna des Unternehmens und der Aufsichts- sowie Strafverfolgungsbehörden kennt auch die fiktive Figur des verständigen Anlegers nicht.
dd) Mögliche zukünftige Entwicklungen dürften - unabhängig vom oben genannten Gesichtspunkt der Aufdeckungswahrscheinlichkeit - bei der Prüfung der Kurserheblichkeit einer Information einzubeziehen sein, und zwar auch dann, wenn nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass diese Entwicklungen in Zukunft eintreten werden. Ein verständiger Anleger wird bei Vorliegen einer präzisen Information über einen eingetretenen Umstand, der auf ein zukünftiges Ereignis hinweist, zwar den Grad der Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieses Ereignis in Betracht ziehen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. April 2013 - II ZB 7/09 - ["Geltl"], NJW 2013, 2114 [BGH 23.04.2013 - II ZB 7/09] [2117 Rn. 25]; EuGH Urteil vom 28. Juni 2012 - C-19/11 - ["Geltl"], NJW 2012, 2787 [2789 f. Rn. 55]). Hieraus folgt aber gerade nicht, dass er zukünftige Entwicklungen, die er als vergleichsweise unwahrscheinlich bewertet, gänzlich unberücksichtigt lassen würde. Ein verständiger Anleger wird vielmehr die Schwere der Auswirkungen einer ungewissen zukünftigen Entwicklung unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit in seine Überlegungen einbeziehen. Eine Art "Sperrwirkung" für nicht hinreichend wahrscheinliche zukünftige Entwicklungen dürfte § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG a.F. nicht entfalten. Dies schon deshalb, weil es bei den einschlägigen Sachverhalten regelmäßig nicht "das eine zukünftige Ereignis" gibt, sondern stets viele verschiedene Ausgänge denkbar sind (so auch Klöhn, in: KK-WpHG, 2. Auflage 2014, § 13, Rn. 112).
b) Vor diesem Hintergrund waren nach Auffassung des Senats die im obigen Feststellungsziel genannten Umstände aus der maßgeblichen Ex-ante-Perspektive schon im Jahr 2008 bezüglich der Fahrzeuge des Modelljahres 2009 geeignet, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreises der Aktien der Musterbeklagten zu 1) erheblich zu beeinflussen. Sie waren damit kursrelevant im Sinne des § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG a.F..
Nach Auffassung des Senats hätte ein verständiger Anleger die Information, dass die PKW mit Dieselmotoren des Typs EA 189 für das Modelljahr 2009 mit einer nach geltenden Vorschriften in den USA unzulässigen Manipulationssoftware ausgestattet wurden und allein hierdurch die NOx-Grenzwerte (vermeintlich) erreicht werden konnten, die Voraussetzung für den Verkauf und die Zulassung der Fahrzeuge auf dem US-amerikanischen Markt waren, bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigt. Er hätte diese Information als Handlungsanreiz im oben genannten Sinne für einen Verkauf (oder Nicht-Kauf) von Aktien der Musterbeklagten zu 1) gesehen.
Maßgeblich dafür sind nach Auffassung des Senats die folgenden Erwägungen:
aa) Die Gefahr von Strafzahlungen oder anderen Sanktionen und die Gefahr von Käuferklagen dürfte hier keinen wesentlichen Aspekt darstellen, da zum Zeitpunkt des Zulassungsverfahrens der Fahrzeuge des Modelljahres 2009 im Jahr 2008 noch keine Fahrzeuge verkauft waren.
bb) Ein verständiger Anleger würde drohende Reputationsvermögensschäden berücksichtigen, also solche Vermögensschäden, die entstehen, wenn die sogenannten Stakeholder der Gesellschaft auf ein reputationsschädigendes Ereignis in einer Weise reagieren, die zu höheren Kosten oder geringeren Einnahmen der Gesellschaft führt, weil die Stakeholder aufgrund des Ereignisses an der Fähigkeit oder Bereitschaft der Gesellschaft zur Einhaltung ihrer expliziten und impliziten Versprechen zweifeln. Entscheidend ist, ob Dritte berührt sind, die die Musterbeklagte zu 1) finanziell abstrafen können. Dabei kommt es nach Auffassung des Senats nicht auf die zwischen den Parteien streitige Frage an, ob es in der Ex-post-Betrachtung tatsächlich zu einem erheblichen Reputationsvermögensschaden bei der Musterbeklagten zu 1) gekommen ist; entscheidend ist, ob aus der Ex-ante-Sicht eines verständigen Anlegers damit zu rechnen war. Dies ist nach Auffassung des Senats der Fall:
Potentielle Kunden auf dem nordamerikanischen Markt könnten niedrigere Preise erwarten oder ganz von einem Kauf Abstand nehmen, weil sie an der Lauterkeit und technischen Kompetenz der Musterbeklagten zu 1) zweifeln. Dafür dürfte nicht entscheidend sein, ob es potentiellen Kunden bei ihrer Kaufentscheidung gerade um NOx-Emissionen geht oder eher der CO2-Ausstoß die öffentliche Wahrnehmung bestimmt hat, denn die Musterbeklagte zu 1) hat die Vermarktung ihrer Fahrzeuge auf deren besondere Umweltfreundlichkeit und ihre Technologieführerschaft in diesem Bereich gestützt; dies begründet die generelle Kundenerwartung, dass das Fahrzeug insgesamt umweltfreundlich ist sowie alle Umweltvorschriften eingehalten werden, und nicht nur bestimmte, dem Kunden bekannte.
In diesem Zusammenhang dürfte ein verständiger Anleger berücksichtigen, dass der Einbau der Abschalteinrichtung auf eine geringere technische Kompetenz der Musterbeklagten zu 1) schließen lässt, da es der Musterbeklagten augenscheinlich nicht gelungen ist, die Grenzwerte auf legalem Wege einzuhalten oder ihr dies jedenfalls nur mit deutliche höherem Aufwand und damit geringerer Gewinnmarge gelungen wäre. Dieser Aspekt dürfte jedenfalls deshalb von erheblichem Gewicht sein, weil die Musterbeklagte zu 1) ihren Marktanteil in den USA maßgeblich mittels der Clean-diesel-Technologie ausbauen wollte und das Scheitern auf dem US-Markt - nach eigener Darstellung der Musterbeklagten ein "Schlüsselmarkt", der "höchste Priorität" hatte - einen erheblichen Rückschlag auf dem Weg zur angestrebten Weltmarktführerschaft bedeutet hätte. Dem hätte ein verständiger Anleger erhebliche Bedeutung beigemessen, und zwar unabhängig von der Frage, ob der US-Markt zu diesem Zeitpunkt (noch) defizitär war, zumal Zweifel an der Kompetenz, die aktuellen Umweltvorschriften einhalten zu können, auch Zweifel begründen dürften, ob diese Fähigkeit in Zukunft - bei stetig strenger werdenden Umweltvorschriften - gegeben sein wird.
cc) Einen reinen Reputationsverlust, der sich nicht in finanziellen Einbußen niederschlägt, also einen Ansehensverlust ohne wirtschaftliche Auswirkungen, würde ein verständiger Anleger nach Ansicht des Senats wohl kaum bis gar nicht berücksichtigen.
dd) Neben Umsatzeinbußen in den USA wegen geringerem Kundeninteresse (siehe oben) dürfte aus der Perspektive eines verständigen Anlegers auch die Gefahr bestanden haben, dass die Musterbeklagte zu 1) für die Fahrzeuge des nächsten Modelljahres keine Genehmigung der US-Behörden erhält und diese Fahrzeuge in den USA nicht vermarktet werden dürfen. Ein solcher Rückschlag hätte nicht nur in Anbetracht zumindest anfangs fortbestehender Fixkosten und des "Verpuffens" des bereits bis August 2008 betriebenen erheblichen Werbeaufwands zu direkten finanziellen Verlusten geführt, sondern auch das von der Musterbeklagten angestrebte - und gerade auf den Ausbau des Diesel-Segments gestützte - Wachstum auf dem US-Markt erheblich gebremst oder sogar verhindert.
