Landgericht Hildesheim
Urt. v. 16.08.2010, Az.: 12 Ks 17 Js 15864/10

Bibliographie

Gericht
LG Hildesheim
Datum
16.08.2010
Aktenzeichen
12 Ks 17 Js 15864/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 48083
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. In Fällen, in denen ein Beschuldigter eine krankheitstypische und krankheitsbedingte Anlasstat im Rahmen einer nach Betreuungsrecht angeordneten zivilrechtlichen Unterbringung (§ 1906 BGB) begangen hat und Tatopfer ein Angehöriger des Pflegepersonals ist, dem seine ihn und die Allgemeinheit schützende Betreuung obliegt, bleibt in aller Regel für eine Unterbringung nach § 63 StGB kein Raum (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 22.01.1998 - 4 StR 354/97; NStZ 1998, 405).

2. Ausnahmsweise kommt in einem solchen Fall eine Unterbringung nach § 63 StGB doch in Betracht, und zwar dann, wenn eine Unterbringung nach § 63 StGB entweder sicherer ist oder aber für den Beschuldigten weniger belastend ist als die zivilrechtliche Unterbringung. Weniger belastend ist eine Unterbringung nach § 63 StGB für den Beschuldigten auch dann, wenn nur sie - anders als die betreuungsrechtliche Unterbringung - eine Chance für einen therapeutischen Erfolg und damit für eine Verbesserung des Gesundheitszustandes des Beschuldigten sowie eine Reduzierung seiner Gefährlichkeit bietet.

Zur Zulässigkeit einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB bei Begehung der Anlasstat im Rahmen einer zivilrechtlichen Unterbringung nach Betreuungsrecht (§ 1906 BGB)

Tenor:

Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus wird angeordnet.

Der Beschuldigte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

1

(abgekürzt gemäß § 267 Abs. 4 StPO)

I.

2

Zu den persönlichen Verhältnissen des Beschuldigten hat die Kammer folgende Feststellungen getroffen:

3

Der gegenwärtig 31 Jahre alte Beschuldigte wurde am ...1979 in U., der im südöstlichen Sibirien gelegenen Hauptstadt der russischen Republik Burjatien geboren. Sein Vater, der im Jahr 2004 verstarb, war Schlosser in einer Flugzeug- und Hubschrauberfabrik in U.. Seine Mutter ... war als Arbeiterin in dieser Fabrik tätig. Der Beschuldigte hat zwei ältere Halbschwestern. Eine Halbschwester ist eine Tochter seines Vaters aus einer früheren Beziehung seines Vaters; diese Halbschwester hat der Beschuldigte nie kennen gelernt. Eine weitere Halbschwester, die sieben Jahre älter ist als der Beschuldigte, ist eine Tochter seiner Mutter aus einer früheren Beziehung. Gemeinsam mit der letztgenannten Halbschwester wuchs der Beschuldigte im Haushalt seiner Eltern in U. auf, wobei die Ehe seiner Eltern schlecht und konfliktbeladen war.

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Der Beschuldigte wurde 1986 im Alter von sieben Jahren in U. eingeschult und besuchte dort die Schule, bis er 16 Jahre alt war. Anschließend arbeitete auch er in dem örtlichen Fluggerätewerk, besuchte allerdings nebenher noch eine Abendschule. Einen Schulabschluss erlangte der Beschuldigte gleichwohl nicht; er war eigenen Angaben zufolge ein eher schlechter Schüler.

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Im Alter von 18 Jahren wurde der Beschuldigte 1997 zur Ableistung seines zweijährigen Wehrdienstes zur russischen Armee eingezogen. Dort wurde jedoch schon bald festgestellt, dass der Beschuldigte unter einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie litt. Bereits während seiner Militärzeit wurde er deshalb noch in Russland in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt. Nach einem Jahr wurde er krankheitsbedingt aus der Armee entlassen.

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Im Jahr 2000 – der Beschuldigte war damals 21 Jahre alt – trennten sich seine Eltern und seine Mutter zog mit ihm und ihrer Tochter – der Halbschwester des Beschuldigten – nach Deutschland. Seine Mutter war deutschstämmig und konnte deshalb gemeinsam mit ihren Kindern nach Deutschland übersiedeln. In Deutschland erlangte der Beschuldigte als Russlanddeutscher die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Vater des Beschuldigten verblieb in Russland.

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Der Beschuldigte, seine Mutter und seine Halbschwester, die bei ihrer Übersiedelung nach Deutschland schwanger war, bezogen eine Wohnung in O., in der der Beschuldigte in der Folgezeit zusammen mit seiner Mutter, seiner Schwester und deren Sohn wohnte. Der Beschuldigte besuchte einen sechsmonatigen Deutschkurs. Er lernte schnell und verhältnismäßig gut Deutsch, so dass er die deutsche Sprache recht gut beherrscht.

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Wegen seiner paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie (ICD 10: F20.0), unter der er bereits seit seiner Jugend leidet, wurde der Beschuldigte nach seiner Übersiedelung nach Deutschland auch hier psychiatrisch behandelt, und zwar überwiegend ambulant. Etliche Male wurde er aber auch im damaligen Niedersächsischen Landeskrankenhaus (LKH) W. in Bad Z., Ortsteil W. – der heutigen K.-J.-Klinik – stationär behandelt. Die psychische Erkrankung des Beschuldigten hinderte ihn daran, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen oder eine Ausbildung zu absolvieren.

