Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 19.09.2012, Az.: L 2 R 247/11

sozialrechtlicher Herstellungsanspruch; versicherungsrechtliche Voraussetzungen; Erwerbsminderung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
19.09.2012
Aktenzeichen
L 2 R 247/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44335
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 06.04.2011 - AZ: S 38 R 294/08

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Erkennt der Rentenversicherungsträger die fortbestehende Arbeitsunfähigkeit des Rentenbewerbers für die zuletzt rentenversicherungspflichtig ausgeübte Beschäftigung, aus der dieser ohne Anspruch auf Kranken- oder Arbeitslosengeld ausgeschieden ist, dann hat er ihn einzelfallbezogen über die Möglichkeit einer Antragspflichtversicherung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VI und deren Relevanz für die Aufrechterhaltung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Erwerbsminderungsrentenanspruch nach § 43 SGB IV zu belehren.

Tenor:

Das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 6. April 2011 und der Bescheid der Beklagten vom 19. Februar 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5. Juni 2008 werden geändert.

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin ab Januar 2012 eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung unter der Voraussetzung zu gewähren, dass die Klägerin für die Monate März 2008 bis August 2009 Beiträge für eine Antragspflichtversicherung nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 SGB VI nachentrichtet.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin aus dem Berufungsverfahren. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Derzeit sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen bis zum 30. November 2009 eintretenden Leistungsfall erhalten (Rentenhöhe:247,45 €).

Die im September 1951 in der ehemaligen UdSSR geborene Klägerin beantragte am 13. Dezember 2007 die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Von September 1967 bis Dezember 1968 war sie nach ihren Angaben im Rentenantrag als Betreuerin im Kindergarten tätig. Nach Zeiten der Kindererziehung war sie von August 1974 bis November 1976 als Briefträgerin, danach bis 1980 als Arbeiterin in der Landwirtschaft und anschließend nach eigenen Angaben nach dreimonatiger Anlernzeit bis zur Übersiedelung 1989 als Wiegemeisterin tätig. In der Bundesrepublik arbeitete sie als Reinigungskraft in einer Schule zwei Stunden täglich; seit Januar 2002 sind Pflichtbeitragszeiten aus einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis unter Verzicht auf die Versicherungsfreiheit verzeichnet. Seit August 2007 war sie arbeitsunfähig erkrankt.

Auf den Rentenantrag vom 13. Dezember 2007 hin holte die Beklagte ein chirurgisches Gutachten von Dr. I. vom 29. Januar 2008 ein. Er diagnostizierte ein altes Bandscheibenleiden L4/5, L5/S1, Bluthochdruck, altersentsprechenden Verschleiß des Skelettsystems. Als Raumpflegerin könne die Klägerin nur noch unter drei Stunden täglich arbeiten, ansonsten aber leichte Arbeiten sechs Stunden und mehr mit weiteren qualitativen Einschränkungen verrichten. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 19. Februar 2008 ab. Im anschließenden Widerspruchsverfahren legte die Klägerin ein Attest ihres Hausarztes Dr. J. vor. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 5. Juni 2008 zurück. Die Klägerin könne noch leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung ohne Nachtschichten, ohne besonderen Zeitdruck (Akkord, Fließbandarbeit), ohne häufiges Bücken, ohne Heben und Tragen von Lasten über 12,5 kg, ohne häufige Zwangshaltungen für die Wirbelsäule mindestens sechs Stunden täglich verrichten.