Demgegenüber dürfte der Einwand der Musterbeklagten, die notwendige Technik für eine legale Lösung habe bereits im Jahr 2008 zur Verfügung gestanden, nicht durchgreifen, denn aus der maßgeblichen Ex-ante-Sicht eines verständigen Anlegers wäre damit jedenfalls nicht zu rechnen gewesen, zumal das Vorhandensein einer praktikablen legalen Lösung den Einsatz der illegalen Abschalteinrichtung von vornherein obsolet gemacht hätte.
Ein verständiger Anleger wäre auch kaum davon ausgegangen, dass Umsatzeinbußen im Diesel-Segment sofort durch Mehrverkäufe im Benziner-Segment hätten kompensiert werden können, zumal die Clean-diesel-Technologie gerade das Alleinstellungsmerkmal der Musterbeklagten zu 1) war, welches sie konkurrenzfähig zu Anbietern von Hybrid-Fahrzeugen machen und zum Wachstum auf dem US-Markt führen sollte, während die benzinbetriebenen Fahrzeuge der Musterbeklagten dort eine untergeordnete Rolle spielten.
ee) Die vorgenannten Aspekte hätten deshalb in der Wahrnehmung eines verständigen Anlegers an Gewicht gewonnen, weil eine entsprechende Information für den Markt sehr überraschend gekommen wäre. Die Eignung einer Tatsache zur Kursbeeinflussung steigt, je stärker sie den Markt überrascht (BGH, Beschluss vom 10. Juli 2018 - II ZB 24/14 -, juris, Rn. 61 m.w.N.). In Anbetracht der deutlich auf Umweltfreundlichkeit der Fahrzeuge ausgerichteten öffentlichen Kommunikation der Musterbeklagten zu 1) wäre der Markt von der Information über die Abschalteinrichtung überrascht worden; die Möglichkeit, dass die Musterbeklagte zu 1) über die Umweltfreundlichkeit der Fahrzeuge getäuscht hat, war zuvor nicht im Aktienkurs eingepreist.
Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass im Rahmen der Prüfung des § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG a.F. nach Auffassung des Senats von einem schlichten "Bekanntwerden" der Information ohne flankierende Maßnahmen zur Schadensbegrenzung auszugehen ist, und nicht von einer vorbereiteten Bekanntgabe durch den Emittenten selbst, die gleichzeitig Pläne zur Lösung des Problems enthält und von anderen Maßnahmen begleitet wird.
Nach Einschätzung des Senats wäre die "Enthüllung" von nach US-Recht unzulässigen Abschalteinrichtungen auch für den verständigen Anleger in Europa überraschend gewesen. Dass dort - wie die Musterbeklagte zu 1) einwendet - allgemein bekannt gewesen sei, dass es Abweichungen zwischen Prüfstands- und Straßenbetriebswerten gebe, und Wissenschaftler und Umweltlobbyisten auf die Möglichkeit der Verwendung von Abschalteinrichtungen hingewiesen hätten, steht dem nicht entgegen: Die Existenz der Abweichungen von Prüfstands- und Straßenbetriebswerten ist grundsätzlich auf die in beiden Situationen unterschiedlichen Anforderungen an ein identisch arbeitendes Fahrzeug zurückzuführen und lässt nicht ohne Weiteres einen Rückschluss auf eine aktive Täuschung zu. Die bloße Spekulation über Abschalteinrichtungen stellt zudem eine qualitativ andere Information dar, als die sichere Information, dass solche verwendet werden.
ff) In der Gesamtschau hätten die genannten Aspekte nach Ansicht des Senats ausgereicht, um einem verständigen Anleger einen Handlungsanreiz im oben genannten Sinne zu geben.
Der von den Musterbeklagten unter Verweis auf die umfassende Auswertung des Privatsachverständigen E... erhobene Einwand, in der Vergangenheit hätten vergleichbare Verstöße nicht zu einer Kursbewegung bei den jeweiligen Emittenten geführt, führt nach Auffassung des Senats nicht zu einer anderen Bewertung. Es ist zwar zutreffend, dass ein verständiger Anleger berücksichtigen wird, wie andere Marktteilnehmer in der Vergangenheit auf vergleichbare Sachverhalte reagiert haben, mithin welche Folgen "vergleichbare Compliance-Verstöße" in der Vergangenheit hatten (vgl. BaFin, Emittentenleitfaden, 5. Auflage 2020, Modul C, S. 12). Aus der Perspektive eines verständigen Anlegers hat es aber in der Vergangenheit keine tatsächlich vergleichbaren Sachverhalte gegeben. Der vorliegende Fall unterscheidet sich in mehreren maßgeblichen Gesichtspunkten deutlich von den vom Privatsachverständigen E... angeführten "Vergleichsfällen", da die Musterbeklagte zu 1) den Markt durch eine mindestens irreführende Kundenwerbung und durch falsche Kapitalmarktkommunikation erheblich über ihre technologischen Fähigkeiten in Bezug auf die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte für Diesel in den USA getäuscht hat; sie war im Jahr 2008 - jedenfalls aus der Perspektive eines verständigen Anlegers - schlicht nicht in der Lage, die NOx-Grenzwerte in den USA mit legalen Mitteln einzuhalten, obgleich sie Gegenteiliges bereits im Jahresbericht 2006 behauptet und die hieraus folgenden Chancen ("signifikante Steigerung des Marktanteils in den USA") betont hat (vgl. Anlage qe 43 zum Schriftsatz vom 30. September 2019, S. 18). Gerade das Ausmaß der Täuschung der Zulassungsbehörden, der Verbraucher und des Kapitalmarktes unterscheidet den vorliegenden Fall von anderen, selbst wenn es dort auch zu Emissionsabweichungen zwischen dem Prüfstand und dem Straßenbetrieb gekommen ist. Der von den Musterbeklagten in diesem Zusammenhang angeführte "Vergleichsfall Honda", der ebenfalls einen Defeat-Device-Verstoß zum Gegenstand gehabt habe und in dem ebenfalls eine auf Umweltfreundlichkeit gerichtete Werbekampagne durchgeführt worden sei, war nach Auffassung des Senats aus der Perspektive eines verständigen Anlegers ersichtlich kein geeigneter Vergleichsfall. Honda wurde hier vorgeworfen, bei mehreren Fahrzeugmodellen die Warnanzeige für Fehlzündungen ("misfire monitoring device") deaktiviert zu haben. Dieser Vorwurf hat ein völlig anderes Gewicht, als der hier streitgegenständliche Einsatz einer Prüfstandserkennung.
II.
1. Nach Ansicht des Senats war die Musterbeklagte zu 1) von der Veröffentlichungspflicht nach § 15 Abs. 1 WpHG a.F. nicht gemäß § 15 Abs. 3 WpHG a.F. befreit.
Eine Befreiung nach dieser Vorschrift setzt immer eine bewusste Entscheidung des Emittenten voraus (so auch OLG Frankfurt, Beschluss vom 12. Februar 2009 - 2 Ss-OWi 514/08 -, NZG 2009, S. 391 [392] [LG München I 18.12.2008 - 5 HK O 11182/08][LG München I 18.12.2008 - 5 HK O 11182/08]; Pfüller, in: Fuchs, WpHG, 2. Auflage 2016, § 15, Rn. 416-420 m.w.N.; a.A. OLG Stuttgart, Beschluss vom 22. April 2009 - 20 Kap 1/08 - ["Geltl"], NZG 2009, S. 624 [OLG Stuttgart 22.04.2009 - 20 Kap 1/08] [635]).
Dies ergibt sich nach Auffassung des Senats bereits aus dem Wortlaut des § 15 Abs. 3 Satz 4 WpHG a.F., nach dem der Emittent die Gründe für die Befreiung zusammen mit der Mitteilung nach Absatz 4 Satz 1 der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht unter Angabe des Zeitpunktes der Entscheidung über den Aufschub mitzuteilen hat. Muss der Emittent aber einen Zeitpunkt der Entscheidung mitteilen, setzt dies notwendigerweise voraus, dass er eine solche Entscheidung auch getroffen hat.
Für ein solches Verständnis spricht auch der europarechtliche Hintergrund der Vorschrift: § 15 Abs. 3 Satz 1 WpHG a.F. dient der Umsetzung des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 der Marktmissbrauchsrichtlinie; dieser ist im Aktiv formuliert ("Ein Emittent darf ... aufschieben", 'An issuer may ... delay', «Un émetteur peut ... différer», «Un emisor podrá ... retrasar»); auch dies legt eine bewusste Entscheidung nahe (vgl. Pattberg/Bredol, in: NZG 2013, S. 87 m.w.N.).