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Nachdem der Beschuldigte am 15.11.2006 ein weiteres Mal in das LKH W. eingeliefert worden war und es noch am selben Tag zu dem verfahrensgegenständlichen Vorfall gekommen war, verblieb er zunächst bis zum 16.07.2007 im Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbringung im LKH W.. Da sich herausstellte, dass seine psychische Erkrankung eine langfristige Unterbringung erforderlich machte, wurde er am 16.07.2007 in ein Wohnheim für psychisch Kranke des Klinikums W. in S. verbracht. Dort ist der Beschuldigte seither ohne Unterbrechung auf betreuungsrechtlicher Grundlage im geschlossenen Wohnheimbereich untergebracht.

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Für den Beschuldigten wurde zunächst durch einstweilige Anordnung vom 26.03.2004 und dann durch regulären Beschluss des Amtsgerichts O. vom 07.10.2004 eine rechtliche Betreuung eingerichtet, die nach mehrmaliger Verlängerung auch heute noch besteht (Az. ...; Amtsgericht ...). Ehrenamtlicher Betreuer des Beschuldigten ist derzeit ... Die Betreuung umfasst gegenwärtig die Aufgabenkreise Vermögenssorge, Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über eine Unterbringung sowie Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten.

11

Der Beschuldigte ist ledig und hat keine Kinder.

12

Der Beschuldigte ist unbestraft.

II.

13

Die Kammer hat folgenden Sachverhalt festgestellt:

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1. Vorgeschichte

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Wegen seiner mittlerweile chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie (ICD 10: F20.0) musste sich der Beschuldigte recht bald nach seiner Übersiedelung nach Deutschland im Jahr 2000 auch in der Bundesrepublik in die stationäre Behandlung eines psychiatrischen Krankenhauses begeben. Bis zum 09.10.2006 wurde er insgesamt 16 Mal stationär im damaligen Niedersächsischen Landeskrankenhaus W. behandelt, und zwar zuletzt für die Zeit vom 11.07. bis 09.10.2006. Am 09.10.2006 wurde er letztmalig entlassen und kehrte in die Wohnung seiner Mutter ... und seiner Halbschwester in O. zurück.

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Der Beschuldigte war mit seinen häufigen Aufenthalten im Landeskrankenhaus W. nicht einverstanden und äußerte sich deshalb nach seiner Entlassung gegenüber einer Mitarbeiterin von „...“, einer ambulanten Betreuungseinrichtung für psychisch Kranke in O., dahingehend, dass er, wenn er noch einmal in das LKH W. müsse, jemanden umbringen werde, wen auch immer.

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In der Folgezeit wollte der Beschuldigte seinen Nachnamen ändern – er wollte den Familiennamen seines Vaters annehmen – und suchte dazu am 09.11.2006 das Bürgerbüro in O. auf, wo er mit seinem Anliegen allerdings nicht gehört wurde. Dies führte dazu, dass er sich dort stark erregte und zumindest heftig gegen einen Stuhl trat. Dadurch wurde für seine damalige Betreuerin und für eine Mitarbeiterin von „...“, mit der der Beschuldigte in Kontakt stand, deutlich, dass der Beschuldigte erneut psychisch auffällig und für sich und andere gefährlich war. Seine damalige Betreuerin beantragte deshalb, wie schon viele Male zuvor, beim zuständigen Amtsgericht O. die Genehmigung einer erneuten geschlossenen Unterbringung nach Betreuungsrecht. Der entsprechende Beschluss des Amtsgerichts O. erging am 15.11.2006.

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Zur Umsetzung der erneuten Unterbringung des Beschuldigten machten sich daraufhin am späten Vormittag des 15.11.2006 eine Mitarbeiterin von „...“, zwei Rettungsassistenten der O.er Feuerwehr mit einem Krankenwagen und die Polizeibeamten PHK ... und POK ... aus O. auf den Weg zur Wohnung der Mutter des Beschuldigten. Dort trafen sie etwa gegen 12:00 Uhr mittags ein und begaben sich sodann in die Wohnung, wo sie den Beschuldigten auch antrafen.

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Als dem Beschuldigten klar wurde, dass er nach nur kurzer Zeit in Freiheit schon wieder zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus abgeholt werden sollte, regte er sich erheblich auf. Er wollte von den eingesetzten Polizeibeamten wissen, ob diese in der Lage seien, ihn gefangen zu nehmen, wenn er sich dagegen wehren würde. Dabei prahlte er damit, dass er ein ausgebildeter Nahkämpfer sei – tatsächlich hatte der Beschuldigte in Russland Kampfsport betrieben. Zur Unterstützung seiner Aussage trat er einige Türen der Wohnung seiner Mutter, darunter auch eine Glastür, ein. Dabei verletzte er sich leicht an einem Fuß, so dass er blutete.

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Die Rettungsassistenten konnten den Beschuldigten jedoch beruhigen und fuhren mit ihm im Krankenwagen zu dem nur wenige Kilometer von O. entfernten LKH W., während die Polizeibeamten als Sicherheitsbegleitung dem Krankenwagen mit ihrem Dienstfahrzeug folgten.

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2. Unmittelbares Tatvorgeschehen

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Gegen 12:45 Uhr am Mittwoch, dem 15.11.2006, erschienen die Rettungsassistenten mit dem Beschuldigten an der Eingangstür zur Station HF 1 des Landeskrankenhauses, einer geschlossenen Station für unruhige Männer, und klingelten an der Stationstür. Die Polizeibeamten hatten ihren Einsatz bereits mit Erreichen des Klinikgeländes beendet.