Hiergegen hat die Klägerin am 20. Juni 2008 Klage erhoben und geltend gemacht, sie sei nicht mehr in der Lage mindestens drei Stunden täglich zu arbeiten. Das Sozialgericht (SG) hat Befundberichte der behandelnden Ärzte, des Orthopäden Dr. K., der Chirurgin Dr. L. sowie des Hausarztes Dr. J. eingeholt und die Klägerin von dem Facharzt für Orthopädie, Rheumatologie und Unfallchirurgie Dr. M. begutachten lassen. Er teilte in seinem Gutachten vom 18. Februar 2009 als Diagnosen eine degenerative Erkrankung an der Lendenwirbelsäule mit nachgewiesenem Bandscheibenvorfall ohne grobe neurologische Defizite, schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule bei mehrsegmentalem Bandscheibenverschleiß ohne grobe neurologische Defizite, schmerzhafte Bewegungseinschränkung bei Schulterenge sowie degenerative Knorpelschädigung des linken Kniegelenkes mit und auf anderem Fachgebiet eine Schmerzwahrnehmungsstörung. Er hielt die Klägerin noch für in der Lage leichte und kurzfristig mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung ohne Tragen von schweren Lasten, ohne Klettern auf Gerüsten und Leitern, ohne Zwangshaltungen, ohne Arbeiten unter Zeitdruck, nicht unter Hitze/Kälte/Zugluft und Nässe, ohne regelmäßige Überkopftätigkeiten mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Die Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt.

Die Klägerin hat hierzu wiederum ein Attest ihres behandelnden Hausarztes Dr. J. vorgelegt, der mitteilte, er gehe davon aus, dass sich durch den chronifizierten Schmerz eine Schmerzwahrnehmungsstörung im Rahmen einer depressiven Erkrankung eingestellt habe.

Das Sozialgericht (SG) hat daraufhin ein nervenfachärztliches Gutachten von Dr. N. vom 12. November 2009 eingeholt. Er sah ein mittlerweile chronifiziertes myofasziales Schmerzsyndrom im Lendenwirbelsäulenbereich auf dem Boden altersvorauseilender Aufbraucherscheinungen i.S. der Osteochondrose und bildgebend nachgewiesenem Bandscheibenvorfall zwischen LWK 4/5 und eher pseudoradikulärer Ausstrahlung in beide Beine, rechtsbetont; Aufbraucherscheinungen des linken Schultergelenks i.S. eines Impingement-Syndroms; Aufbraucherscheinungen des linken Kniegelenks i.S. einer Gonarthrose; anamnestisch mitgeteilte schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule bei Verschleißerscheinungen; medikamentös geführten Bluthochdruck; leichte Krampfaderbildung an beiden Beinen; Rhizarthrose des linken Daumengrundgelenks mit belastungsabhängigen Schmerzen; vorbekannte Helicobacter induzierte Magenschleimhautentzündung; leichte Aufbraucherscheinungen des Großzehengelenkes bei Spreizfuß. Trotz der mittlerweile chronifizierten Schmerzen mittlerer Ausprägung sah er eine chronische Schmerzkrankheit als eigenständige Erkrankung nicht. Im psychischen Bereich fand er eine chronisch depressive Verstimmung i.S. der Dysthymie. Er hielt die Klägerin für noch in der Lage, körperlich leichte bis phasenweise mittelschwere Arbeiten zu verrichten, wobei möglichst ein regelmäßiger Wechsel der Haltungsarten gegeben sein sollte. Es sollten keine dauernden Zwangshaltungen, kein häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten größer als 5 kg, häufiges Besteigen von Gerüsten oder Leitern und dauernde Überkopfarbeiten sowie Arbeiten unter Zeitdruck abverlangt werden. Diese sollten in geschlossenen Räumen verrichtet werden; die volle Gebrauchsfähigkeit der Hände sei nicht mehr gegeben. Die Gehfähigkeit sah er aufgrund der objektiven Befunde nicht eingeschränkt, ebenso nicht die Fähigkeit, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die Klägerin hat daraufhin erneut ein Attest von Dr. J. vorgelegt, in dem er mit Hinweis auf bestehende Arbeitsunfähigkeit seit 18. August 2007 wiederum die Erkrankungen auflistete und seine Einschätzung, Erwerbsfähigkeit werde nicht wieder eintreten, wiederholte.

