Landgericht Osnabrück
Beschl. v. 07.09.2012, Az.: 1 Qs 57/12

faires Verfahren

Bibliographie

Gericht
LG Osnabrück
Datum
07.09.2012
Aktenzeichen
1 Qs 57/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 44393
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG - 20.07.2012 - AZ: 15 Gs 57/11

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Der Anspruch des der Gerichtssprache nicht kundigen Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren gebietet es, ihm alle ihm gegenüber vorgenommenen, maßgeblichen schriftlichen und mündlichen Verfahrensakte kostenlos in einer ihm verständlichen Sprache bekannt zu geben.

Wird ein Beschuldigter in erster Linie durch eine Zeugenaussage belastet, ist es zur sachgerechten Verteidigung erforderlich, dass ihm eine verschriftete, für ihn verständliche Fassung der Aussage zur Verfügung steht.

Tenor:

In dem Ermittlungsverfahren ... wird der Beschluss des Amtsgerichts Papenburg vom 20.07.2012 (Geschäftsnummer: 15 Gs 57/11) auf die Beschwerde des Beschuldigten aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass die vollständige Übersetzung der Aussagen der Zeugin K. vom 14.02.2011 sowie vom 24.02.2011 in die polnische Sprache für die Wahrnehmung der Interessen des Beschuldigten erforderlich ist.

Gründe

I.

Am 09.02.2011 erschien die polnische Staatsangehörige S. K. im Polizeikommissariat Papenburg und teilte mit, sie sei von ihrem ehemaligen Lebensgefährten – dem Beschuldigten – zur Prostitution gezwungen und vielfach vergewaltigt worden (Bl. 5 Bd. I d. Hauptakte). Nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wurde die Zeugin am 14.02.2011 unter Zuhilfenahme einer Dolmetscherin umfassend von der Polizei vernommen. Das Vernehmungsprotokoll liegt in deutscher Sprache vor (Bl. 11 ff. Bd. I d. Hauptakte). Am 24.02.2011 folgte eine richterliche Vernehmung beim Amtsgericht Papenburg, die ebenfalls in deutscher Sprache aufgenommen und verschriftet ist (Bl. 42 ff. Bd. I d. Hauptakte). Ein am 30.03.2011 verkündeter Haftbefehl gegen den Beschuldigten (Bl. 125 ff. Bd. I d. Hauptakte), der zwischenzeitlich – nach Modifizierung hinsichtlich des gegebenenfalls verwirklichten Straftatbestandes mit Beschluss vom 29.04.2011 durch die 15. Große Strafkammer (Bl. 197 ff. Bd. I d. Hauptakte) – mit Beschluss vom 18.05.2011 zunächst außer Vollzug gesetzt (Bl. 78 d. Haftheftes) und sodann am 02.01.2012 aufgehoben wurde (Bl. 111 d. Haftheftes), stützt sich „insbesondere“ auf die „Aussage der Geschädigten S. K.“.

Mit Schriftsatz vom 06.05.2011 hat der Verteidiger beim Amtsgericht Papenburg im Namen des Beschuldigten beantragt, die Zeugenaussagen der Zeugin K. in die polnische Sprache übersetzen zu lassen, weil dies zur Wahrung eines rechtsstaatlich fairen Verfahrens notwendig sei (Bl. 69 d. Haftheftes). Nachdem dieser Antrag nicht beschieden worden ist, hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 15.12.2011 beim Amtsgericht Papenburg beantragt, ihm zu gestatten, die Übersetzung selbst vornehmen zu lassen (Bl. 109 d. Haftheftes). Unter dem 29.02.2012 hat die zuständige Staatsanwaltschaft Osnabrück den Antrag abgelehnt und zur Begründung u. a. ausgeführt, dass sicher die Möglichkeit bestanden habe, die Aussage der Zeugin in den umfangreichen Besprechungen zwischen dem Beschuldigten und dem Verteidiger in Anwesenheit einer Dolmetscherin zu besprechen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 29.02.2012 Bezug genommen (Bl. 129 Bd. II d. Hauptakte). Daraufhin hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 19.03.2012 die gerichtliche Entscheidung beantragt und dazu ausgeführt, der Haftbefehl gründe sich auf die Aussage der Zeugin K. vom 14.02.2011. Zur sachgemäßen Wahrnehmung der Interessen des Beschuldigten sei die Übersetzung der langen Aussage der Zeugin erforderlich. Schon der Umstand, dass niemand in der Lage sei, sich den Inhalt einer so langen Aussage für die Dauer eines so langen Ermittlungsverfahrens geistig präsent zu halten, belege dies zwanglos. Um die Aussage unter Berücksichtigung der histrionischen Persönlichkeitsstörung der Zeugin zu überprüfen und zu widerlegen, komme es auf den Wortlaut der Angaben an. Wäre die in polnischer Sprache getätigte Aussage aufgenommen worden und läge sie nicht lediglich in der deutschen Übersetzung vor, bedürfte es überdies keiner Übertragung. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 19.03.2012 verwiesen (Bl. 134 f. Bd. II d. Hauptakte). Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, ihre Rechtsauffassung zu bestätigen (Bl. 133 R. Bd. II d. Hauptakte).

