Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 12.12.1991, Az.: 4 L 96/90

Sonderkindergarten; Haftpflichtversicherung; Verkehrsunfall; Abfindungserklärung; Kostenbeitragsbescheid

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
12.12.1991
Aktenzeichen
4 L 96/90
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1991, 13112
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1991:1212.4L96.90.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade 26.04.1990 - 1 A 69/89
nachfolgend
BVerwG - 26.07.1994 - AZ: BVerwG 5 C 11/92

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 1. Kammer Stade - vom 26. April 1990 wird zurückgewiesen.

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 1. Kammer Stade - vom 26. April 1990 wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 4.000,-- DM abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

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Die im Jahre 1978 geborene Klägerin wurde am 26. September 1981 bei einem Verkehrsunfall verletzt. Sie besuchte von September 1982 bis August 1984 auf Kosten des Beklagten einen Sonderkindergarten. Die Haftpflichtversicherung des an dem Unfall beteiligten Kraftfahrers zahlte der Klägerin im September 1983 eine Entschädigung von 200.000,-- DM. In der von den Eltern der Klägerin unterzeichneten "Abfindungserklärung" heißt es: Nach Zahlung einer einmaligen "Entschädigung von 200.000,-- DM ... sollen alle Ansprüche ..., welche

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...

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aus Anlaß des Schadens vom 26. 09. 1981 ... geltend gemacht werden könnten, ... vollständig abgefunden sein ...."

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Mit Bescheid vom 9. November 1984 forderte der Landkreis Harburg im Auftrage des Beklagten ... von den Eltern der Klägerin einen Kostenbeitrag in Höhe von 30.000,-- DM (die Gesamtaufwendungen für die Betreuung beliefen sich auf 57.865,45 DM). Den Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 14. April 1987 zurück und verlangte den Kostenbeitrag von der Klägerin. In dem Bescheid ist ausgeführt, die Abfindung habe ein Schmerzensgeld nicht umfaßt; deshalb sei § 77 Abs. 2 BSHG nicht anzuwenden.

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Der Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 26. April 1990 stattgegeben; es hat ausgeführt: Die Klägerin müsse nur insoweit einen Kostenbeitrag leisten, als ihr die Abfindung "zeitgleich mit ihrem sozialhilferechtlich bedeutsamen Bedarf zur Verfügung" gestanden habe. Dieser Zeitpunkt sei in dem Abschluß des Vergleiches mit dem Versicherungsunternehmen zu sehen. Nach diesem Zeitpunkt habe der Beklagte noch Aufwendungen in Höhe von etwa 30.000,-- DM gehabt. Deshalb habe der Beklagte seinen Ermessenserwägungen einen unrichtigen Sachverhalt zugrunde gelegt. Dieser Umstand führe dazu, daß die angefochtenen Bescheide aufgehoben werden müßten, da das Gericht Ermessen nicht für den Beklagten ausüben dürfe.

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Mit seiner Berufung macht der Beklagte geltend, es müsse die gesamte der Klägerin zugeflossene Abfindung betrachtet werden, weil die Klägerin schon vor dem Zufluß dieser Summe eine Forderung gegen die Versicherung gehabt habe, diese Forderung sei ein Vermögensgegenstand.

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Er beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichtes zu ändern und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Sie verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichtes, soweit es ihr günstig ist, und führt aus, ihre Heranziehung sei wegen ihrer Gesundheitsbeeinträchtigung aufgrund des Unfalles nicht gerechtfertigt.

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Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung ist nicht begründet.

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Die Klägerin ist nicht verpflichtet, den von ihr geforderten Kostenbeitrag zu leisten, weil der Bescheid des Landkreises Harburg vom 9. November 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 14. April 1987 nicht frei von Ermessensfehlern ist.

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Allerdings haben der Landkreis Harburg und der Beklagte zu Recht § 43 Abs. 3 Satz 2 BSHG in Verbindung mit § 43 Abs. 1 BSHG als Rechtsgrundlage für den Kostenbeitragsbescheid angesehen. § 116 SGB X, der am 1. Juli 1983 in Kraft getreten ist, ist nicht anzuwenden, weil § 22 der Überleitungsvorschrift für § 116 SGB X vorschreibt, diese Vorschrift sei nicht anzuwenden, soweit sich der Unfall vor dem 1. Juli 1983 ereignet habe.

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§ 43 Abs. 3 BSHG sieht vor:

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Hat ein anderer als ein nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtiger nach sonstigen Vorschriften Leistungen für denselben Zweck zu gewähren, dem die in Absatz 2 genannten Maßnahmen dienen, wird seine Verpflichtung durch Absatz 2 nicht berührt. Soweit er solche Leistungen gewährt, kann abweichend von Absatz 2 von den in § 28 genannten Personen die Aufbringung der Mittel verlangt werden.