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Die Tür zur Station HF 1 wurde geöffnet durch den Auszubildenden H. Die Rettungsassistenten schoben den Beschuldigten, der nun schon wieder ausgesprochen angespannt war, durch die Stationseingangstür hindurch und verließen umgehend das Krankenhaus. Der unerfahrene Krankenpflegeschüler H. war deshalb zunächst mit dem Beschuldigten allein auf dem Stationsflur. Er bemerkte dessen Angespanntheit, bekam Angst und sah sich der Situation nicht gewachsen. Er wandte sich deshalb vom Beschuldigten ab, um Hilfe bei seinen Kollegen zu holen.

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Der Beschuldigte reagierte nun in äußerst aggressiver Weise, indem er zumindest sehr heftig gegen einen im Eingangsbereich abgestellten und mit Getränken beladenen Getränkewagen trat, so dass dieser laut scheppernd gegen eine Wand stieß. Nunmehr wurden die anderen Pflegekräfte dieser Station, die gerade die mittägliche Übergabe zwischen Früh- und Mittagsschicht in ihrem Dienstzimmer am Ende des Stationsflures abhielten, auf den Beschuldigten aufmerksam.

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Als erste eilten die Krankenpfleger F. – das spätere Tatopfer – und G. auf den Beschuldigten zu. Als dieser die beiden Pfleger kommen sah, begab er sich unverzüglich in den Raucherraum der Station, brüllte dort laut herum, wobei er sich seiner Muttersprache bediente, und stellte sich in bedrohlicher Pose hinter einen sich dort aufhaltenden weiteren Patienten. Diesem Patienten gelang die Flucht, als die Zeugen F. und G. das Raucherzimmer betraten. Während F. und G. zum Beschuldigten eilten, löste die Krankenschwester S. einen stillen Alarm aus, um weitere Pflegekräfte herbeizuholen.

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Als sich die beiden Krankenpfleger F. und G. dem Beschuldigten näherten, griff dieser – was den beiden Pflegern auffiel – in die Nähe seiner Hosentasche. Den erfahrenen Krankenpflegern F. und G. gelang es, den Beschuldigten ein wenig zu beruhigen und ihn davon zu überzeugen, dass es für ihn gut sei, ein Beruhigungsmedikament zu nehmen, was der Beschuldigte dann auch tat. F. und G., die beide den Beschuldigten bereits aus früheren Aufenthalten im Landeskrankenhaus kannten, hielten es wegen der augenscheinlichen massiven Aggressivität des Beschuldigten nun für richtig, den Beschuldigten solange, bis das Medikament wirkte, zu fixieren, denn sie befürchteten weitere Aggressionsausbrüche. Sie erklärten ihre Absicht dem Beschuldigten, der sich nicht die geplante Fixierung wendete. Deshalb begaben sich die drei auf den höchstens zwei Meter breiten Flur zu einem Fixierungsbett, das von der Zeugin S. zwischenzeitlich herbeigeholt worden war. Der Beschuldigte legte sich nun mit Hilfe der Pfleger auf dieses Bett; dabei leistete er keinen Widerstand.

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3. Tat

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Nachdem sich der Beschuldigte auf das Fixierungsbett gelegt hatte und bevor mit seiner Fixierung begonnen wurde, standen der Auszubildende H. am Fußende des Bettes, der Krankenpfleger F. am Kopfende und der Krankenpfleger G. an einer Bettseite. Der unerfahrene H., der aus Sicht der anderen beiden eigentlich darauf hätte achten müssen, dass der Beschuldigte seine Füße während der Fixierungsmaßnahme nicht bewegt, entfernte sich nun. Diese Gelegenheit nutzte der Beschuldigte, dessen Schuldfähigkeit jetzt und in der Folgezeit wegen seiner paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie aufgehoben war, aus, um gewissermaßen mit einer heftigen Rolle rückwärts den hinter ihm an seinem Kopfende stehenden Zeugen F. zu treten und so zu verletzen. Es gelang ihm, den Zeugen F. so heftig mit dem beschuhten Fuß – er trug einen festen Lederschuh – am Kiefer zu treffen, das F. sofort benommen zu Boden ging. Er war sogar kurzzeitig bewusstlos. Während dieser Zeit sprang der Beschuldigte aus dem Bett heraus. Daraufhin kam es zu einer Rangelei zwischen ihm und dem Zeugen G..

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Diese Rangelei bemerkte der zwischenzeitlich aus seiner kurzen Bewusstlosigkeit erwachte Zeuge F.; dieser stand vom Boden auf, um seinem Kollegen G. zu helfen. Daraufhin wandte sich der Beschuldigte dem Zeugen F. zu, riss diesen gewaltsam zu Boden und warf sich auf ihn. F. lag nunmehr rücklings auf dem Boden des Stationsflures; seine beiden Arme waren so vom Beschuldigten beziehungsweise vom Bett und der Wand eingeklemmt, dass er keinerlei Möglichkeit hatte, sich gegen die nachfolgenden Angriffe des Beschuldigten zu wehren.

