Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 23.11.2005, Az.: 6 B 641/05
Anordnungsgrund; Beförderung; Beförderungsberechtigung; Beförderungskosten; Beförderungspflicht; eigener Wirkungskreis; einstweiliger Rechtschutz; Entfernungsregelung; Ermessen; Erstattungspflicht; Gefahr; gefährlicher Schulweg; Kostenersatz; Kostenfreie Schülerbeförderung; Mindestentfernung; pauschalisierende Entfernungsregelung; Sammelkarte; Sammelschülerzeitkarte; Satzung; Schulweglänge; Schülerbeförderung; Straßenverkehr; Wegstrecke; Wegstreckenabschnitte; Winterdienst
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 23.11.2005
- Aktenzeichen
- 6 B 641/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50848
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 114 SchulG ND
- § 123 Abs 1 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Winterdienst und sicherer Schulweg für 15-jährige Schülerin
Gründe
I. Die Tochter der Antragsteller besucht die 10. Klasse der Hauptschule in Salzgitter-Bad. Am 14. September 2005 beantragten die Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Ausstellung einer Sammelsschülerzeitkarte für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf dem Weg zwischen der häuslichen Wohnung und der Schule im laufenden Schuljahr.
Mit Bescheid vom 16. September 2005 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab, weil der Weg zwischen der Schule und der Wohnung der Schülerin 2.910 m lang sei und damit die für einen Anspruch bestimmte Mindestentfernung von 3.000 m nicht überschreite.
Am 17. Oktober 2005 haben die Antragsteller Klage erhoben (6 A 640/05) und außerdem um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht.
Sie tragen vor:
Das Verfahren werde nicht nur für die Tochter, sondern auch im Interesse anderer von der Schulwegregelung betroffenen Schulkinder anhängig gemacht. Auf dem von der Antragsgegnerin vorgegebenen Schulweg sei die Sicherheit für die Schüler nicht gewährleistet. An der „Tillystraße“ sei kein Zebrastreifen für das Überqueren der Straße „Hinter dem Salze“ vorhanden. Das Überqueren der Fahrbahn sei während des frühen Berufsverkehrs besonders schwierig. Auch der Schulwegplan der Antragsgegnerin weise diesen Querungsbereich in Höhe der „Tillystraße“ als besonders gefährlich aus. Etwa 100 m weiter in östlicher Richtung gebe es an der Kreuzung „Bergstraße/Hinter dem Salze“ eine Ampelanlage. Das Überqueren der so genannten „Sehnsuchtsbrücke“ sei im Winter bei Frostgefahr mit dem Fahrrad und einem Schulranzen fast unmöglich. Ein dort befindliches Schild weise aus, dass im Winter nicht gestreut werde. Der Weg führe teilweise durch ein Gewerbegebiet und werde in den Morgenstunden kaum von Fußgängern benutzt. Im Winter und bei Dunkelheit sei die Benutzung dieses Wegstücks auch für ältere Schüler nicht zumutbar. Es gebe statt dessen einen sicheren Weg, der über die „Petershagener Straße“ und den Bahnhof führe, der aber 3.200 m lang sei. Von dieser Schulweglänge müsse in diesem Verfahren ausgegangen werden. Wegen der jahreszeitlichen Verhältnisse sei eine einstweilige Anordnung dringend erforderlich. Zur Zeit werde die Tochter mit dem privaten Pkw zur Schule gefahren. Die Fahrtkosten könnten bis zur Klärung im Hauptsacheverfahren nicht ausgelegt werden. Es gehe ihnen um eine Erstattung dieser Kosten.