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Der Sinn der Vorschrift ist es, die Begünstigung einzuschränken, die § 43 Abs. 2 BSHG den dort genannten Behinderten, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, eingeräumt, wenn sie an bestimmten Maßnahmen teilnehmen (so an heilpädagogischen Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind - § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 aaO). Damit sollen Doppelleistungen verhindert werden, um auf Leistungen "Zugriff" nehmen zu können, die ein Schadensersatzpflichtiger leisten muß (Begründung des 3. Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes - BT-Drucks. 7/308 S. 25).

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§ 43 Abs. 3 Satz 1 BSHG setzt die Identität der Zwecke (die Gleichheit der Zwecke) voraus. Die Leistungen des Pflichtigen müssen für denselben Zweck bestimmt sein, dem die in § 43 Abs. 2 BSHG bezeichneten Maßnahmen dienen. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung und deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern (§ 39 Abs. 3 BSHG). Demselben Zweck dienen die Leistungen nach den §§ 7 ff StVG, die der Klägerin zugeflossen sind; denn § 11 StVG beschreibt:

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Im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit ist der Schadensersatz durch Ersatz der Kosten der Heilung sowie des Vermögensnachteiles zu leisten, den der Verletzte dadurch erleidet, daß infolge der Verletzung zeitweise oder dauernd seine Erwerbsfähigkeit aufgehoben oder gemindert oder eine Vermehrung seiner Bedürfnisse eingetreten ist.

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Eine weitere Differenzierung ist nach dem Sinne des § 43 Abs. 3 BSHG nicht geboten, etwa danach, inwieweit Leistungen nach den §§ 7 ff StVG für die Kosten der Heilung oder für einen dort genannten Vermögensnachteil bestimmt sind. Diese Auslegung entspricht dem auch in § 116 SGB X dargestellten Prinzip der kongruenten Deckung, d.h. der sachlichen und zeitlichen Kongruenz zwischen Sozialleistung und Leistung des Pflichtigen. Eine sachliche Kongruenz ist danach gegeben, wenn die Sozialleistung der Behebung eines artgleichen Schadens dient (vgl. hierzu: Schmaltz in Schroeder-Printzen u.a., SGB X, 2. Aufl., Rdnr.2.3 zu § 116, vgl. auch Begründung zu dem 3. Kapitel des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren -, BT-Drucks. 9/95 S. 27).

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Zu erwägen ist allenfalls, wie zu verfahren ist, wenn die Leistung des in § 43 Abs. 3 Satz 1 erwähnten "anderen" nicht ausreicht, um den gesamten Schaden zu decken; es käme dann in Betracht, die Höhe des gesamten Schadens zu ermitteln, die verschiedenen "Posten" des Schadens nebeneinander zu stellen und eine Zweckidentität nur hinsichtlich des Teils der Leistung (etwa einer Abfindung) anzunehmen, wie nach dieser Berechnung aus der Leistung (etwa einer Ablehnung) auf den jeweiligen Schadensposten entfällt. Das würde bedeuten: Muß der "andere" wegen einer Haftungshöchstgrenze oder wegen einer mitwirkenden Verursachung oder eines mitwirkenden Verschuldens nur einen Teil des Schadens ausgleichen, so läge nur hinsichtlich des jeweiligen auf einen Schadensposten entfallenden Teiles eine Übereinstimmung der Zwecke vor.

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So aber ist § 43 Abs. 3 Satz 1 BSHG nicht zu verstehen. Maßgebend ist vielmehr, ob die Leistungen des "anderen" mit denen des Trägers der Sozialhilfe nach § 43 Abs. 2 BSHG artgleich sind. Eine solche Kongruenz besteht dann, wenn es darum geht, einen Körperschaden auszugleichen. Die verschiedenen Maßnahmen, die dazu erforderlich sind, etwa Heilbehandlung oder Zahlung einer Erwerbsunfähigkeitsrente (oder an ihrer Stelle Zahlung einer Abfindung), sind einander gleichwertig; die Leistung des "anderen" nach dem Straßenverkehrsgesetz ist für den einheitlichen Zweck bestimmt, den Körperschaden auszugleichen.

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Reicht diese Leistung z.B. wegen der Haftungshöchstgrenze nicht, alle gegenwärtigen und künftigen Schäden auszugleichen, ist Zweckidentität jedenfalls hinsichtlich der bereits eingetretenen Schäden anzunehmen, zumal ungewiß ist, ob die lediglich in Form einer Prognose als Schadensposten in die Berechnung der Abfindung eingeflossenen - künftigen - Schäden wirklich eintreten werden.

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Mit diesen Überlegungen ist zugleich gesagt, daß es nicht darauf ankommt, welchen Zweck ein anderer seiner Leistung beimißt; nach dem Wortlaut der §§ 43 Abs. 3 Satz 1 BSHG und nach dem Sinn der Vorschrift kommt es vielmehr darauf an, auf welcher gesetzlichen Grundlage der andere die Leistung zu erbringen hat. Das gilt jedenfalls, soweit und solange er aufgrund einer gesetzlichen Vorschrift verpflichtet ist, Leistungen zu erbringen. Anderes gilt indessen dann, wenn der Leistungspflichtige zu Leistungen verpflichtet ist, die einander nicht artgleich sind, wie das etwa für Schmerzensgeld auf der einen Seite und Ersatz des Körperschadens auf der anderen Seite der Fall ist.