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Der Beschuldigte wollte den Zeugen F. nun töten. Er rief jetzt und während des folgenden Geschehens mehrfach aus: „Ich bringe Dich um!“

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Zur Umsetzung seines Tötungsentschlusses versuchte der Beschuldigte immer wieder, den Zeugen F. mit beiden Händen um den Hals zu fassen, um ihn zu würgen. Dies konnte der hinter dem Beschuldigten stehende Zeuge G., der die ganze Zeit versuchte, den Beschuldigten von F. herunterzuziehen, allerdings weitgehend verhindern. Dem Beschuldigten gelang es zwar mehrfach, den Zeugen F. an den Hals zu fassen, doch gelang es ihm nicht, zu einem richtigen Würgegriff anzusetzen. Als er das merkte, griff der Beschuldigte erneut zu seiner Hosentasche, in der sich ein größeres Springmesser befand, um das Messer herauszuziehen und seinen Tötungsvorsatz nun mit Hilfe dieses Messers umzusetzen. Da der Zeuge G. aber weiter an dem Beschuldigten zerrte, gelang es dem Beschuldigten nicht, an sein Messer heranzukommen.

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Inzwischen war lauter Alarm ausgelöst worden, was auch der Beschuldigte bemerkte. Nunmehr versuchte der Beschuldigte, den weiter unter ihm liegenden Zeugen F. in die Kehle zu beißen, um diese herauszureißen. Aufgrund des ausgelösten lauten Alarms kamen dann aber so viele Pflegekräfte auch von anderen Stationen herbeigeeilt, dass es dem Pflegepersonal mit vereinten Kräften schließlich gelang, den rasenden Beschuldigten von F. herunterzuziehen und zu fixieren. Der Beschuldigte wurde durchsucht, dabei wurde das Messer in seiner Hosentasche gefunden.

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Der Zeuge F., der die ganze Zeit massive Todesangst verspürt hatte, war durch das Geschehen erheblich geschockt und konnte sich um Weiteres an diesem Tag nicht mehr kümmern. Am nächsten Tag begab er sich zur Behandlung einer Kieferprellung zum Arzt. Diese Kieferprellung klang allerdings nach drei bis vier Tagen ab.

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4. Nachtatgeschehen

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a) Am folgenden Montag, dem 20.11.2006, trat F. zunächst seine Arbeit als Krankenpfleger wieder an. An diesem Tag entschuldigte sich der Beschuldigte bei F. für sein Verhalten am Mittwoch.

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F. merkte an diesem Montag schon nach kurzer Zeit, dass er wegen des Vorfalls den Belastungen seiner Arbeit psychisch nicht mehr gewachsen war, und brach seinen Dienst ab. Seither und bis heute konnte der Zeuge, der aufgrund des Vorfalls an einer massiven postraumatischen Belastungsstörung leidet, seine Arbeit nicht wieder aufnehmen; er ist seitdem krankgeschrieben.

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Gegenüber einer Pflegekraft der Station HF 2 des LKH W., auf die er nach dem Vorfall verlegt worden war, machte der Beschuldigte wenige Tage später verbal und durch entsprechende Handbewegungen deutlich, dass und wie er dem Zeugen G. das Genick brechen wolle.

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b) Der Beschuldigte hielt sich aufgrund der betreuungsrechtlichen Unterbringung auch in der Folgezeit im LKH W. auf. Dort kam es am 26.12.2006 gegen 08:00 Uhr zu einem weiteren Vorfall. Der Beschuldigte und der Zeuge F., ein anderer Patient der Klinik, hielten sich im Speiseraum der Station HF 2 auf. Der Zeuge F., der ebenfalls unter einer paranoiden Schizophrenie leidet, wollte Abfall in einen gelben Abfalleimer werfen. Da er diesen Eimer nicht mit bloßen Händen anfassen wollte, öffnete er den Deckel, indem er ein Papier dazu in die Hand nahm. Der Beschuldigte forderte F. auf, das zu lassen. F. reagierte auf den Beschuldigten jedoch nicht. Als F. anschließend dem Beschuldigten den Rücken zuwandte, griff der Beschuldigte F. vollkommen überraschend mit den Händen um den Hals, hörte aber nach kurzer Zeit, ohne dass F. Atemnot bekommen hatte, mit seinem Angriff auf.

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c) Am 09.02.2007 zwischen 02:00 und 03:00 Uhr nachts hielten sich der Beschuldigte und der Mitpatient B. im Raucherraum der Station HF 2 des LKH W. auf. Der Beschuldigte drehte dort Zigaretten. B. bat ihn, ihm eine der selbstgedrehten Zigaretten abzugeben, was der Beschuldigte auch tat. Nach mehreren Zügen an dieser Zigarette kam B. der Geschmack der Zigarette sehr merkwürdig vor, so dass er diese ausmachte, zum Nachtpfleger B. ging und diesem meldete, dass der Beschuldigte wohl Marihuana oder Ähnliches unter seinen Zigarettentabak gemischt habe. Nachdem B. sich im Anschluss an das Gespräch mit dem Nachtpfleger wieder in den Raucherraum begeben hatte, fing der Beschuldigte, der durch das Verhalten B.s verärgert war, an, auf B. stichelnd und ihn reizend einzuwirken. Auch schaltete er das Licht im Zimmer immer wieder aus und an. Plötzlich, für B., der das Ganze nur aus dem Augenwinkel wahrnahm, völlig überraschend, stand der Beschuldigte von seinem Stuhl im Raucherzimmer auf und trat mit voller Wucht aus einer Drehbewegung heraus mit seinem linken Fuß in Richtung des Kopfes von B.. Reflexartig riss B. seinen linken Arm nach oben, um ihn schützend vor seinen Kopf zu halten. Es gelang ihm tatsächlich, mit seinem Arm den Tritt des Beschuldigten abzuwehren, allerdings, weil der Beschuldigte feste stiefelähnliche Schuhe trug, um den Preis, dass er schmerzhaft am Arm getroffen wurde. Auch die Brille B.s fiel bei dieser Gelegenheit herunter und wurde leicht beschädigt. Da in diesem Moment zufällig der Nachtpfleger B. hinzukam, konnte dieser einschreiten, den Beschuldigten zu Boden bringen und mit Hilfe weiterer herbeigerufener Pfleger zur Ruhe bringen.

