Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 04.11.2009, Az.: 1 Ws 599/09
Beurteilung der Fluchtgefahr bei einem niederländischen Beschuldigten wegen des Verdachts einer Betäubungsmittelstraftat
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 04.11.2009
- Aktenzeichen
- 1 Ws 599/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 35621
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2009:1104.1WS599.09.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Oldenburg - 15.10.2009 - AZ: 4 Qs 351/09
- AG Wildeshausen - 01.10.2009 - AZ: 3 Gs 159/09
Rechtsgrundlagen
- § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO
- Art. 6 EuAuslÜbK
- Art. 11 ÜberstÜbk
Fundstellen
- NJW-Spezial 2009, 778
- NStZ 2011, 116-117
- StRR 2009, 443 (red. Leitsatz)
- StV 2010, 254-255
Amtlicher Leitsatz
Bei niederländischen Beschuldigten, die eines Betäubungsmitteldeliktes dringend verdächtig sind, ist von einer erhöhten Fluchtgefahr auszugehen, weil die Niederlande die Auslieferung von Beschuldigten zur Strafverfolgung nach Deutschland davon abhängig machen, dass eine in Deutschland verhängte Freiheitsstrafe in den Niederlanden vollstreckt wird, wobei die Strafe im Wege der Umwandlung drastisch reduziert wird.
Tenor:
Die weitere Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Landgerichts Oldenburg vom 15. Oktober 2009, durch den seine Beschwerde gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Wildeshausen vom 1. Oktober 2009 verworfen worden ist, wird auf seine Kosten verworfen.
Gründe
Aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Wildeshausen vom 1. Oktober 2009 befindet sich der Beschuldigte seit diesem Tage in Untersuchungshaft.
In dem Haftbefehl wird dem Angeschuldigten das unerlaubte Einführen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitsichführen von Gegenständen, die der Art nach zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt sind, zur Last gelegt, strafbar nach § 30a Abs. 2 Nr. 2 Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Diese Tat soll er dadurch begangen haben, dass er am 30. September 2009 in H... mit einem Personenkraftwagen mit dem niederländischen Kennzeichen ... aus den Niederlanden kommend eine Gesamtmenge von 3.333 g Marihuana sowie 2 g Kokain nach Deutschland einführte, wobei er ein Küchenmesser, das in einer Ablage links am Fahrersitz lag, sowie einen im Kofferraum in einer Jacke befindlichen Schlagring bei sich hatte. das Marihuana befand sich in dem PKW, das Kokain in der Hosentasche seines Mitfahrers L.... Dringender Tatverdacht wird im Haftbefehl bejaht, weil die Betäubungsmittel und die Gegenstände bei einer Zollkontrolle des zu diesem Zweck angehaltenen PKW festgestellt wurden. Der Haftbefehl ist auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt. Der Beschuldigte habe mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen und verfüge in Deutschland über keinen festen Wohnsitz.
Der Beschuldigte hat gegen diesen Haftbefehl Beschwerde eingelegt. Das Rechtsmittel ist vom Landgericht Oldenburg mit Beschluss vom 15. Oktober 2009 verworfen worden. Hiergegen hat der Beschuldigte am 27.Oktober 2009 weitere Beschwerde eingelegt, der das Landgericht nicht abgeholfen hat.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Haftbefehl, die Beschwerden und sonstigen Schriftsätze des Verteidigers, und die Beschlüsse des Landgerichts Bezug genommen.
Die weitere Beschwerde ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Das Landgericht hat zu Recht den Haftbefehl aufrechterhalten und den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft angeordnet. Die Beschwerdebegründung und das Vorbringen im Verteidigerschriftsatz vom 3. November 2009 rechtfertigen keine andere Beurteilung.
Der Angeschuldigte ist der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, nämlich von 3.333 g Marihuana, dringend verdächtig. Die unerlaubte Einfuhr des Marihuanas hat der Beschuldigte auch am 1. Oktober 2009 vor dem Richter des Amtsgerichts Wildeshausen glaubhaft gestanden. Hinsichtlich der von seinem Mitfahrer in der Hosentasche mitgeführten geringen Kokainmenge lässt sich hingegen nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis nicht der dringende Verdacht begründen, der Beschuldigte habe hiervon gewusst und auch dieses Betäubungsmittel vorsätzlich eingeführt.