In diesem Sinne dürfte auch der Bundesgerichtshof in seiner dritten "Geltl"-Entscheidung zu verstehen sein; dort weist er zwar zunächst darauf hin, dass eine Feststellung, ob die Befreiung von der Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung einer Insiderinformation nach § 15 Abs. 3 WpHG a.F. eine bewusste Entscheidung über den Aufschub der Veröffentlichung voraussetzte, nicht getroffen werden müsse, wenn der Emittent sich auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten berufen könne (BGH, Beschluss vom 23. April 2013 - II ZB 7/09 - ["Geltl"], NJW 2013, S. 2114 [BGH 23.04.2013 - II ZB 7/09] [2118 Rn. 33]). Später führt er aber aus, dass die Berufung auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten voraussetze, dass der Emittent bei rechtmäßigem Verhalten denselben Erfolg herbeigeführt hätte. Dass die dortige Musterbeklagte - wenn sie das Vorliegen einer Insiderinformation erkannt hätte - eine Befreiungsentscheidung getroffen hätte, habe das Oberlandesgericht aber bisher nicht festgestellt (a.a.O., [Rn. 36]). Danach scheint der Bundesgerichtshof vom Erfordernis einer bewussten Entscheidung auszugehen, um die Befreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG a.F. zuzulassen.
Eine bewusste Entscheidung der Musterbeklagten zu 1) in diesem Sinne hat unstreitig nicht vorgelegen.
2. Die Musterbeklagte zu 1) kann sich nach Ansicht des Senats auch nicht mit Erfolg auf den Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens berufen.
Nach diesem Grundsatz entfällt die Zurechnung eines (etwaigen) Schadens dann, wenn dieser auch bei rechtmäßigem Verhalten eingetreten wäre. Im Falle eines Anspruchs aus § 37b WpHG a.F. ist es zwar - auch unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der Norm - nicht grundsätzlich ausgeschlossen, diesen Einwand im Hinblick auf die Selbstbefreiungsoption des § 15 Abs. 3 WpHG a.F. zu erheben (BGH, Beschluss vom 23. April 2013 - II ZB 7/09 - ["Geltl"], NJW 2013, 2114 [BGH 23.04.2013 - II ZB 7/09] [2118 Rn. 34]). Die Voraussetzungen dieses Einwands liegen aber nach Ansicht des Senats nicht vor: Fehlt - wie hier (siehe oben, Ziffer 1) - eine bewusste Entscheidung im Sinne des § 15 Abs. 3 WpHG a.F., so müssen für ein Durchgreifen des Einwands des rechtmäßigen Alternativverhaltens alle übrigen Voraussetzungen § 15 Abs. 3 WpHG a.F. vorliegen und es muss feststehen, dass die Musterbeklagte zu 1) - hätte sie das Vorliegen einer Insiderinformation erkannt - eine Befreiungsentscheidung getroffen hätte (vgl. BGH, a.a.O. [2119 Rn. 35 f.]).
a) Nach Ansicht des Senats liegen nicht alle - neben einer bewussten Entscheidung im obigen Sinne - erforderlichen Voraussetzung des § 15 Abs. 3 WpHG a.F. vor. Nach dieser Vorschrift ist der Emittent von der Veröffentlichungspflicht solange befreit, wie es der Schutz seiner berechtigten Interessen erfordert (aa), keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten ist (bb) und der Emittent die Vertraulichkeit der Insiderinformation gewährleisten kann (cc).
aa) Der Senat hält hierzu an seiner bisherigen Auffassung fest, nach der es an der Erforderlichkeit einer solchen Befreiung zum Schutz berechtigter Interessen der Musterbeklagten zu 1) fehlt (vgl. Anlage 2 zum Protokoll vom 10.-11. September 2018, S. 71-78).
Berechtigte Interessen im Sinne des § 15 Abs. 3 WpHG a.F. liegen nach § 6 der Wertpapierhandelsanzeigeverordnung in der vom 20. Januar 2007 bis zum 2. Januar 2018 geltenden Fassung (im Folgenden: WpAV a.F.) dann vor, wenn die Interessen des Emittenten an der Geheimhaltung der Insiderinformation die Interessen des Kapitalmarktes an einer vollständigen und zeitnahen Veröffentlichung der Insiderinformation überwiegen; dabei ergibt sich aus der Regelungssystematik des § 15 Abs. 1 und Abs. 3 WpHG a.F., dass die Veröffentlichung der Insiderinformation die Regel ist, während die Geheimheimhaltung die Ausnahme darstellt.
Vor diesem Hintergrund dürfte bei Compliance-Verstößen und entsprechenden internen und/oder behördlichen Ermittlungen regelmäßig ein berechtigtes Interesse des Emittenten bestehen, eine Ad-hoc-Meldung jedenfalls nicht vor dem Zeitpunkt veröffentlichen zu müssen, zu dem sich aus den internen Ermittlungen ein einigermaßen verlässlicher Überblick über den Sachstand ergibt und/oder dem Emittenten der Stand der behördlichen Ermittlungen in groben Zügen bekannt ist (vgl. Pfüller, in: Fuchs, WpHG, 2. Auflage 2016, § 15, Rn. 287, der allerdings bis zum Abschluss der internen Untersuchungen warten will). Eine frühere Veröffentlichung bärge die Gefahr in sich, auf dem Aktienmarkt eher Unsicherheit zu verursachen als fundiert zu informieren, und könnte letztlich unnötige Kursbewegungen verursachen. Auch dürfte ein berechtigtes Interesse daran bestehen, zunächst eine einvernehmliche Lösung mit den ermittelnden Behörden anzustreben, um die Insiderinformation sodann gemeinsam mit einem Plan zur Lösung des Problems veröffentlichen zu können. Insgesamt dürfte zudem gelten: Je geringer der Grad des "Tatverdachts" ist, desto eher ist das Geheimhaltungsinteresse berechtigt und geeignet, die Interessen des Kapitalmarktes an einer vollständigen und zeitnahen Veröffentlichung zu überwiegen.
Der Senat hält dazu allerdings an seiner Auffassung fest, dass im Falle behördlicher Ermittlungen die Kooperationsbereitschaft des Emittenten Voraussetzung dafür ist, dass das Geheimhaltungsinteresse berechtigt ist und das Veröffentlichungsinteresse überwiegen kann. Ein Emittent, der behördliche Ermittlungen verzögert oder Teile des Geschehens verschleiert, kann sich nicht auf ein berechtigtes Interesse im obigen Sinne berufen, da er die Befreiungsmöglichkeit zweckwidrig nicht zur Aufklärung der Vorgänge und darauf basierenden (späteren) fundierten Information des Kapitalmarktes nutzt, sondern gerade dazu, dies zu verhindern oder zumindest über die eigentlich zur Aufklärung erforderliche Zeit hinaus zu verzögern.