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d) Der Beschuldigte hielt sich ununterbrochen bis zum 16.07.2007 im LKH W. auf und wurde an diesem Tag in das Klinikum W. in S. verbracht, wo er seitdem aufgrund mehrfach verlängerter amtsrichterlicher Genehmigung nach Betreuungsrecht geschlossen untergebracht ist.

III.

1.

41

Durch die Tat hat der Beschuldigte den Straftatbestand des versuchten Totschlags (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 StGB) in Tateinheit mit dem der gefährlichen Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) erfüllt. Der Schuh, mit dem der Beschuldigte den Zeugen F. in das Gesicht trat, war ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB.

2.

42

Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschuldigten für seine Tat ist nicht gegeben, da er in schuldunfähigem Zustand (§ 20 StGB) handelte . Eine Bestrafung des Beschuldigten schied damit aus.

IV.

43

Gemäß § 63 StGB hat die Kammer die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

1.

44

Der Beschuldigte hat die festgestellte Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) begangen.

45

Zu dieser Feststellung ist die Kammer aufgrund des in der Hauptverhandlung mündlich erstatteten psychiatrischen Gutachtens des Sachverständigen Dr. K. gelangt. Der Sachverständige Dr. K. ist Facharzt für Psychiatrie in O. und hat den Beschuldigten zu der Frage begutachtet, ob dieser zur Tatzeit gemäß den §§ 20, 21 StGB erheblich vermindert schuldfähig oder sogar schuldunfähig war und ob die Voraussetzungen für eine Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB gegeben sind.

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Der Sachverständige Dr. K. hat ausgeführt, der Beschuldigte leide unter einer chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie (ICD 10 [GM 2010]: F.20.0). Ferner sei bei dem Beschuldigten eine Hepatitis C bekannt. Dies deute darauf hin, dass der Beschuldigte in der Vergangenheit Konsument harter Drogen gewesen sei. Hierfür spreche auch, dass sich der Beschuldigte ausweislich von ihm – dem Sachverständigen – ausgewerteter früherer Arztberichte in der Vergangenheit dahingehend geäußert habe, früher in Russland Heroin konsumiert zu haben. Ob beziehungsweise inwieweit der Beschuldigte tatsächlich früher Drogenkonsument war, habe er aber nicht klären können, so der Sachverständige. Denn es sei zu berücksichtigen, dass die eigenen Angaben des Beschuldigten insofern nicht stimmen müssten, sondern ebenso gut als Folge seiner Schizophrenie Ausfluss irrealer Vorstellungen sein könnten.

47

Aufgrund seiner Schizophrenie sei es bei dem Beschuldigten, so Dr. K., zum Zeitpunkt der Tatbegehung zu ganz erheblichen Verzerrungen beziehungsweise Veränderungen seines Erlebens sowie seiner handlungssteuernden Emotionen und Antriebe gekommen. Die verfahrensgegenständliche Tat des Beschuldigten sei unter dem unmittelbaren Einfluss seiner schizophrenen Erkrankung begangen worden; der Beschuldigte sei zum Zeitpunkt der Tatbegehung akut psychotisch gewesen. Dies zeige sich daran, dass sich der Beschuldigte, bevor er zu Hause abgeholt und dem LKH W. zugeführt wurde, mit einem Messer bewaffnet hatte, weil er geplant hatte, seine ihn ambulant behandelnde Ärztin aufzusuchen, und eigenem Bekunden zufolge Angst hatte, er könne nach Verlassen der Wohnung angegriffen werden. Mithin habe der Beschuldigte zur Tatzeit unter akuten Wahnvorstellungen und Verfolgungsängsten gelitten. Es müsse davon ausgegangen werden, dass der Beschuldigte die Situation, in der es zur Tatbegehung kam, unter dem Einfluss eines akuten psychotischen Krankheitsschubes in Verkennung der Realität als massiv bedrohlich empfand.

48

Das Krankheitsbild des Beschuldigten sei als „krankhafte seelische Störung“ im Sinne des § 20 StGB zu klassifizieren, wobei die Störung so schwer gewesen sei, dass zum Zeitpunkt der Tatbegehung die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten aufgehoben gewesen sei. Möglicherweise sei darüber hinaus sogar seine Einsichtsfähigkeit aufgehoben gewesen.

49

Die anderen rechtssystematischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB – Schwachsinn, tiefgreifende Bewusstseinsstörung und schwere andere seelische Abartigkeit – seien, so der Sachverständige Dr. K. weiter, nicht erfüllt gewesen.

50

Die Kammer hat sich dem schlüssigen und in sich widerspruchsfreien Gutachten des Sachverständigen Dr. K. zur Frage der Schuldfähigkeit des Beschuldigten nach eigener kritischer Würdigung angeschlossen.

2.

51

Die von der Kammer vorgenommene Gesamtwürdigung des Beschuldigten und seiner Tat hat ergeben, dass von ihm infolge seines Zustandes – der bei ihm vorliegenden paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie – weitere erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.