Auf dieser Grundlage hat das SG Lüneburg mit Urteil vom 6. April 2011 die Klage abgewiesen. Die Klägerin sei noch in der Lage, mindestens sechs Stunden arbeitstäglich Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der am 25. April 2011 eingelegten Berufung. Die Sachverständigen hätten ihre Schmerzen sowie die Bewegungseinschränkungen nicht hinreichend berücksichtigt und erfasst. Außerdem könne sie Wegstrecken von 500 m nur zurücklegen, wenn sie mindestens drei längere Pausen von 5 bis 10 Minuten einlege. Aus dem auf ihren Antrag hin eingeholten Gutachten von Dr. O. ergebe sich, dass sie seit Antragstellung vollständig erwerbsgemindert sei.

Die Klägerin beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 6. April 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. Februar 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5. Juni 2008 aufzuheben und

2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 1. Januar 2008 zu gewähren, hilfsweise,

die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin ab Januar 2012 eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften unter der Voraussetzung zu gewähren, dass die Klägerin für die Monate März 2008 bis August 2009 Beiträge für eine Antragspflichtversicherung nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 SGB VI nachentrichtet.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Gründe der angefochtenen Bescheide und ist auch nach Auswertung des nach § 109 SGG eingeholten Gutachtens von Dr. O. der Auffassung, dass weder volle noch teilweise Erwerbsminderung vorliegt.

Sie weist darauf hin, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen längstens für den Eintritt eines Leistungsfalls am 30. November 2009 erfüllt sind und meint, die Voraussetzungen für die Annahme eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs im Hinblick auf die Möglichkeit der Antragspflichtversicherung seien nicht erfüllt.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Beiziehung von Befundberichten von dem Orthopäden Dr. K. vom 4. August 2011, der nach einer Unterbrechung die Klägerin seit April 2011 wieder behandelt, und von Dr. P. über die schmerztherapeutische Mitbehandlung von November 2010 bis März 2011. Auf Antrag der Klägerin hat Dr. O., der die Klägerin seit Dezember 2011 behandelt, nach Untersuchung im Januar 2012 am 16. April 2012 ein nervenfachärztliches Gutachten erstattet. Er ist der Auffassung, dass die Klägerin leichte Tätigkeit mit weiteren qualitativen Einschränkungen höchstens drei Stunden täglich verrichten kann.

Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht erhoben und damit zulässig. Sie ist im Sinne des Hilfsantrags begründet.

Das SG Lüneburg hat die Klage auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente ab 1. April 2009 zu Recht mit Urteil vom 6. April 2011 abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 19. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juni 2008 ist insoweit nicht rechtswidrig. Der Klägerin steht bezogen auf die Zeit ab Antragstellung und bis 31. Dezember 2011 weder ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - SGB VI) noch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§§ 43 Abs. 1, 240 SGB VI) zu.

1. Versicherte haben gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden erwerbstätig zu sein (Satz 2).

Darüber hinaus setzt ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI voraus, dass der Versicherte wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Voraussetzung für einen solchen Rentenanspruch ist nach den genannten gesetzlichen Vorgaben des Weiteren, dass der Versicherte in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hatte. Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich nach § 43 Abs. 4 SGB VI um Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezuges einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Berücksichtigungszeiten, Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach § 43 Abs. 4 Nummer 1 oder 2 SGB VI liegt, und Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung. Die vorstehend genannten Zeiten sind nur zu berücksichtigen, soweit sie nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind.

Im vorliegenden Fall weist das Versicherungskonto der Klägerin nach Oktober 2007 keine Pflichtbeitragszeiten auf. Die Klägerin hatte jedoch ab Beginn der in der geringfügigen aber rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung als Reinigungskraft eingetretenen Arbeitsunfähigkeit ohne Anspruch auf Krankengeld, mithin ab Ende August 2007 die Voraussetzungen für eine Antragspflichtversicherung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VI erfüllt, ohne dass sie über diese Gestaltungsmöglichkeit von Seiten der Beklagten aufgeklärt worden ist, so dass die Beklagte die Klägerin in Anwendung der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bei Nachholung der Beitragszahlungen so zu stellen hat, als ob die Klägerin den erforderlichen Antrag für diese (maximal 18 Monate umfassende) Pflichtversicherung rechtzeitig gestellt und die damit verbundenen Beitragszahlungen fristgerecht erbracht hätte. Hiervon ausgehend ist im vorliegenden Fall für den nachfolgenden Zeitraum der Aufschubtatbestand einer Anrechnungszeit in Form der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nach § 43 Abs. 4 Nr. 1 i.V.m. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI erfüllt.