Die Strafbarkeit der unerlaubten Einfuhr des Marihuana richtet sich nach § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG, der eine Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren vorsieht. Denn der Beschuldigte ist dringend verdächtig, einen Schlagring, der ein zur Verletzung von Personen geeigneter und bestimmter Gegenstand ist, bei der Betäubungsmitteleinfuhr mit sich geführt zu haben. Dass sich dieser im Kofferraum des PKW befand, ist insoweit nicht erheblich. Ein Mitsichführen im Sinne der genannten Strafvorschrift ist gegeben, wenn der Täter den betreffenden Gegenstand bei der Tat bewusst gebrauchsbereit in der Weise bei sich hat, dass er sich seiner jederzeit ohne nennenswerten Zeitaufwand bedienen kann. dazu reicht es bei der Einfuhr des Rauschgifts mit einem Personenkraftwagen aus, wenn der Täter den gefährlichen Gegenstand im Kofferraum aufbewahrt, vgl. BGH NStZ 2004, 111 [BGH 24.06.2003 - 1 StR 25/03]. Es besteht - auch unter Berücksichtigung der diesen Punkt betreffenden Ausführungen im Verteidigerschriftsatz vom 3. November 2009 - derzeit auch der dringende Verdacht, dass der Schlagring vom Beschuldigten bewusst mitgeführt wurde. Denn er befand sich nach Angabe von Zollhauptsekretär R... in einer Jacke, die mit den Initialen des Beschuldigten gekennzeichnet war. Ob der Beschuldigte darüber hinaus auch in Form des Küchenmessers eine Waffe oder einen weiteren gefährlichen Gegenstand bewusst mit sich führte, kann offen bleiben.
Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Allerdings sprechen insbesondere die geordneten sozialen Verhältnisse des Beschuldigten, wie sie in der Beschwerdebegründung im Einzelnen mitgeteilt werden, gegen eine Fluchtgefahr.
Andererseits hat der Beschuldigte im Falle seiner Verurteilung mit einer hohen Freiheitsstrafe zu rechnen. Die Mindeststrafe beträgt 5 Jahre. Entgegen der Ansicht der Beschwerde ist es auch unter Berücksichtigung der für den beschuldigten sprechenden Umstände, insbesondere seines weitgehenden Geständnisses, derzeit auch durchaus offen, ob bei Würdigung aller Umstände vom Tatgericht ein minder schwerer Fall bejaht werden wird, der zu einem Strafrahmen von 6 Monaten bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe führte. Aber auch wenn ein minder schwerer Fall angenommen würde, ist schon angesichts der großen Rauschgiftmenge die Verhängung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung keineswegs ausgeschlossen.
Diese hohe Straferwartung begründet für den Beschuldigten einen so starken Anreiz, sich dem weiteren Verfahren zu entziehen, dass dem - auch unter Berücksichtigung der oben aufgeführten gegen eine Flucht sprechenden Umstände - nur durch die Fortsetzung der Untersuchungshaft hinreichend sicher begegnet werden kann. Weniger einschneidende Maßnahmen als der Vollzug der Untersuchungshaft im Sinne von § 116 Abs. 1 StPO reichen nicht aus. Das gilt auch für die vom Beschuldigten angebotene Sicherheitsleistung.
Der Umstand, dass der niederländische Beschuldigte einen festen Wohnsitz in den Niederlanden hat, wo er wegen der innereuropäisch durchgeführten Rechtshilfe in Strafsachen dem Zugriff der deutschen Justiz nicht vollends entzogen wäre, rechtfertigt keine andere Beurteilung der Fluchtgefahr. Diese wird hierdurch vielmehr noch verstärkt.