Hieraus folgt nach Auffassung des Senats, dass die Musterbeklagte zu 1) zunächst darlegen und beweisen muss, dass ihr Vorstand - sobald er von dem eine Ad-hoc-Mitteilungspflicht auslösenden Umstand tatsächlich Kenntnis erlangt hat - alles ihm Mögliche zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen und mit CARB und EPA kooperiert hat. Gelänge dies, wäre in einem zweiten Schritt zu überprüfen, ob sich diese Redlichkeit auch auf die in den Feststellungszielen genannten vorhergehenden Zeitpunkte übertragen lässt. Wegen der Einzelheiten, insbesondere zu der Frage einer hypothetischen Aufklärungs- und Kooperationsbereitschaft der Musterbeklagten zu 1) wird auf die Anlage 2 zum Protokoll vom 10.-11. September 2018 (S. 75-77), Bezug genommen.
bb) Danach dürfte gegenwärtig bereits nicht von einem überwiegenden Geheimhaltungsinteresse auszugehen sein, so dass es auf die Frage, ob im Falle einer Befreiung gemäß § 15 Abs. 3 WpHG a.F. eine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten gewesen wäre, voraussichtlich nicht ankommen wird. Gleichwohl weist der Senat dazu auf die folgenden Aspekte hin:
Der Emittent darf während des Befreiungszeitraums jedenfalls keine Signale setzen, die zu der noch nicht veröffentlichten Insiderinformation in Widerspruch stünden, wobei eine reine "no comment policy" nicht irreführend sein dürfte (vgl. BaFiN, Emittentenleitfaden 2013, S. 61; vgl. auch Pfüller, in: Fuchs, WpHG, 2. Auflage 2016, § 15, Rn. 480 m.w.N.; Klöhn, in: KK-WpHG, 2. Auflage 2014, § 15, Rn. 289-295). Werden im Markt schon konkrete Informationen "gehandelt", kann ein weiteres Schweigen des Emittenten dazu allerdings in die Irre führen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 22. April 2009 - 20 Kap 1/08 - ["Geltl"], NZG 2009, S. 624 [631] [OLG Stuttgart 22.04.2009 - 20 Kap 1/08][OLG Stuttgart 22.04.2009 - 20 Kap 1/08] m.w.N.). Eine Irreführung der Öffentlichkeit ist auch zu befürchten, wenn sich die Insiderinformation wesentlich von früheren öffentlichen Ankündigungen des Emittenten unterscheidet, etwa, weil die Insiderinformation im Gegensatz zu vom Emittenten geweckten Markterwartungen steht (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 - II ZB 31/14 - ["HRE"], juris, Rn. 266 m.w.N.).
Hier dürfte eine Gefahr der Irreführung darin begründet sein, dass die Musterbeklagte zu 1) vor und auch während eines etwaigen Befreiungszeitraums aktiv mit der Umweltfreundlichkeit ihrer Fahrzeuge geworben hat, insbesondere damit, dass diese die Abgasvorschriften aller US-Bundesstaaten einhielten, was tatsächlich nicht der Fall gewesen ist. Gegenüber dem Kapitalmarkt hat die Musterbeklagte gerade diese (vermeintliche) besondere Umweltfreundlichkeit als Kernelement ihres Wachstumskurses auf dem US-Markt dargestellt.
cc) Aus dem oben genannten Grund wird es auf die Frage, ob im Falle einer Befreiung gemäß § 15 Abs. 3 WpHG a.F. die Vertraulichkeit gewährleistet hätte werden können, voraussichtlich ebenfalls nicht ankommen. Gleichwohl weist der Senat dazu auf die folgenden Aspekte hin:
Der Emittent muss nach § 15 Abs. 3 WpHG a.F. sicherstellen, dass nur Personen, die über ihre Insiderpflichten belehrt sind, im weiteren Ablauf von den Insiderinformationen erfahren und dass die Ad-Hoc-Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Vertraulichkeit nicht mehr gewahrt ist, um Insiderhandel zu verhindern. Dies setzt die Kontrolle des Zugangs zu den Informationen voraus (§ 7 WpAV a.F.), und dass diejenigen Personen, die Zugang zu den Insiderinformationen haben, deren Veröffentlichung aufgeschoben wurde, tatsächlich über die Rechtsfolgen von Verstößen aufgeklärt und über ihre Pflichten belehrt sind (BGH, Beschluss vom 23. April 2013 - II ZB 7/09 - ["Geltl"], NJW 2013, 2114 [2119 Rn. 35]). Danach bestehen Zweifel daran, ob die Vertraulichkeit gewährt werden kann, wenn solche Personen mit der Insiderinformation in Kontakt kommen, die nicht entsprechend belehrt sind. Der Verweis auf eine grundsätzlich für ausreichend erachtete allgemeine Belehrung zum Umgang mit Insiderinformationen (vgl. Musterklageerwiderung der Musterbeklagten zu 1) vom 28. Februar 2018, Rn. 1280 ff.) dürfte dazu nicht ausreichen. Vielmehr dürfte die Musterbeklagte zu 1) hierzu vorzutragen haben, welche Personen Kenntnis von der Insiderinformation hatten und ob diese Personen - zuvor - allgemein über den Umgang mit Insiderinformationen belehrt worden sind.
b) Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob die Musterbeklagte zu 1) - hätte sie das Vorliegen einer Insiderinformation erkannt - eine Befreiungsentscheidung getroffen hätte.
III.
Der Senat hält in diesem Zusammenhang auch an seiner bisherigen Auffassung zum Nemo-tenetur-Grundsatz fest (vgl. Anlage 2 zum Protokoll v. 10.-11.9.2018, S. 31).
Die Musterbeklagte zu 1) stellt hilfsweise darauf ab, dass aufgrund des Nemo-tenetur-Grundsatzes keine Ad-hoc-Pflicht bezüglich des Compliance-Verstoßes bestanden habe (Musterklageerwiderung vom 28. Februar 2018, Rn. 1296-1305; Schriftsatz vom 6. September 2018, Rn. 17; Schriftsatz II vom 14. Mai 2019, Rn. 23). Die Musterbeklagte zu 2) ist dem beigetreten (Schriftsatz vom 21. Februar 2019, Rn. 695-723), während die Musterklägerin dem entgegentritt (Schriftsatz vom 31. August 2018, Rn. 50-53; Schriftsatz vom 20. März 2020, Rn. 2, 10).
Dabei kann nach Ansicht des Senats dahinstehen, ob sich der persönliche Schutzbereich des Nemo-tenetur-Grundsatzes ausschließlich auf natürliche Personen erstreckt oder ob der Schutzbereich dieses Grundsatzes auch juristische Personen umfasst.
Der Nemo-tenetur-Grundsatz steht einer Ad-hoc-Pflicht im Sinne des § 15 Abs. 1 WpHG a.F. nicht entgegen. Die Rechtsordnung kennt kein ausnahmsloses Gebot, nach dem niemand zu Auskünften oder zu sonstigen Handlungen verpflichtet sein kann, durch die er eine von ihm begangene strafbare Handlung offenbaren muss. Vielmehr unterscheiden sich die Regelungen und die darin vorgesehenen Schutzvorkehrungen je nach der Rolle der Auskunftsperson und der Zweckbestimmung der Auskunft. Die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Rechtsposition findet ihre Grenze an den Rechten anderer. Das Grundrecht gebietet daher - auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das zusätzlich die Menschenwürde heranzieht - keinen lückenlosen Schutz gegen Selbstbezichtigungen ohne Rücksicht darauf, ob dadurch schutzwürdige Belange Dritter beeinträchtigt werden (BVerfG, Beschluss vom 13. Januar 1981 - 1 BvR 116/77 - ["Gemeinschuldnerentscheidung"], BVerfGE 56, 37-54 [BVerfG 13.01.1981 - 1 BvR 116/77], juris, Rn. 26).
Danach wäre es zwar unzumutbar, eine Person einem Zwang zu unterwerfen, durch ihre eigenen Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen. Etwas anderes gilt aber dort, wo Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses dienen, denn dann ist der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen. Er kann dabei zum Beispiel berücksichtigen, dass es nicht allein um ein staatliches oder öffentliches Informationsbedürfnis, sondern zugleich um die Interessen Dritter geht (BVerfG, a.a.O.). Dies ist hier der Fall:
Die Ad-hoc-Publizitätspflicht dient der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts (vgl. Versteegen, in: KK-WpHG, 1. Auflage 2007, § 15, Rn. 113; Altenhain, KK-WpHG, 2. Auflage 2014, § 39, Rn. 30 m.w.N.) und damit auch dem Schutz individueller Anleger vor Anlageentscheidungen auf Basis unzutreffender Marktinformationen, also beispielsweise dem Schutz von Neuaktionären, die Aktien des Emittenten andernfalls "zu teuer" kauften im Sinne des § 37b WpHG a.F. Nur durch eine uneingeschränkte Ad-hoc-Mitteilungspflicht kann verhindert werden, dass die Aktien eines Emittenten zu solchen nicht korrekten Preisen gehandelt werden. Billigte man dem Emittenten oder seinen Organmitgliedern ein Auskunftsverweigerungsrecht zu, bevorzugte man den Emittenten - in dessen Sphäre es zu dem Compliance-Verstoß gekommen ist - gerade zu Lasten dieser Neuaktionäre. Vor diesem Hintergrund verletzt eine Ad-hoc-Mitteilungspflicht auch nach dem oben geschilderten Maßstab des Bundesverfassungsgerichts nicht die Menschenwürde der Organmitglieder (vgl. BVerfG, a.a.O.).