52

Der Sachverständige Dr. K., der auch diese Voraussetzungen für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB klar bejaht hat, hat hinsichtlich der Gefährlichkeit des Beschuldigten ausgeführt, der Beschuldigte sei aufgrund seiner Erkrankung erheblich durch wahnhafte Gedankeninhalte beeinträchtigt und neige phasenweise zu unberechenbaren, durch Bagatellereignisse ausgelösten schweren aggressiven Impulsdurchbrüchen gegenüber anderen Menschen, und zwar derzeit gegenüber Mitpatienten und Betreuungspersonal. Diese sich raptusartig entladende Aggressivität sei unmittelbar Ausfluss der psychischen Erkrankung des Beschuldigten, die zyklusartig zu einer zunehmenden inneren Anspannung des Beschuldigten führe, welche sich dann irgendwann ungesteuert und ohne „sinnvolle“ Zielauswahl in spontanen aggressiven Handlungen entlade. Sämtliche Versuche, die Schizophrenie und ihre Ausprägungen medikamentös zu behandeln, hätten bislang nicht zu einem nennenswerten Erfolg geführt; selbst neuartige hochwirksame Psychopharmaka hätten keine signifikante Verbesserung der psychischen Verfassung des Beschuldigten bewirkt. Ganz im Gegenteil: Der bisherige Behandlungsverlauf zeige, dass die Erkrankung des Beschuldigten einen chronisch progredienten Verlauf nehme. Die Legalprognose des Beschuldigten sei mithin sehr ungünstig. Dies gelte auch deshalb, weil es selbst im Rahmen der Unterbringung im Wohnheim des Klinikums W. und damit unter kontinuierlicher und überwachter Medikamenteneinnahme immer wieder zu aggressiv-destruktiven Verhaltensweisen des Beschuldigten gekommen sei und immer noch komme.

53

Wie sich aus den von ihm – dem Sachverständigen – eingesehenen Berichten der behandelnden Kliniken und aus den Angaben der in der Hauptverhandlung vernommenen sachverständigen Zeugin B.-K., der für den Beschuldigten zuständigen leitenden Ärztin des Klinikums W., ergebe, sei es – so Dr. K. – im bisherigen Unterbringungsverlauf bis heute immer wieder zu akuten psychotischen Zuständen gekommen, bei denen der Beschuldigte hochgradig aggressiv gewesen sei, Bedrohungen gegenüber Mitpatienten und Betreuungspersonal ausgesprochen habe beziehungsweise gegenüber Mitpatienten und Betreuungspersonal gewalttätig geworden und für das Pflegepersonal nicht erreichbar gewesen sei. Etliche Male habe der Beschuldigte aus dem Wohnheim des Klinikums W., in dem er untergebracht sei, in die akutpsychiatrische Klinik der Einrichtung verlegt werden müssen, weil es zu erheblichen Aggressionsdurchbrüchen gekommen sei, in deren Rahmen der Beschuldigte auch Todesdrohungen ausgestoßen habe. Wiederholt habe der Beschuldigte sowohl zum Eigenschutz als auch zum Schutz seiner Mitpatienten und des Pflegepersonals fixiert werden müssen.

54

Es könne, so der Sachverständige Dr. K., jederzeit erneut zu Taten wie der verfahrensgegenständlichen Anlasstat kommen, wobei nicht nur das Pflegepersonal, sondern auch Mitpatienten des Beschuldigten stark gefährdet seien. Im Hinblick auf das trotz jahrelanger Behandlung von erheblicher Instabilität gekennzeichnete Krankheitsbild des Beschuldigten, das sich in den nächsten Jahren voraussichtlich nicht verändern werde, könne als sehr sicher prognostiziert werden, dass in Zukunft erneut psychotische Schübe auftreten werden, in deren Rahmen es zu aggressiven Übergriffen gegenüber anderen Personen kommen werde. Die Gefahr erheblicher zukünftiger Straftaten sei insbesondere auch vor dem Hintergrund der wahnhaften Verkennungen des Beschuldigten als außerordentlich hoch einzuschätzen. So sei es in der Vergangenheit wiederholt vorgekommen, dass der Beschuldigte sich im Sinne einer so genannten Lykanthropie in einen Luchs verwandelt wähnte und annahm, dass er als ein der Jagd unterliegendes Tier – der Beschuldigte hatte während seiner Jugend in Russland mit seinem Vater zusammen gejagt und dabei auch Kontakt zu Luchsen gehabt – Gefahr laufe, von anderen Menschen getötet zu werden. Aus diesem Verfolgungswahn heraus habe er sich veranlasst gesehen, gegen seine vermeintlichen Feinde vorzugehen.

55

Zusammenfassend hat der Sachverständige Dr. K. ausgeführt, es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren, dass es im Verlauf der nächsten Jahre erneut zu krankheitsbedingten massiven Angriffen des Beschuldigten gegenüber anderen Menschen kommen werde.

56

Die Kammer hat sich auch diesen schlüssigen und in sich widerspruchsfreien Ausführungen des Sachverständigen Dr. K. zu den psychiatrischen Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 63 StGB nach eigener kritischer Würdigung angeschlossen. Dies gilt auch deshalb, weil sich die Beurteilung des Sachverständigen Dr. K. mit der Einschätzung der Zeugin B.-K. deckt.