Die Antragsteller beantragen (sinngemäß),
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur verpflichten, für ihre Tochter vorläufig eine Sammelschülerzeitkarte zur Beförderung zur Hauptschule Salzgitter-Bad auszustellen und ihnen ihre bisherigen Auslagen zu erstatten.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie entgegnet:
Der für die Tochter vorgesehene Schulweg führe vom „C.“ entlang den Straßen „Lange Wanne“, „Am Salgenteich“ und „Hinter dem Salze“. In Höhe der Einmündung „Tillystraße“ werde die in beiden Richtungen gut einsehbare Straße „Hinter dem Salze“ überquert. Ein besonderes Gefährdungspotential sei für Erwachsene und Schulkinder ab dem 7. Schuljahr nicht gegeben, auch wenn dort ein Zebrastreifen nicht vorhanden sei. Am Ende der „Tillystraße“ führe der Schulweg in westlicher Richtung über die Straße „Gittertor“ bis zur Einmündung eines nach Norden verlaufenden 2 m breiten und ca. 230 m langen Fußwegs, der über die „Sehnsuchtsbrücke (Bahnbrücke)“ zur Straße „Zur Finkenkuhle“ führe. Dieser Wegteil sei gut ausgeleuchtet und führe an Privat- und Firmengrundstücken vorbei. Die „Sehnsuchtsbrücke“ sei ebenfalls ausgeleuchtet und werde, nachdem dieser Weg in das Schulwegenetz aufgenommen worden sei, im Winter auch abgestreut. Das Schild mit dem Hinweis „Kein Winterdienst“ sei inzwischen entfernt worden. Über die Straßen „Zur Finkenkuhle“, „Braunschweiger Straße“ und „Erikastraße“ führe dann der Schulweg zum Schulgelände der Hauptschule. Diese Wegstrecke betrage 2.910 m und unterschreite damit die Mindestentfernung von 3.000 m, ab der ein Anspruch auf Schülerbeförderung und damit auf die Ausstellung einer Schülerjahreskarte nach Maßgabe der Beförderungssatzung gegeben sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
Soweit die Antragsteller im Hauptsacheverfahren eine auf die Ausstellung einer Schülerjahreszeitkarte und auf die Erstattung verauslagter Beförderungskosten gerichtete Verpflichtungsklage betreiben, kann ein vorläufiger Rechtsschutz nur nach Maßgabe des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO gewährt werden. Hiernach ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn diese Regelung, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Da nach Wesen und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die vorläufige Regelung grundsätzlich die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf, kann die Verpflichtung zu einer bestimmten Geldzahlung bzw. zur Gewährung einer geldwerten Leistung (Sammelschülerzeitkarte) - wie sie im vorliegenden Fall begehrt wird - im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur ausgesprochen werden, wenn die Antragsteller die tatsächlichen Voraussetzungen für einen entsprechenden Anspruch (Anordnungsanspruch) und außerdem glaubhaft machen, dass sie sich wegen fehlender anderer Geldmittel (gegenwärtig oder in nächster Zukunft) in einer existenziellen Notlage befinden und deswegen auf die sofortige Erfüllung des geltend gemachten Anspruchs mit gerichtlicher Hilfe dringend angewiesen sind (Anordnungsgrund). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
Die Antragsteller haben bereits nicht glaubhaft gemacht, dass sie die in der Vergangenheit angefallenen und bis zur Entscheidung in der Hauptsache zukünftig anfallenden Beförderungskosten aus eigenen finanziellen Mitteln verauslagen können. Hierzu hätte es einer Darlegung der familiären Einkommens- und Vermögensverhältnisse bedurft, um aufzuzeigen, dass die Antragsteller mit der Verauslagung der Schülerbeförderungskosten in ihrer Lebenshaltung empfindlich eingeschränkt werden. In Anbetracht eines Betrages von lediglich 362,30 Euro für eine das gesamte Schuljahr abdeckende Beförderungsberechtigung ist eine derartige Beeinträchtigung nicht ohne Weiteres anzunehmen.
Darüber hinaus ist nach der Aktenlage unter besonderer Berücksichtigung der von den Beteiligten überreichten Stadtplanauszügen und Fotos von den verschiedenen Wegstreckenabschnitten erkennbar, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird.
Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf kostenfreie Schülerbeförderung sind die Regelungen in § 114 NSchG i.V.m. den Regelungen der Satzung über die Schülerbeförderung der Stadt Salzgitter vom 26. Januar 2005 (Amtsblatt der Stadt Salzgitter 2005, Seite 18). Danach hat die Antragsgegnerin als Trägerin der Schülerbeförderung grundsätzlich die in ihrem Gebiet wohnenden Schülerinnen und Schüler des 1. bis 10. Schuljahrgangs an allgemeinbildenden Schulen unter zumutbaren Bedingungen zur Schule zu befördern. Die Schülerbeförderung gehört zum eigenen Wirkungskreis der Landkreise und kreisfreien Städte (§ 114 Abs. 1 Satz 3 NSchG), sodass diese Behörden die weiteren Voraussetzungen der kostenfreien Beförderung oder der Kostenerstattung kraft eigenen Ermessens im Rahmen der gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Regelungen festlegen dürfen. Insbesondere dürfen die Träger der Schülerbeförderung unter Berücksichtigung der Sicherheit des Schulwegs die Mindestentfernung bestimmen, von der an eine Beförderungs- oder Erstattungspflicht besteht (§ 114 Abs. 2 S. 1 und 2 NSchG). Nach § 1 Abs. 1 i.V.m. § 2 der Satzung besteht für Schüler der Schuljahrgänge 7 bis 10 grundsätzlich nur dann ein Anspruch auf kostenfreie Schülerbeförderung durch die Ausgabe einer Sammelschülerzeitkarte, wenn der kürzeste sichere öffentliche Weg zwischen dem Ausgang des Wohngebäudes der Schülerin und dem Eingang des Schulgebäudes mehr als 3.000 m beträgt. Diese Voraussetzung erfüllt der Schulweg vom Wohnhaus der Antragsteller auf der von der Antragsgegnerin angegebenen Route bis zur Hauptschule Salzgitter-Bad nicht, weil er kürzer als 3.000 m ist. Dass die Antragsgegnerin für Schüler der Schuljahrgänge 7 bis 10 eine Kostenübernahme bei einem Schulweg bis zu 3.000 m im Grundsatz ausschließt, ist unter Berücksichtigung der altersmäßigen Belastbarkeit dieser Schülergruppe rechtlich nicht zu beanstanden (VG Braunschweig, GB vom 11.01.1983 - 6 VG A 78/82 -: Urt. vom 30.11.2004 - Nds. VBl 2005, 192; VG Stade, Urt. vom 14.05.1998 - 3 A 1671/97 -). Zur Rechtfertigung der pauschalierenden Entfernungsregelung darf die Behörde sich insbesondere auf das legitime Ziel einer möglichst sparsamen Verwendung öffentlicher Mittel berufen. Die Entfernungsregelungen in der Satzung der Antragsgegnerin beziehen sich nach dem Wortlaut (§§ 5 und 6 der Satzung) auf den kürzesten Fußweg zwischen der Wohnung und der Schule. Ob eine andere Streckenführung nach den örtlichen Gegebenheiten als üblich angesehen wird oder - wie hier - die Eltern auf einen anderen Weg festgelegt sind, um möglichst auch leichte Gefährdungsrisiken zu vermeiden oder dem Kind die Benutzung eines Fahrrades für den Weg zur Schule zu ermöglichen, ist nicht maßgeblich.