Zudem ist eine etwaige Ad-hoc-Mitteilung hier Teil des von den Organmitgliedern durch eigenen Willensentschluss übernommenen Pflichtenkreises; sie soll gerade nicht innerhalb eines Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahrens gegeben werden. Vom Bundesverfassungsgericht wurde aber in solchen Fällen keine Einschränkung der Pflichtenlage des sich selbst Belastenden anerkannt, sondern auf die Lösung des Konflikts über ein Verwendungsverbot im Ordnungswidrigkeiten- bzw. Strafverfahren verwiesen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Januar 1981 - 1 BvR 116/77 - ["Gemeinschuldnerentscheidung"], BVerfGE 56, 37-54 [BVerfG 13.01.1981 - 1 BvR 116/77], juris, Rn. 27 f.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1997 - 1 BvR 2172/96 -, BVerfGE 95, 220-243 [BVerfG 26.02.1997 - 1 BvR 2172/96], juris, Rn. 73; ebenso zu § 15 WpHG a.F: Versteegen, in: KK-WpHG, 1. Auflage 2007, § 15, Rn. 113;Klöhn, in: KK-WpHG, 2. Auflage 2014, § 15, Rn. 160; Altenhain, ebenda, § 39, Rn. 30; Sajnovits, in: WM 2016, S. 765 [772 f.]; weitere Nachweise bei Pfüller, in: Fuchs, WpHG, 2. Auflage 2016, § 15, Rn. 291-293).
IV.
1. Der Senat hält nicht mehr an seiner bisherigen Auffassung fest, dass es sich bei den jeweiligen Bereichsleitern der Aggregateentwicklung um verfassungsmäßig berufene Vertreter der Musterbeklagten zu 1) auch in Bezug auf ihre Kapitalmarktpublizitätspflichten handelt.
a) Unterlässt der Emittent eine gebotene Ad-hoc-Mitteilung, so dass ein Schadensersatzanspruch nach § 37b Abs. 1 WpHG a. F. in Betracht kommt, entspricht es der Verantwortlichkeit des Vorstands für die Veröffentlichung von Insiderinformationen zu sorgen; im Rahmen der Verschuldensprüfung ist nach § 37b Abs. 2 WpHG a.F. auf die Kenntnis oder das Kennen-Müssen des Vorstands (bzw. mindestens eines Vorstandsmitglieds) oder des von ihm eingesetzten Ad-hoc-Gremiums abzustellen (Fuchs, a. a. O.; Möllers/Leisch, in: KK-WpHG, 2. Auflage 2014, §§ 37b, c, Rn. 173). Deren zum Schadensersatz verpflichtende Unterlassung einer gebotenen Ad-hoc-Mitteilung wird dem Emittenten in analoger Anwendung von § 31 BGB zugerechnet (Sethe, in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Auflage 2012, § 37b, 37c, Rn. 103; Möllers/Leisch, in: KK-WpHG, 2. Auflage 2014, §§ 37b, c, Rn. 167 ff., 171; Zimmer/Grotheer, in: Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl., §§ 37b, 37c, Rn. 53; vgl. allgemein zur Anwendung von § 31 BGB auf juristische Personen Leuschner, in: MüKo-BGB, 9. Aufl. 2021, § 31, Rn. 3). Eine darüber hinausgehende Zurechnung des Verhaltens anderer leitender Angehöriger des Unternehmens kommt dann in Betracht, wenn ihnen durch allgemeine Betriebsregelung und Handhabung bedeutsame, wesensmäßige Funktionen der juristischen Person zur selbständigen, eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen sind, dass sie also die juristische Person auf diese Weise repräsentieren (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteil vom 14. März 2013 - III ZR 296/11 -, BGHZ 196, 340-355, Rn. 12, juris). Dabei haftet die Gesellschaft nur für solche schädigenden Handlungen ihres Repräsentanten, die er "in Ausführung der ihm zustehenden Verrichtungen" ausgeführt hat, die also in einem inneren Zusammenhang mit dem ihm zugewiesenen Funktionsbereich stehen (BGH, Urteil vom 14. März 2013 - III ZR 296/11 -, BGHZ 196, 340-355, Rn. 16 f.).
Die Leiter des Bereichs Aggregateentwicklung sind zwar nach Maßgabe der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze als andere verfassungsmäßig berufene Vertreter im Sinne von § 31 BGB anzusehen, allerdings nur beschränkt auf den ihnen zugewiesenen Aufgabenkreis der Aggregateentwicklung für die Marke VW. Eine teilweise - nämlich auf die Informationsbeschaffung beschränkte - Repräsentantenstellung für die Ad-hoc-Mitteilungspflichten der Musterbeklagten zu 1) lässt sich aus dieser herausgehobenen Position nicht ableiten.
Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass den Bereichsleitern durch eine allgemeine Betriebsregelung und Handhabung eine für die Ad-hoc-Mitteilungspflicht der Musterbeklagten zu 1) bedeutsame und wesensmäßige Funktion zur selbständigen, eigenverantwortlichen Erfüllung übertragen worden wäre. Die Bereichsleiter der Aggregate-Entwicklung gehörten zwar als Mitglieder des "Oberen Management-Kreises" oder des Top-Managementkreises zu den möglichen "Insidern" im Sinne von Ziffer 3 der Organisations-Anweisung Nr. 49/3 - Stand 1.2.2008 - (Anlage MB 25, S. 2). In dieser Eigenschaft unterschieden sie sich aber nicht von anderen möglichen Insidern, die durch die Organisationsanweisung und vor allem durch die Vorschriften des WpHG besonderen Verhaltenspflichten beim Umgang mit Insiderinformationen unterworfen waren. Auch durch die Organisationanweisung Nr. 49/3 - Stand 1.8.2015 - (Anlage MB 25, S. 7 ff.) ist es zu keiner Übertragung von Aufgaben gekommen, durch die die Bereichsleiter der Aggregateentwicklung in hervorgehobener Weise für die Weiterleitung von Insiderinformationen an den Vorstand verantwortlich gemacht worden wären. Nach Ziffer 7.1 dieser Organisationsanweisung gehören die Bereichsleiter nicht einmal mehr zu den "potentiellen Insidern".
Für eine konkludente Übertragung der teilweisen Ad-hoc-Verantwortung auf die Bereichsleiter Aggregateentwicklung fehlt es an einer Handlung der Musterbeklagten zu 1), die einen entsprechenden Erklärungswert hätte. Allein die Übertragung der Funktion des Bereichsleiters Aggregateentwicklung genügt aus jetziger Sicht des Senats hierfür nicht, da diesem Akt nach dem objektiven Empfängerhorizont unter Berücksichtigung der Verkehrssitte nicht entnommen werden kann, dass damit auch eine teilweise Übertragung speziell von Ad-hoc-Mitteilungspflichten der Musterbeklagten zu 1) verbunden sein sollte.
Eine solche Auslegung ist nicht deshalb naheliegend, weil die Pflicht zur Veröffentlichung von Insiderinformationen nicht allein vom Vorstand wahrgenommen werden kann. Zutreffend ist zwar, dass diese Pflicht des Emittenten auch die Informationsbeschaffung und -sammlung umfasst, da er nur so sicherstellen kann, dass in seinem Unternehmen eingetretene Umstände, die eine Insiderinformation darstellen könnten, zur Kenntnis des für die Veröffentlichung von Insiderinformationen zuständigen Vorstandes oder des von ihm hierfür eingerichteten Gremiums gelangen (vgl. etwa BaFin-Emittentenleitfaden, 3. Aufl. 2009, S. 81; 4. Aufl. 2013, S. 70). Diese Organisationspflicht kann der Emittent indes auch dadurch erfüllen, dass er - wie die Musterbeklagte zu 1) - ein Berichtswesen einführt, durch das ein hinreichender Informationsfluss sichergestellt ist. Eine darüber hinausgehende Pflicht zur Einsetzung von Repräsentanten im Sinne von § 31 BGB, die - rein unternehmensintern - für die Einhaltung der Ad-hoc-Informationssammlung im Bereich der Aggregateentwicklung zuständig wären, lässt sich indes nicht ausmachen. Für die Musterbeklagte zu 1) ist weder durch den Gesetzgeber noch durch die maßgeblichen Verkehrskreise eine Erwartung zur Einsetzung von Repräsentanten für die Ad-hoc-Informationsbeschaffung in operativen Einheiten gesetzt, der sie entsprechen müsste und die eine dahingehende Auslegung der Bestellung der Bereichsleiter Aggregateentwicklung nahelegen würde.