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In diesem Zusammenhang ist auf § 88 BSHG nicht zurückzugreifen. Wie sich aus dem Wortlaut von § 43 Abs. 3 BSHG und seinem dargelegten Sinn ergibt, geht diese Vorschrift dem § 88 BSHG vor. Es geht - wie erwähnt - nämlich darum, Doppelleistungen zu verhindern. Handelt es sich um eine solche Leistung, darf der Zufluß nicht als zu schützendes Vermögen im Sinne von § 88 BSHG oder als nicht einzusetzendes Einkommen betrachtet werden (so auch die Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. 7/308).

28

§ 90 BSHG legt es nicht nahe, § 43 Abs. 3 BSHG dahin auszulegen, ein Träger der Sozialhilfe könne seine Aufwendungen nur zu einem Teil geltend machen, weil er - hätte er den Anspruch gegen den Dritten auf sich übergeleitet - auch nur einen Teil seiner Aufwendungen (eine "Quote") ersetzt bekommen hätte. Dieser Erwägung ist bereits entgegenzuhalten, daß nach § 1542 RVO a.F. ein Sozialversicherungsträger nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte (vgl. Nachweise bei Koch/Hartmann, Das Angestelltenversicherungsgesetz, V 495 f) das sogenannte "Quotenvorrecht" zustand, das bedeutet, daß zunächst der Träger der Sozialversicherung aus dem übergegangenen Recht zu befriedigen ist, wenn und solange der Schädiger oder sein Versicherer nicht in vollem Umfang Schadensersatz leistet. Dieses Vorrecht leiten die Zivilgerichte (aaO) daraus her, daß den Trägern der Sozialversicherung auch öffentliche Mittel (also nicht nur die Beiträge der Versicherten) zufließen. Diese Erwägung gilt erst recht für einen Träger der Sozialhilfe, so daß dieser bei einer Überleitung hätte erreichen können, daß seine Aufwendungen in vollem Umfang von dem Schädiger (seiner Haftpflichtversicherung) ersetzt werden. Zu bedenken ist aber, daß durch die Überleitung sich nicht die von dem Schädiger (seiner Versicherung) zu leistende Summe erhöht, so daß im Ergebnis eine Überleitung den Betrag, der dem Geschädigten zufließt, mindert. Ist also eine Versicherung nur verpflichtet, einen Teil des Schadens auszugleichen, so wäre die auf diesen Teil entfallende Gesamtsumme auch bei einer Überleitung der Ansprüche gegen den Dritten zwischen dem Träger der Sozialhilfe und dem Geschädigten aufzuteilen. Ist allerdings ein Anspruch auf einen Sozialversicherungsträger übergegangen, und ist dieser an einem Rahmenteilungsabkommen zwischen dem Haftpflichtversicherer und Trägern der Sozialversicherung beteiligt, ersetzt der Haftpflichtversicherer dem Sozialhilfeträger teilweise die Leistungen, die dieser dem Geschädigten gewährt hat.

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Danach kann der Beklagte von der Klägerin einen Kostenbeitrag in Höhe seiner Aufwendungen verlangen. Die Ermessensentscheidung des Beklagten ist aber nicht frei von Fehlern (allerdings leidet die Entscheidung nicht an dem von dem Verwaltungsgericht gesehenen Mangel, weil - wie ausgeführt - § 88 BSHG nicht anzuwenden ist). Insbesondere hat der Beklagte sich nicht in ausreichendem Umfang über den Gesundheitszustand der Klägerin im maßgebenden Zeitpunkt informiert. Da sich zum Zeitpunkt seiner Entscheidung abzeichnete, daß die Klägerin in der Zukunft nicht in der Lage sein werde, mit eigenen Kräften und Mitteln ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, hätte er erwägen müssen, der Klägerin die Abfindung ganz oder zu einem größeren als von ihm bisher für richtig gehaltenen Teil zu belassen. Darüber hinaus hätte es nahegelegen, zu bedenken, ob von einer Überleitung abzusehen ist, wenn die Schädigung durch Familienangehörige verursacht worden ist. Diese Überlegung liegt um so näher, weil dieser Gedanke bereits in der Rechtsprechung der Zivilgerichte bei der Anwendung des § 1542 RVO a.F. (vgl. die Nachweise bei Koch/Hartmann aaO) entwickelt und in § 116 SGB X fortgeführt worden ist.

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Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 2, 167, 188 Satz 2 VwGO, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

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Der Senat hat die Revision zugelassen, weil es von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung ist, wie § 43 Abs. 3 BSHG im Hinblick auf die Zweckidentität auszulegen ist.

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VRiOVG Jacobi ist in den Ruhestand getreten und kann daher nicht unterschreiben

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Klay

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Klay

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Atzler