57

Die als sachverständige Zeugin vernommene Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie B.-K. hat in der Hauptverhandlung zur Gefährlichkeit des Beschuldigten in Ergänzung und Bestätigung der Angaben des Sachverständigen Dr. K. glaubhaft bekundet, die Phasen akuter psychotischer Zustände mit aggressiven Impulsdurchbrüchen hätten beim Beschuldigten in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Dies zeige, dass der Beschuldigte nicht nur weiterhin gefährlich sei, sondern sich die Schwere seiner Erkrankung in den letzten Jahren noch verstärkt habe und sich damit auch seine Gefährlichkeit noch erhöht habe. Mittlerweile, so die Zeugin B.-K., habe selbst das Personal des Pflegeheimes, in dem der Beschuldigte derzeit untergebracht sei, eine permanente latente Angst vor dem Beschuldigten.

58

Im Einzelnen hat die Zeugin B.-K. ausgeführt, im Jahr 2008 sei eine klinisch-stationäre Behandlung des Beschuldigten erforderlich gewesen; der Beschuldigte habe in akut psychotischem und hochaggressivem Zustand Pflegepersonal bedroht und gegen Wände und Türen geschlagen. Im Jahr 2009 seien vier stationäre Klinikeinweisungen erforderlich gewesen, wobei diesen zwar auch selbstverletzende Handlungen und suizidale Äußerungen vorausgegangen seien – einmal habe der Beschuldigte in Suizidabsicht eine kleine Glühlampe verschluckt –, überwiegend aber erhebliche aggressive Impulsdurchbrüche die Klinikaufenthalte erforderlich gemacht hätten. Unter anderem habe der Beschuldigte im Jahr 2009 eine Glasscheibe vor einem Fernseher eingeschlagen. In diesem Jahr – 2010 – sei es bis Mitte des Jahres bereits zu sechs klinisch-stationären Behandlungen des Beschuldigten gekommen. Diesen neuerlichen akut-psychiatrischen Interventionen seien wiederum erhebliche aggressive Impulsdurchbrüche vorausgegangen: Der Beschuldigte habe namentlich Mitpatienten mit dem Tode bedroht, Gewaltdrohungen gegenüber der behandelnden Ärztin und dem Pflegepersonal ausgesprochen, in einem Badezimmer einen Spiegel zertrümmert und mit einer Glasscherbe des Spiegels Pflegepersonal bedroht, gegen Wände beziehungsweise Türen getreten, als ihm der Besitz eines Feuerzeuges versagt worden sei, und die Scheibe eines Fernsehers eingeschlagen. Der letztgenannte Vorfall sei Folge einer akustischen Halluzination des Beschuldigten gewesen; der Beschuldigte habe angegeben, die Stimme seines verstorbenen Vaters gehört zu haben. Im Juni 2010 habe sich der Beschuldigte unter Verwendung seines Zimmerschlüssels eine Waffe gebastelt und versucht, auf eine Mitbewohnerin einzustechen. Zuletzt habe der Beschuldigte im Juli dieses Jahres Tötungsdrohungen gegenüber anderen Mitbewohnern ausgesprochen und versucht, einen Mitbewohner seiner Wohngruppe mit einem Stuhl zu schlagen, sowie im Rahmen eines aggressiven Durchbruchs ein Küchenmesser ergriffen und in eine Wand geschlagen. Daneben sei es allerdings immer wieder auch zu selbstverletzenden Handlungen des Beschuldigten gekommen; so habe der Beschuldigte im April 2010 eine Glaslampe in seinem Zimmer zerschlagen und sich mit einer Scherbe in suizidaler Absicht eine Pulsschnittverletzung zugefügt, die eine medizinische Notfallversorgung in der Medizinischen Hochschule H. erforderlich gemacht habe.

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Zusammenfassend hat die Zeugin B.-K. ausgeführt, der Beschuldigte weise in der Gesamtschau ein außerordentlich hohes Gewalt- und Gefährdungspotential auf; er sei in seinem impulsgesteuerten Verhalten höchst unberechenbar und stelle eine permanente Gefahr für sich selbst und seine Umgebung dar. Sie erachtete, so die Zeugin B.-K., die vom Beschuldigten ausgehende Gefahr für mittlerweile so groß, dass eine weitere betreuungsrechtliche Unterbringung des Beschuldigten – wie sie derzeit bestehe – ihrer Ansicht nach nicht mehr zu verantworten sei.

3.

60

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) steht einer Unterbringung des Beschuldigten im einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB nicht entgegen.

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Zwar hat der BGH (Beschluss vom 22.01.1998 – 4 StR 354/97; NStZ 1998, 405) betont, in Fällen, in denen ein Beschuldigter eine krankheitstypische und krankheitsbedingte Anlasstat im Rahmen einer bereits aus anderen Gründen angeordneten Unterbringung begangen habe und Tatopfer ein Angehöriger des Pflegepersonals sei, dem seine ihn und die Allgemeinheit schützende Betreuung obliege, bleibe in aller Regel für eine Unterbringung nach § 63 StGB kein Raum. Hinter diesem Grundsatz steht zum einen die Überlegung, dass in einem solchen Fall die schon bestehende anderweitige Unterbringung zur Abwendung einer von dem Beschuldigten ausgehenden Gefahr in der Regel ausreicht, zum anderen die Erkenntnis, dass krankheitsbedingte aggressive Durchbrüche im Rahmen einer bestehenden Unterbringung mit all ihren Belastungen für die Betroffenen eine typische Begleiterscheinung der Unterbringung sind und die betreffende Einrichtung und ihr Personal sich auf solche Krankheitsfolgen einstellen können und müssen.