Es ist auch nicht ersichtlich, dass gerade das von der Musterbeklagten zu 1) eingerichtete Berichtswesen derart strukturiert ist, dass die Bereichsleiter Aggregateentwicklung im Sinne von § 31 BGB als Repräsentanten für Informationsbeschaffung zwecks Erfüllung der Ad-hoc-Mitteilungspflichten der Musterbeklagten zu 1) anzusehen wären.
Schließlich dürfte der Bereich Aggregateentwicklung - abweichend von der im Termin vom 25. März 2019 geäußerten Einschätzung - nicht zu den besonders ad-hoc-relevanten operativen Unternehmenseinheiten gehören. Operative Organisationseinheiten können zwar auch ohne besonderen Kapitalmarktbezug zu den besonders ad-hoc-relevanten Unternehmensbereichen gehören, wenn die Leitungen dieser Einheiten regelmäßigen Zugang zu Insiderinformationen haben (vgl. Hellgardt, Kapitalmarktdeliktsrecht, S. 475; vgl. auch Klöhn, Gutachten August 2018, S. 51, 53 f. und 58 f.). Nur für solche Bereiche also, in denen typischerweise mit dem Eintritt von insiderrelevanten Umständen zu rechnen ist, würde ein Außenstehender bei objektivierter Betrachtung annehmen, dass die Leitungspersonen solcher Organisationseinheiten auch teilweise ad-hoc-verantwortlich sind und ihre Handlungen der Musterbeklagten zu 1) nach § 31 BGB zuzurechnen sind. Hierzu zählt der Bereich der Aggregateentwicklung nach jetziger Einschätzung des Senats indes nicht. Auch wenn es (Fehl-)Entwicklungen im Motorbereich geben kann, die eine Insiderinformation ausmachen können, liegen dem Senat keine Anhaltspunkte dafür vor, dass in diesem Bereich in einiger Regelmäßigkeit solche gravierenden Umstände eintreten, die dem Kapitalmarkt durch Ad-hoc-Mitteilungen zur Kenntnis gebracht werden müssten.
b) Auch die vom Bundesgerichtshof für einzelne Fallkonstellationen, insbesondere für persönlichkeitsverletzende Presseberichterstattung, entwickelten Grundsätze der "Fiktionshaftung für mangelhafte Organisation" (vgl. etwa BGH, Urteil vom 8. Juli 1980 - VI ZR 158/78 -, NJW 1980, 2810 [BGH 08.07.1980 - VI ZR 158/78], Rn. 63, juris) können nicht zur Herleitung einer Haftung der Musterbeklagten zu 1) für Fehlverhalten der Bereichsleiter Aggregateentwicklung herangezogen werden. Hintergrund der Fiktionshaftung - wie auch der Repräsentantenhaftung nach § 31 BGB - ist der Gedanke, dass es der juristischen Person nicht freisteht, selbst darüber zu entscheiden, für wen sie ohne Entlastungsmöglichkeit haften will (BGH, Urteil vom 8. Juli 1980 - VI ZR 158/78 -, NJW 1980, 2810 [BGH 08.07.1980 - VI ZR 158/78], Rn. 63, juris; für die Repräsentantenhaftung nach § 31 BGB vgl. BGH, Urteil vom 5. März 1998 - III ZR 183/96 -, Rn. 18, juris); die juristische Person soll haftungsrechtlich nicht besser gestellt werden als eine natürliche Person (RGZ 157, 228, 235; Offenloch, in: BeckOGK BGB, Stand 1.7.2021, § 31, Rn. 125). Dieser Gedanke verfängt aber nur dort, wo die juristische Person demselben Haftungsregime unterliegt wie die natürliche Person (vgl. Offenloch a. a. O., Rn. 126). Dies ist vorliegend nicht der Fall, da die kapitalmarktrechtliche Informationspflicht nach § 15 WpHG a.F. nicht für natürliche Personen gilt. Abgesehen davon ist nicht zu erkennen, dass der Gesetzgeber oder die am Kapitalmarkt tätigen Akteure die Erwartung haben, dass Unternehmen für Fehlverhalten von Führungskräften unterhalb der Vorstandsebene bei Zurückhaltung von potentiell insiderrelevanten Informationen generell ohne Entlastungsmöglichkeit haften müssen. Eine vergleichbare besondere Schutzbedürftigkeit, wie sie im Bereich der persönlichkeitsverletzenden Presseberichterstattung zur Anwendung der Fiktionshaftung führt, ist nicht ersichtlich.
Die vorstehenden Überlegungen gelten auch für die Leiter der Geschäftsbereiche Technische Entwicklung der Marke VW und der Konzern Aggregateentwicklung der Musterbeklagten zu 1).
2. Die Musterbeklagte zu 1) muss das Verhalten bzw. die Kenntnis der Bereichsleiter Aggregateentwicklung vom Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung auch nicht über die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Wissenszurechnung gegen sich gelten lassen.
Die Haftung nach § 37b Abs. 1 WpHG a. F. setzt ein Verschulden in Form des Vorsatzes oder zumindest der groben Fahrlässigkeit des Emittenten bzw. der für ihn insoweit verantwortlich handelnden Personen voraus. Dass kein solches Verschulden vorliegt, ist gemäß § 37b Abs. 2 WpHG a. F. vom Emittenten darzulegen und zu beweisen.
Ein vorsätzlicher Verstoß kommt ungeachtet dessen nur dann in Betracht, wenn der Vorstand (ein Vorstandsmitglied), das von ihm eingesetzte Gremium oder ein für die Ad-hoc-Mitteilungspflicht eingesetzter Repräsentant im Sinne von § 31 BGB Kenntnis von der Insiderinformation hat. Hierzu zählen, wie ausgeführt, die Bereichsleiter Aggregateentwicklung nicht. Deren Kenntnisse sind der Musterbeklagten zu 1) nicht nach den Grundsätzen der Wissenszurechnung zuzurechnen, weil eine solche Zurechnung nach Ansicht des Senats bei der Beurteilung des Verschuldens von pflichtwidrig unterlassenen Ad-hoc-Mitteilungen nicht zur Anwendung kommen.
a) Der Bundesgerichtshof hat die Grundsätze der Wissenszurechnung und Wissenszusammenrechnung für den rechtsgeschäftlichen Verkehr mit juristischen Personen in entsprechender Anwendung von § 166 BGB entwickelt (vgl. etwa BGH, Urteile vom 8. Dezember 1989 - V ZR 246/87 -, BGHZ 109, 327-333 = NJW 1990, 975, Rn. 13; vom 24. Januar 1992 - V ZR 262/90 -, BGHZ 117, 104-109, Rn. 11 f.; vom 2. Februar 1996 - V ZR 239/94 -, BGHZ 132, 30-39 = NJW 1996, 1339, Rn. 20-22; vom 10. Dezember 2010 - V ZR 203/09 -, Rn. 15 ff., jeweils juris). Ausdrücklich offen gelassen hat er, ob diese Grundsätze auch im Bereich der deliktsrechtlichen Haftung Anwendung finden können (BGH, Urteil vom 28. Juni 2016 - VI ZR 536/15 -, WM 2016, 1975 [BGH 28.06.2016 - VI ZR 536/15], Rn. 23; vgl. zur Anwendung in anderen Bereichen Ellenberger, in: Palandt, BGB, 80. Aufl., §§ 166, 167, Rn. 9). Ausgeschlossen hat der BGH aber zumindest, die Haftung einer juristischen Person wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB i. V. m. § 31 BGB damit zu begründen, dass auf das Wissen von Mitarbeitern der juristischen Person, die nicht unter § 31 BGB fallen, abgestellt und dieses zusammen mit dem Wissen eines Organvertreters der juristischen Person zugerechnet wird. Eine solche Wissenszusammenrechnung ist weder auf Tatbestandsebene noch auf der Verschuldensebene des § 826 BGB möglich (vgl. BGH, Urteil vom 28. Juni 2016 - VI ZR 536/15 - WM 2016, 1975, Rn. 23, 26, juris, und Urteil vom 8. März 2021 - VI ZR 505/19 -, WM 2021, 751, Rn. 23).