Mit Beschluss vom 20.07.2012 hat das Amtsgericht Papenburg den Antrag der Verteidigung, die Erforderlichkeit der vollständigen Übersetzung der Aussagen der Zeugin K. in die polnische Sprache festzustellen, abgelehnt, weil die Übersetzung zur Durchführung und Sicherstellung eines fairen Verfahrens nicht erforderlich sei. Vielmehr sei die Erörterung der Aussage zwischen dem Verteidiger und dem Beschuldigten durch Gespräche unter Hinzuziehung eines Dolmetschers ausreichend (Bl. 137 Bd. II d. Hauptakte). Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Verteidigers vom 06.08.2012, die u. a. auf die Richtlinie 2010/64 EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren Bezug nimmt, auf deren detaillierte Begründung verwiesen wird (Bl. 138 ff. d. Haftheftes). Der Beschwerde ist durch Beschluss des Amtsgerichts vom 09.08.2012 nicht abgeholfen worden (Bl. 147 d. Haftheftes).

II.

Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthafte Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Grundsätzen ist der allgemeine Gedanke zu entnehmen, dass der Anspruch des der Gerichtssprache nicht kundigen Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren es gebietet, ihm alle ihm gegenüber vorgenommenen, maßgeblichen schriftlichen und mündlichen Verfahrensakte kostenlos in einer ihm verständlichen Sprache bekannt zu geben. Er hat daher auch keine Kosten zu tragen, die auf einen der Gerichtssprache mächtigen Beschuldigten nicht zukommen können; denn diese Mehrbelastung würde nicht nur zu einer Ungleichbehandlung bei der staatlichen Rechtsgewährung führen, sondern wäre auch geeignet, das Verteidigungsverhalten des Sprachunkundigen im Hinblick auf eventuelle Kostenfolgen nachteilig zu beeinträchtigen (vgl. BGH, Beschluss vom 26.10.2000, 3 StR 6/00, NJW 2001, 309 m. w. N.). Dieser Anspruch ist allerdings auf solche Schriftstücke und Erklärungen begrenzt, auf deren Verständnis der Beschuldigte angewiesen ist, um ein faires Verfahren zu haben. Neben Haftbefehlen, den sich hierauf beziehenden Entscheidungen und Anklageschriften können dies auch weitere Aktenteile sein, deren Verständnis und/oder genaue Kenntnis für eine sachgerechte Verteidigung und damit für ein faires Verfahren erforderlich sind. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm ist für den Anspruch des Beschuldigten auf kostenfreie Übersetzung entscheidend, dass gerade die wortgetreue Übertragung in seine Muttersprache erforderlich ist, um eine sachgerechte Verteidigung zu ermöglichen. Ansonsten reiche in der Regel die Information durch den Verteidiger aus, der mit dem Beschuldigten im Beisein eines Dolmetschers alles für die Verteidigung Erforderliche besprechen und ihm insbesondere die Bedeutung der ihn belastenden Beweismittel vermitteln könne. Es obliege dem Verteidiger, die den Beschuldigten belastenden und entlastenden Umstände in der Aussage eines Zeugen zusammenzustellen und zu erörtern (vgl. OLG Hamm, 2. Strafsenat, Beschluss vom 16.02.1999, 2 Ws 595/98). Nach Ansicht des Oberlandesgerichts Dresden beinhaltet das Recht des Beschuldigten auf ordnungsgemäße Verteidigung auch die Übersetzung der ihn belastenden Zeugenaussagen (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 19.04.2011, 2 Ws 96/11, BeckRS 2011, 27551).

Im vorliegenden Fall ist auch nach der vom Oberlandesgericht Hamm vertretenen Rechtsauffassung die Übersetzung der protokollierten Vernehmungen der Zeugin K. geboten, denn der Beschuldigte wird – wie der Haftbefehl belegt – in erster Linie durch die Aussagen dieser Zeugin belastet und es kommt für die Prüfung der Konstanz und Zuverlässigkeit ihrer Angaben im Ermittlungsverfahren und einer möglichen Hauptverhandlung u. a. auf deren Wortlaut an. Angesichts der detaillierten Vernehmungsprotokolle würde dem Beschuldigten seine Verteidigung erschwert, wenn er nicht – wie ein deutschsprachiger Beschuldigter – auf eine verschriftete, für ihn verständliche Fassung zurückgreifen kann. Mithin gebietet es der Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, ihm die Aussagen in schriftlicher Form in der ihm verständlichen polnischen Sprache bekannt zu geben.