Ein Anspruch auf Schülerbeförderung kann, obwohl die festgesetzte Mindestentfernung nicht erreicht ist, allerdings dann entstehen, wenn der Schulweg auf Grund der örtlichen Gegebenheiten für die Schüler Gefahren mit sich bringt, die über die im Straßenverkehr üblicherweise auftretenden Risiken hinausgehen (§ 1 Abs. 3 der Satzung i.V.m. § 114 Abs. 2 Satz 2 NSchG). Solche besonderen Gefahren können sich nicht nur aus dem motorisierten Straßenverkehr ergeben, sondern sind auch dann anzunehmen, wenn nach den objektiven Gegebenheiten eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die Schülerin oder der Schüler auf dem Schulweg durch andere Ursachen zu Schaden kommen kann (z.B. kriminelle Übergriffe, Beschaffenheit der Wegstrecke). Eine besondere Gefahrenlage in diesem Sinne ist jedoch nicht ersichtlich. Es kann dahingestellt bleiben, ob die über 15-jährige Tochter der Antragsteller im Hinblick auf ihr Alter überhaupt zu dem hinsichtlich Gewaltstraftaten risikobelasteten Personenkreis zählt (vgl. hierzu: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. vom 16.11.1999 - 19 A 420/96 - m.w.N.). Ein Mädchen dieses Alters ist in der Regel einem Erwachsenen körperlich nicht derart unterlegen, dass es sich gegen Übergriffe von Gewalttätern nicht hinreichend zur Wehr setzen könnte. Jedenfalls kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Wegabschnitt zwischen den Straßen „Gittertor“ und „Zur Finkenkuhle“ in einem nicht mehr zumutbaren Maß gefährlich ist. Dieser Weg ist beiderseits der sog. Sehnsuchtsbrücke weit einsehbar, mit Beleuchtungseinrichtungen versehen und wird von Grundstücken gesäumt, auf denen nicht nur vereinzelt und mit weiten Abständen, sondern relativ nah beieinander Wohnhäuser sowie Gewerbebetriebe errichtet sind. Hierdurch ist eine gewisse Überwachung gewährleistet und wenig wahrscheinlich, dass dieser Streckenabschnitt auf Straftäter einladend wirkt.
Soweit die Antragsteller die Beschaffenheit der Wegstrecke im Winter als nicht sicher beanstanden, ist ebenfalls nicht glaubhaft, dass die Wegebenutzer witterungsbedingt erhöhten und nicht mehr zumutbaren Gefahren ausgesetzt sind. Die Antragsgegnerin hat nachvollziehbar dargelegt, dass sie ein Unternehmen mit der Wahrnehmung des Streu- und Reinigungsdienstes bei Schnee- und Eisglätte insbesondere im Brückenbereich beauftragt hat. Ein nicht mehr hinnehmbares Risiko der Wegebenutzung dürfte deshalb auch in den Wintermonaten für die Schülerinnen und Schüler auf diesem Wegeabschnitt nicht bestehen. Da es - wie bereits dargelegt wurde - auf die Fußläufigkeit des Schulwegs ankommt, können die Antragsteller hiergegen nicht mit Erfolg einwenden, dass die Überquerung der Brücke bei dem Mitführen eines Fahrrads besonders mühevoll sei.
Der Antrag ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 53 Abs. 3 Nr. 1 GKG i.V.m. § 52 Abs. 1 und 3 GKG und beläuft sich im Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes auf ein Viertel der im Hauptsacheverfahren anzunehmenden Kosten für eine Sammelschülerzeitkarte (I Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit - NVwZ 2004, 1327 = ¼ von 362,30 Euro).