b) Der Senat tendiert dazu, die Haftungstatbestände der §§ 37b, 37c WpHG a. F. dem deliktischen Bereich zuzuordnen und nicht von einer gesetzlichen Vertrauenshaftung auszugehen (ebenso Sethe, in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Auflage 2012, §§ 37b, 37c, Rn. 19 ff.; Möllers/Leisch, in: KK-WpHG, 2. Auflage 2014, §§ 37b, c, Rn. 14 f. mit weiteren Nachweisen; Fuchs, in: Fuchs, WpHG, 2. Auflag 2016, §§ 37b, 37c Rn. 5, a. A. etwa Zimmer/Grotheer, KMKR, 4. Aufl. 2010, §§ 37b, 37c WpHG, Rn. 9) und schon aus diesem Grund eine Übertragung der Grundsätze der Wissenszurechnung zu verneinen (vgl. hierzu Sajnovitz, WM 2016, 765, 773).
Selbst wenn man aber von einer Vertrauenshaftung ausginge, kommt damit eine Wissenszurechnung und/oder Wissenszusammenrechnung im Sinne der rechtsgeschäftlichen Zurechnungslehre zur Bejahung eines vorsätzlichen Verstoßes nach § 37b Abs. 2 WpHG a.F. aus Sicht des Senats nicht in Betracht. Die Frage der Wissenszurechnung lässt sich nicht mit logisch-begrifflicher Stringenz, sondern nur in wertender Beurteilung entscheiden (BGH, Urteile vom 8. Dezember 1989 - V ZR 246/87 -, BGHZ 109, 327-333 = NJW 1990, 975, Rn. 14; vom 2. Februar 1996 - V ZR 239/94 -, BGHZ 132, 30-39 = NJW 1996, 1339, Rn. 20; vom 15. April 1997 - XI ZR 105/96 -, BGHZ 135, 202 = NJW 1997, 1917, Rn. 17, jeweils juris). Von den hierbei vom BGH herangezogenen Wertungskriterien scheidet das sog. Gleichstellungsargument als Ausprägung des Verkehrsschutzgedankens (vgl. BGH, Urteile vom 8. Dezember 1989 - V ZR 246/87 -, BGHZ 109, 327 = NJW 1990, 975, Rn. 14, 16; vom 2. Februar 1996 - V ZR 239/94 -, BGHZ 132, 30 = NJW 1996, 1339, Rn. 21, vom 15. April 1997 - XI ZR 105/96 -, BGHZ 135, 202 = NJW 1997, 1917-1919, Rn 17; vom 10. Dezember 2010 - V ZR 203/09 -, Rn. 16, jeweils juris) für den Bereich der Ad-hoc-Mitteilungspflicht von vornherein aus, da diese ohnehin nur Emittenten trifft (ebenso Sajnovitz, WM 2016, 765, 768).
Soweit ohne Anführung des Gleichstellungsarguments für eine Wissenszurechnung auf den Verkehrsschutz oder Vertrauensschutz abgestellt und dies mit der Wissensaufspaltung in arbeitsteiligen Organisationen begründet wird (vgl. etwa BGH, Urteile vom 1. Juni 1989 - III ZR 261/87 -, WM 1989, 1364 = NJW 1989, 2879, Rn. 21-27,vom 24. Januar 1992 - V ZR 262/90 -, BGHZ 117, 104, Rn. 11 f.; vom 2. Februar 1996 - V ZR 239/94 -, BGHZ 132, 30 = NJW 1996, 1339, Rn. 22; vom 12. Oktober 2006 - VII ZR 272/05 -, Rn. 15; vom 20. Oktober 2011 - III ZR 252/10 -, VersR 2012, 587 [BGH 20.10.2011 - III ZR 252/10], Rn. 21; jeweils juris), wird man für eine entsprechende Anwendung dieses Gedankens auf den Bereich der Ad-hoc-Mitteilungspflicht verlangen müssen, dass die Haftungsnormen der §§ 37b und 37c WpHG a.F. eine entsprechende Verkehrs- oder Vertrauenserwartung rechtfertigen (vgl. Sajnovitz, WM 2016, 765, 768; Schubert, in MüKo-BGB, 9. Aufl. 2021, § 166, Rn. 64, 69 f.). Dies ist indes nicht erkennbar. Vielmehr gilt nach Auffassung des Senats auch insoweit, dass der Emittent durch die Einrichtung und regelmäßige Überprüfung eines Informationsmanagementsystems den gesetzlichen Anforderungen und den Verkehrserwartungen genügen kann (vgl. oben zu IV.1. [a]). Für eine generelle Ausweitung der Wissenszurechnung dahingehend, dass ein vorsätzliches schädigendes Verhalten von Mitarbeitern des Emittenten, die nicht für den Bereich der Ad-hoc-Mitteilungspflicht verantwortlich sind, dem Emittenten zur Begründung eines vorsätzlichen Verstoßes gegen die Mitteilungspflicht zugerechnet wird, besteht kein Anlass.
c) Da der Senat für die Verschuldensfrage im Rahmen der Haftung nach § 37b WpHG a.F. nicht von einer Zurechnung vorsätzlichen Mitarbeiterverhaltens über § 31 BGB oder die Grundsätze der Wissenszurechnung ausgeht, wird die Musterbeklagte zu 1) lediglich nachzuweisen haben, dass keines ihrer Vorstandsmitglieder von den ad-hoc-relevanten Umständen Kenntnis hatte und dies auch nicht auf grober Fahrlässigkeit beruhte. Hierzu wird Beweis durch Vernehmung von Zeugen zu erheben sein.
V.
Der Senat hält an seiner Rechtsauffassung fest, dass Ansprüche aus § 37b Abs. 1 WpHG a.F., die auf das Unterlassen einer Ad-hoc-Mitteilung gestützt werden, die bis zum 9. Juli 2012 erstmals hätte veröffentlicht werden müssen, verjährt sind. In diesen Fällen richtet sich die Verjährung auch bei vorsätzlichen Pflichtverletzungen nach § 37b Abs. 4 WpHG a.F. in der bis zum 9. Juli 2015 geltenden Fassung. Die hier vorgesehene kenntnisunabhängige Verjährungsfrist von drei Jahren hat in dem Zeitpunkt zu laufen begonnen, in dem die unverzügliche Veröffentlichung der Insiderinformation erstmals geboten war, jedoch unterlassen wurde. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführungen in den mündlichen Verhandlungen vom 10. September 2018 (Anlage 2 zum Protokoll, S. 2 ff.) und vom 1. Juli 2019 Bezug genommen (Anlage 2 zum Protokoll, S. 24 ff.).
Für den Zeitraum vor dem 9. Juli 2012 kommen aber Ansprüche aus § 826 BGB in Betracht. Solche Ansprüche unterliegen - auch insoweit hält der Senat an seiner Rechtsauffassung fest - nicht der Verjährung nach § 37b Abs. 4 WpHG a.F. in analoger Anwendung. Auch insoweit kann zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vom 1. Juli 2019 Bezug genommen werden (Anlage 2 zum Protokoll, S. 29 ff.).
Der Tatbestand des § 826 BGB kann auch durch das Unterlassen einer Kapitalmarktinformation verwirklicht werden. Die in den Fällen der Informationsdeliktshaftung ohnehin strengen Voraussetzungen einer Haftung aus § 826 BGB sind durch das weitere Erfordernis, dass ein Unterlassen infolge einer Handlungspflicht dem Handeln gleichzusetzen sein muss, nochmals gesteigert (vgl. OLG Braunschweig, Urteil vom 12. Januar 2016 - 7 U 59/14 -, juris, Rn. 55). Zumindest bei direktem Vorsatz und offensichtlicher Veröffentlichungsbedürftigkeit wird regelmäßig auch im Falle des Unterlassens von einem sittenwidrigen Handeln auszugehen sein. Es bedarf jedoch immer einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände (vgl. Anlage 2 zum Sitzungsprotokoll vom 10. September 2018, S. 5, 6).