Wegen der Definition der krankheitsbedingten AU iS des § 58 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI und der "Verweisbarkeit" wird auf die Erläuterungen im Schriftsatz vom 7. September 2012 ausdrücklich Bezug genommen und die dort zitierte Rechtsprechung des BSG (vgl. U. v. 25. Februar 2010 - B 13 R 116/08 - SozR 4-2600 § 58 Nr 11 - und U. v. 25. Februar 2004 - B 5 RJ 30/02 R - SozR 4-2600 § 43 Nr. 2).

Im vorliegenden Fall ist im Rahmen der Gesamtbewertung davon auszugehen, dass die Ende August 2007 und mithin noch während des Bestehens des rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses eingetretene (und damit einen Unterbrechungstatbestand im Sinne von § 58 Abs. 2 SGB VI erfüllende) Arbeitsunfähigkeit für die zuletzt rentenversicherungspflichtig ausgeübte Tätigkeit als Reinigungskraft seitdem fortlaufend fortbesteht. Dies ergibt sich aus den Feststellungen im Gutachten von Dr. I. vom 29. Januar 2008, der das Leistungsvermögen für eine Tätigkeit als Raumpflegerin mit unter drei Stunden einschätzt, sowie denjenigen von Dr. M. im Gutachten vom 18. Februar 2009, der Tätigkeiten als Raumpflegerin nicht mehr für zumutbar hält.

Vorliegend ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin im Anschluss an die Beendigung der versicherungspflichtigen Beschäftigung zum 9. Oktober 2007 fortlaufend arbeitsunfähig war, jedoch keinen Anspruch auf Krankengeld hatte. Damit erfüllte sie die Voraussetzungen für eine Antragspflichtversicherung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VI. Die Dauer der nach Abs. 3 S. 1 Nr. 2 möglichen Versicherungspflicht ist auf 18 Monate beschränkt und entspricht damit dem Zeitraum von 78 Wochen, für den nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB V wegen derselben Krankheit innerhalb von drei Jahren vom Tag des Beginns der AU an Krankengeld bezogen werden kann. Die Versicherungspflicht ist jedoch nicht an den Beginn der AU oder der Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben gebunden, der Beginn kann vielmehr vom Versicherten innerhalb der andauernden AU oder Rehabilitation- oder Teilhabeleistung bestimmt werden (vgl. Gürtner in Kasseler Kommentar, § 4 SGB VI, Rn. 22).

Da nach § 58 Abs. 3 SGB VI Anrechnungszeiten wegen Arbeitsunfähigkeit oder der Ausführung der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben bei Versicherten, die nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VI versicherungspflichtig werden konnten, erst nach Ablauf der auf Antrag begründeten Versicherungspflicht vorliegen, lag es augenscheinlich im dringenden Interesse der Klägerin, von der Möglichkeit der Antragspflichtversicherung Gebrauch zu machen.

Dies musste den Mitarbeitern der Beklagten auch jedenfalls in dem Zeitpunkt deutlich werden, zu dem im Gutachten von Dr. I. die fortlaufende Arbeitsunfähigkeit bezüglich der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Reinigungskraft bestätigt worden war. Mithin hätte die Klägerin spätestens im Rentenablehnungsbescheid vom 19. Februar 2008 klar, deutlich und gut verständlich darüber belehrt werden müssen, dass in Ihrem eigenen Interesse die Begründung einer Antragspflichtversicherung dringend geboten war. Eine entsprechende einzelfallbezogene Belehrung ist nach Aktenlage jedoch unterblieben; insbesondere lässt sie sich dem Bescheid vom 19. Februar 2008 nicht entnehmen.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hat im Vordergrund der von § 14 SGB I geforderten Beratung die verständnisvolle Förderung des Versicherten zu stehen, d.h. die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt. Eine Leistungsgewährung darf nicht deshalb unterbleiben, weil der Einzelne nicht über die ihn begünstigenden Bestimmungen Bescheid weiß (BGH, U. v. 6. Februar 1997 - III ZR 241/95 - NVwZ 1997, 1243-1245 mwN zur Rechtsprechung des BSG).