Falls der Angeschuldigte sich nämlich in sein Heimatland begäbe, um sich der weiteren Durchführung des Strafverfahrens und der zu erwartenden Strafvollstreckung in Deutschland zu entziehen, könnten die Niederlande zwar um seine Auslieferung ersucht werden. Jedoch haben sich die Niederlande bei der Ratifizierung des EuAlÜbK zu Art. 6 jenes Übereinkommens vorbehalten, dass niederländische Staatsangehörige zum Zweck der Strafverfolgung nur ausgeliefert werden, wenn der ersuchende Staat die Gewähr dafür bietet, dass der Verfolgte in die Niederlande zurückgebracht werden kann, um seine Strafe dort zu verbüßen, falls nach seiner Auslieferung eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßnahme gegen ihn verhängt worden ist, vgl. Bekanntmachung des Bundesministers des Auswärtigen vom 25. Januar 1988, BGBl. II 1988, 155. Nach der Handhabung der Niederländischen Justiz kommt in Ansehung dieses Vorbehalts die Auslieferung eines niederländischen Staatsangehörigen zudem nur unter der weiteren Bedingung in Betracht, dass sich der um Auslieferung ersuchende Staat auch mit dem so genannten Umwandlungsverfahren im Sinne von Art. 11 des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen (BGBl II 1991, 1012) einverstanden erklärt. vgl. auch Schomburg u. a., Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Auflage, Rdn. 4 zu Art. 6 EuAlÜbk. Eine vom Senat im Verfahren HEs 14/06 im Jahre 2006 durchgeführte Rückfrage bei der für Auslieferungen zuständigen Stelle im Niedersächsischen Ministerium der Justiz hat ergeben, dass bei der Anwendung des Umwandlungsverfahrens durch die niederländischen Behörden die in Deutschland verhängte Strafe in eine niederländischen Vorstellungen entsprechende angemessene Strafe umgewandelt wird, die erfahrungsgemäß - und zwar gerade bei sogenannten Weichdrogendelikten - eine nach deutschem Recht als tat und schuldangemessen angesehene Strafe ganz erheblich unterschreitet. Anhaltspunkte dafür, dass sich diese Handhabung der niederländischen Justiz seitdem verändert hat, sind nicht ersichtlich. In einem vom Senat kürzlich entschiedenen Fall (1 Ws 584/09) hat das Internationale Rechtshilfezentrum Amsterdam der dortigen Staatsanwaltschaft (Arrondissementsparket Amsterdam - Internationaal Rechtshulp Centrum Amsterdam) die Auslieferung eines in Deutschland mit Haftbefehl gesuchten niederländischen Beschuldigten ausdrücklich davon abhängig gemacht, dass die deutschen Strafverfolgungsbehörden schriftlich garantierten, dass der Beschuldigte eine etwaige Strafe in den Niederlanden verbüßen und das Umwandlungsverfahren angewendet werden kann.
Diese Verfahrensweise der Niederlande bei der Auslieferung eigener Staatsangehöriger macht es im vorliegenden Verfahren sehr wahrscheinlich, dass sich der Beschuldigte, käme er in Freiheit, sogleich in die Niederlande absetzte. Denn bereits der Grenzübertritt bewirkte, dass eine vom deutschen Gericht - im Falle einer Verurteilung - verhängte Freiheitsstrafe später in den Niederlanden in eine wesentlich niedrigere Freiheitsstrafe umgewandelt würde, was letztlich zur Vollstreckung einer erheblich geringeren Strafe als nach deutschem Recht geboten führte. Es ist davon auszugehen, dass dem Beschuldigten dies auch bewusst ist, zumal er von einem erfahrenen Rechtsanwalt verteidigt wird.
Der danach sehr wahrscheinliche Übertritt des Beschuldigten in die Niederlande würde die schnelle Aufklärung der Tat sowie - im Falle der Schuldfeststellung - die rasche Bestrafung des Täters und die künftige Strafvollstreckung des deutschen Strafurteils gefährden, die sicherzustellen Aufgabe der Untersuchungshaft ist, vgl. Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., Rdn 4 vor § 112 m. w. Nachw.. Die vom Verteidiger für seine Auffassung, der feste Wohnsitz eines ausländischen Beschuldigten im Ausland schließe eine Fluchtgefahr aus, zitierten Entscheidungen des OLG Naumburg (StV 1997, 138) und des OLG Brandenburg (StV 1996, 381) stützen diese Ansicht so nicht und betreffen auch Sachverhalte, die mit dem vorliegenden nicht vergleichbar sind.
Die Fortführung der bislang seit gut einem Monat vollzogenen Untersuchungshaft ist angesichts der Schwere der Tat, deren der Beschuldigte dringend verdächtig ist, und in Hinblick auf seine danach wahrscheinliche Bestrafung auch nicht unverhältnismäßig im Sinne von § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO.
Nach alledem war die weitere Beschwerde - gemäß § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO auf Kosten des Beschuldigten - als unbegründet zu verwerfen.