Diese Gesamtbetrachtung kann auch unabhängig von den vorgenannten Merkmalen eines direkten Vorsatzes und einer offensichtlichen Veröffentlichungsbedürftigkeit dazu führen, dass das Unterlassen einer gebotenen Kapitalmarktinformation als sittenwidrig zu bewerten ist. Allein entscheidend ist, ob zu der Verletzung der Rechtspflicht besondere Umstände hinzutreten, die das schädigende Verhalten wegen seines Zwecks oder wegen des angewandten Mittels oder mit Rücksicht auf die dabei gezeigte Gesinnung nach den Maßstäben der allgemeinen Geschäftsmoral und des als "anständig" Geltenden verwerflich machen (BGH, Urteil vom 4. Juni 2013 - VI ZR 288/12 -, juris, Rn. 14). Solche Umstände könnten sich im vorliegenden Fall aus der den realen Gegebenheiten diametral entgegengesetzten aktiven Kapitalmarktkommunikation der Musterbeklagten zu 1) ergeben. Nach den an den Kapitalmarkt gerichteten Äußerungen der Musterbeklagten zu 1) erfüllte der "Clean Diesel" die "strengsten Abgasnormen der Welt" (z.B. Pressemitteilung vom 29. November 2006, Anlage MK 20 zum Schriftsatz vom 4. August 2017) und werde "den Marktanteil in den USA signifikant steigern" (Jahresfinanzbericht 2006, S. 18, Anlage qe 43 zum Schriftsatz vom 30. September 2019) bzw. "habe in diesem Schlüsselmarkt ein großes Potential" (Jahresfinanzbericht 2006, S. 25, a.a.O.) und man könne "damit [...] ein lukratives und wachstumsorientiertes Segment im Markt besetzen und uns einen Vorteil gegenüber dem Wettbewerb verschaffen" (Hauptversammlung vom 19. April 2007, Anlage lipa 2 zum Schriftsatz vom 15. August 2019).
Nach dem Klägervortrag waren diese (und gleichgerichtete) öffentliche Kapitalmarktinformationen der Musterbeklagten zu 1) vorsätzlich falsch. Ausgehend von diesem Klägervortrag diente das Unterlassen der gebotenen Kapitalmarktinformation somit dazu, die zielgerichtet herbeigeführte Fehlvorstellung des Kapitalmarkts aufrecht zu erhalten.
Unter diesem Gesichtspunkt könnte das Unterlassen - abhängig von dem von der Klägerseite zu beweisenden Kenntnisstand der Mitglieder des Konzernvorstands und den etwaigen Vorstellungen dieser Personen in Bezug auf die mögliche Kursrelevanz der jeweiligen Informationen - den Tatbestand des § 826 BGB verwirklicht haben.
VI.
Der Senat hält an seiner Rechtsauffassung fest, dass der objektive Tatbestand des § 37b Abs. 1 WpHG a.F. keine Kenntnis der Vorstandsmitglieder voraussetzt (vgl. Anlage 2 zum Sitzungsprotokoll vom 25. März 2019, S. 6). Insoweit obliegt es deshalb gemäß § 37b Abs. 2 WpGH a.F. den Musterbeklagten, darzulegen und Beweis dafür anzutreten, dass die Unterlassung der Veröffentlichung nicht auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruhte. Abweichend von dem Hinweisbeschluss des Senats vom 29. März 2019 (dort unter V., S. 3) umfasst diese Darlegungsobliegenheit nach den Ausführungen oben zu IV. nicht die Leiter der Marken- und Konzernbereiche Aggregateentwicklung und Qualitätssicherung, sondern beschränkt sich auf die Mitglieder des Konzernvorstands. Die Musterbeklagte zu 2) hat hierzu bereits mit Schriftsatz vom 16. März 2021 umfassend vorgetragen und Beweis angetreten. Die Musterbeklagte zu 1) hat in Bezug auf den damaligen Vorstandsvorsitzenden Winterkorn ebenfalls bereits umfangreich vorgetragen und Beweis angetreten. Gleiches gilt für den damaligen Finanzvorstand Hans-Dieter Pötsch. Im Übrigen hat sich die Musterbeklagte zu 1) noch nicht dazu erklärt, ob sie sich den Vortrag und die Beweisantritte der Musterbeklagten zu 2) zu eigen machen möchte. Unabhängig hiervon besteht - wie bereits vom Senat in Aussicht gestellt - für die Musterbeklagten Gelegenheit zum subjektiven Tatbestand in Bezug auf die maßgeblichen Personen ergänzend vorzutragen.
In Bezug auf eine Haftung aus § 826 Abs. 1 BGB obliegt es der Klägerseite zu der für das Tatbestandsmerkmal der Sittenwidrigkeit relevanten Gesinnung bzw. dem Vorsatz von Mitgliedern des Vorstands vorzutragen und hierzu Beweis anzutreten. Dies ist durch die Musterklägerin und einige Beigeladene in unterschiedlichen Zusammenhängen bereits geschehen. Aufgrund des entstandenen Umfangs und der hiermit verbundenen Unübersichtlichkeit des schriftsätzlichen Vortrags regt der Senat an, den Vortrag und die Beweisantritte hierzu noch einmal zu bündeln.
In diesem Zusammenhang weist der Senat auf folgende rechtliche Gesichtspunkte hin:
In Bezug auf innere Tatsachen anderer Personen, die der direkten Wahrnehmung durch Zeugen entzogen sind (insbesondere die Kenntnis dieser Person von bestimmten Umständen), kann ein Zeuge regelmäßig nur Angaben zu äußeren Umständen machen, die einen Rückschluss auf den zu beweisenden inneren Vorgang zulassen. Es handelt sich insoweit um einen Indizienbeweis. Für einen solchen Beweisantrag sind die äußeren Umstände, die unmittelbarer Gegenstand der Beweisaufnahme sein sollen, darzulegen (BGH, Urteil vom 8. Mai 2012 - XI ZR 262/10 -, BGHZ 193, 159, Rn. 44). Die schlichte Benennung von Zeugen dafür, dass eine bestimmte Person über bestimmte Umstände informiert war (vgl. etwa Schriftsatz der Beigeladenen Reisert vom 13. August 2018, Rn. 247), genügt nach diesen Maßgaben nicht. Es ist vielmehr Vortrag zu den konkreten äußeren Umständen erforderlich, aus denen auf die Kenntnis geschlossen werden soll. Es muss dann klargestellt werden, welcher Zeuge für welche konkrete Indiztatsache benannt werden soll. Letzteres ist erforderlich, weil dem Gericht sonst keine Prüfung ermöglicht wird, ob einer oder mehrere der Zeugen nicht benötigt werden, weil die gerade in ihr Wissen gestellte Indiztatsache nicht erheblich ist (vgl. hierzu BGH, a.a.O., Rn. 45).
Soweit der Vortrag beispielsweise darauf gerichtet ist, eine Person sei "in die Geschehnisse unmittelbar involviert gewesen" (vgl. Schriftsatz der Beigeladenen Reisert vom 13. August 2018, a.a.O.) dürfte ein solcher Vortrag nicht subsumierbar sein. Es dürfte auch insoweit erforderlich sein, zu konkretisieren, inwieweit bzw. in welcher Weise die Person involviert war und wovon sie tatsächlich Kenntnisse hatte. Entsprechend wären auch hier die Beweisangebote zu konkretisieren.
Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme und zum ergänzenden Vortrag bis zum 31. Januar 2022.
VII.
Nach Ablauf der Frist wird der Senat nach jetziger Planung einen Beweisbeschluss erlassen, der die o. g. wechselseitigen Behauptungen der Beteiligten zum Kenntnisstand des Vorstands der Musterbeklagten zu 1) über den Einbau von unzulässigen Abschalteinrichtungen zum Gegenstand hat.
Wegen der Planung der Beweisaufnahmetermine wird sich der Senat zeitnah mit den Beteiligten in Verbindung setzen.
Vor diesem Hintergrund wird der Termin vom 8./9. Februar 2022 aufgehoben.