Allein die Übersendung von meist allgemein gehaltenen Merkblättern reicht regelmäßig nicht aus, wenn sich ein besonderer Beratungsbedarf ergeben hat (BSG, U.v. 7. November 1991 - 12 RK 22/91 - SozR 3-1200 § 14 Nr. 5).

Dass eine Antragspflichtversicherung im Wege des Herstellungsanspruchs herbeigeführt werden kann, ist durch die Rechtsprechung des BSG geklärt (vgl. BSG, U.v. 26. April 2005 - B 5 RJ 6/04 R - SozR 4-2600 § 4 Nr 2 mwN).

Da nach Aktenlage davon auszugehen ist, dass sich die Klägerin einer entsprechenden Beratung nicht verschlossen hätte, ist die Beklagte verpflichtet, sie in Anwendung der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob sie den erforderlichen Antrag für diese (maximal 18 Monate umfassende) Pflichtversicherung rechtzeitig gestellt und die damit verbundenen Beitragszahlungen fristgerecht erbracht hätte, sofern diese Beitragszahlungen (zur Höhe vgl. § 166 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI) tatsächlich nachentrichtet werden.

Daran anknüpfend würde der nachfolgende Zeitraum der fortbestehenden Arbeitsunfähigkeit bis zum Ablauf der vom BSG herangezogenen Dreijahresfrist - also bis Ende August 2010 - zugleich einen Verlängerungstatbestand im Sinne einer Anrechnungszeit in Form der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nach § 43 Abs. 4 Nr. 1 i.V.m. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 3 SGB VI begründen und so die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Eintritt eines Leistungsfalles bis jedenfalls August 2012 erhalten.

Ausgehend von dem Gesundheitszustand der Klägerin bis November 2011 sind die Tatbestandsvoraussetzungen eines Anspruchs auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung nicht erfüllt. Aufgrund der im Verwaltungsverfahren und im erstinstanzlichen sozialgerichtlichen Verfahren durchgeführten Beweisaufnahme in medizinischer Hinsicht steht auch zur Überzeugung des erkennenden Senats fest, dass die Klägerin trotz der bei ihr zweifelsohne vorliegenden Gesundheitsstörungen bis November 2011 noch in der Lage war, wenigstens sechs Stunden täglich körperlich leichte Arbeiten mit qualitativen Leistungseinschränkungen zu verrichten. Damit steht ohne weiteres fest, dass ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung bis zu diesem Zeitpunkt nicht bestand; nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer - wie die Klägerin - unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann.

Die Feststellung eines mindestens sechsstündigen täglichen Leistungsvermögens seitens des SG Lüneburg aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere des bereits im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachtens des Chirurgen Dr. I. vom 29. Januar 2008 und des im erstinstanzlichen sozialgerichtlichen Verfahren erstellten orthopädischen Gutachtens des Dr. M. vom 18. Februar 2009 sowie des nervenfachärztliche Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. N. vom 12. November 2009, ist seitens des Senats nicht zu beanstanden.

Die im Laufe des Verfahrens gehörten Sachverständigen haben in chirurgischer und orthopädisch/rheumatologischer sowie neurologisch-psychiatrischer Hinsicht übereinstimmend und überzeugend ein mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen jedenfalls für leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperposition unter Vermeidung von Heben und Tragen von Lasten über 5 kg Überkopfarbeiten, häufigem Bücken, Klettern und Steigen, Hocken und Knien, anhaltenden Rumpfzwangshaltungen sowie nicht unter Zeitdruck bejaht.

Soweit Dr. M. darauf hinweist, Arbeiten unter hoher Konzentration seien zu vermeiden bzw. es müsse von einer eingeschränkten Konzentrationsfähigkeit ausgegangen werden, konnte dies Dr. N. in seinem nervenfachärztlichen Gutachten nicht bestätigen. Weder aus dem von der Klägerin geschilderten Tagesablauf noch aufgrund des Verhaltens in der Untersuchungssituation bei Dr. N. oder den von ihm erhobenen Befunden ließ sich eine erhebliche Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit, die Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit hat, ableiten.

Soweit Dr. N. davon ausgeht, dass die volle Gebrauchsfähigkeit der Hände nicht mehr gegeben ist, ist diese Einschätzung nicht überzeugend und vermag ihr der Senat nicht zu folgen. Dr. N. weist zur Begründung seiner Einschätzung darauf hin, die Diagnose einer sogenannten Rhizarthrose mit vorübergehender Verordnung einer entsprechenden Schiene ergebe sich aus einem Befundbericht aus 2000. Aufgrund der von ihm durchgeführten Untersuchung konnte er ein Karpaltunnelsyndrom ausschließen. Zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit verweist er auf den orthopädischen Sachverständigen. Dr. M. hat aber noch 2009 eine nicht eingeschränkte Funktion der Finger- und Handgelenke bei regelrechter Beschwielung festgestellt.

In medizinischer Hinsicht ist jedoch im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung von einer weiteren Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes der Klägerin im Zeitraum zwischen der Begutachtung durch Dr. N. im November 2009 und der Begutachtung durch Dr. O. (auf der Basis einer im Dezember 2011 erfolgten kurativen Behandlung der Klägerin und der gutachterlichen Untersuchung im Januar 2012) auszugehen. Die Klägerin selbst hat gegenüber Dr. O. (vgl. S. 3 seines Gutachtens) eine ständige Verschlechterung des Beschwerdebildes dargelegt. Damit korrespondiert auch, dass erst im November 2010 und damit erst geraume Zeit nach der Begutachtung durch Dr. N. eine - im Ergebnis frustran verlaufene - schmerztherapeutische Behandlung eingeleitet worden ist (vgl. den Befundbericht von Dr. P. vom 27. August 2011).

Bezogen auf den Zeitraum ab der Aufnahme der Behandlung der Klägerin im Dezember 2011 (Leistungsfall) folgt der Senat dem Gutachter Dr. O. dahingehend, dass inzwischen von einem chronifizierten psychischen Krankheitsbildes auszugehen ist, aufgrund dessen die Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr wettbewerbsfähig eingesetzt werden kann und das Leistungsvermögen auch für leichte Tätigkeiten unter drei Stunden gesunken ist.

Für die vorausgegangenen Zeiträume lassen sich hingegen entsprechende Feststellungen nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit treffen. Insbesondere bildet das Gutachten von Dr. O. keine tragfähige Grundlage, um für den Zeitraum bis Ende 2009 die seinerzeit von dem Sachverständigen Dr. N. getroffene Einschätzung des Leistungsvermögens der Klägerin zu widerlegen. Es fehlt jede überzeugende Grundlage für eine Annahme des Inhalts, dass Dr. O. Anfang 2012 das frühere Leistungsvermögen der Klägerin insbesondere im Jahr 2009 verlässlicher zu beurteilen vermochte, als der Ende 2009 gehörte erfahrene Sachverständige Dr. N., der die Klägerin seinerzeit eingehend und gründlich begutachtet hat. Aber auch für die Zeit bis zu Beginn der Behandlung durch Dr. O. lässt sich eine Erwerbsminderung nicht nachweisen. Die sog. materielle Beweislast trägt die Klägerin.

2. Ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI kommt auch für die Zeit vor Januar 2012 nicht in Betracht.

Denn der Klägerin steht von vornherein kein Berufsschutz im zuvor erläuterten Sinne des § 240 SGB VI zu. Ohne spezifische Berufsausbildung - nach eigenen Angaben betrug die Anlernzeit für die Tätigkeit als Wiegemeisterin ca. 3 Monate - ist sie auch zuletzt langjährig als ungelernte Raumpflegerin erwerbstätig gewesen und muss sich daher auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.