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Allerdings ist eine Unterbringung nach § 63 StGB nicht ausnahmslos unverhältnismäßig und damit unzulässig, wenn es um krankheitstypische und krankheitsbedingte Taten gegenüber dem Pflegepersonal während einer anderweitigen Unterbringung geht. Der BGH hat in der vorgenannten Entscheidung den Grundsatz der Unverhältnismäßigkeit einer Unterbringung nach § 63 StGB bei Taten gegenüber dem Pflegepersonal während einer anderweitigen Unterbringung dahingehend eingeschränkt, dass er „jedenfalls insoweit“ gelte, als die betreffenden Taten „nicht dem Bereich schwerster Rechtsgutsverletzungen zuzurechnen sind“. Die verfahrensgegenständliche Anlasstat vom 15.11.2006 ist aber als versuchtes Tötungsdelikt ohne Zweifel dem Bereich schwerster Rechtsgutsverletzungen zuzuordnen; auch die Gefahr zukünftiger Taten des Beschuldigten erstreckt sich auf den Bereich schwerster Rechtsgutsverletzungen.

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Hinzu kommt, dass der BGH in der vorgenannten Entscheidung auf Taten abstellt, die während einer anderweitigen Unterbringung begangen wurden. Der BGH hatte also offenbar Taten im Blick, die motiviert wurden durch Ereignisse im Rahmen einer bereits vollzogenen Unterbringung. Vorliegend wurde die Anlasstat aber im unmittelbaren Kontext der Aufnahme des Beschuldigten in das LKH W. begangen.

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Entscheidend für die Feststellung der Kammer, dass vorliegend die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nicht unverhältnismäßig ist, waren jedoch folgende Überlegungen: Der BGH hat in der vorgenannten Entscheidung ausdrücklich festgestellt, bei der hier in Rede stehenden Fallgestaltung komme – auch mit Blick auf § 62 StGB – eine Anordnung nach § 63 StGB ausnahmsweise in Betracht, wenn davon ausgegangen werden könne, dass „der Beschuldigte in einer forensischen Klinik sicherer untergebracht ist oder in einer für ihn weniger belastenden Weise.“ Diese beiden Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.

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Der Beschuldigte ist zwar derzeit nach Betreuungsrecht untergebracht, doch hält er sich nicht in einem psychiatrischen Krankenhaus mit entsprechender therapeutischer Behandlung und hinreichenden Sicherheitsvorkehrungen, sondern im Rahmen einer vom Sozialhilfeträger finanzierten „stationären Eingliederungshilfe“ in einem Wohnheim für psychisch Kranke auf. Diese Form der Unterbringung des Beschuldigten ist weitaus weniger sicher als eine Unterbringung nach § 63 StGB in einem forensisch-psychiatrischen Krankenhaus. Bei der derzeitigen Form der Unterbringung besteht eine hohe Gefahr erheblicher Straftaten des Beschuldigten gegenüber Mitbewohnern des Wohnheimes und gegenüber dem Pflegepersonal. Das Klinikum W. ist nach Angaben der Zeugin B.-K. aufgrund der Personal- und Organisationsstruktur der Einrichtung nicht in der Lage, Straftaten des Beschuldigten im Wohnheimbereich zu verhindern. Wie bereits ausgeführt, hält die Zeugin B.-K. die vom Beschuldigten ausgehende Gefahr für mittlerweile so groß, dass eine weitere betreuungsrechtliche Unterbringung des Beschuldigten in der derzeitigen Form nicht mehr verantwortet werden könne. Anders als ein forensisch-psychiatrisches Krankenhaus verfüge das Wohnheim, in dem der Beschuldigte derzeit untergebracht ist, weder über hinreichend ausgebildetes Personal noch über eine geeignete Infrastruktur, um der von dem Beschuldigten ausgehenden Gefahr adäquat begegnen zu können.

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Zudem ist eine Unterbringung des Beschuldigten in einem forensisch-psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nach übereinstimmender Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen Dr. K. und der sachverständigen Zeugin B.-K. aus medizinisch-therapeutischer Sicht sinnvoller als die derzeitige Wohnheimunterbringung und zudem auch die einzige Maßnahme, die überhaupt eine – wenn auch nur geringe – Chance auf eine Verbesserung des Gesundheitszustandes des Beschuldigten bietet. Dieser Einschätzung hat sich die Kammer angeschlossen. Damit aber ist die Unterbringung des Beschuldigten in einem forensisch-psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB im Ergebnis für den Beschuldigten weniger belastend als eine Weiterführung der bisherigen Form der Unterbringung.

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Der Sachverständige Dr. K. hat insofern ausgeführt, der Beschuldigte könne in dem Wohnheim des Klinikums W., in dem er sich derzeit aufhalte, nicht adäquat behandelt werden. In einem solchen Wohnheim gehe es im Wesentlichen darum, für eine ausreichende Medikation der Bewohner zu sorgen und Personen, die kooperativ und therapeutisch leicht erreichbar seien, mit ergotherapeutischen und tagesstrukturierenden Maßnahmen auf ein zukünftiges Leben in eigener Verantwortung vorzubereiten. Die Krankheit des Beschuldigten habe aber eine solche Schwere erreicht und sei mit derart gravierenden strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen verbunden, dass dem Beschuldigten mit der derzeitigen Form der Unterbringung nicht mehr geholfen werden könne und er letztlich kaum mehr als nur „verwahrt“ werde. Damit aber könne eine Verbesserung seines Gesundheitszustandes nicht erreicht werden. Die sachverständige Zeugin B.-K. hat sich im Kern entsprechend geäußert und zudem darauf hingewiesen, dass im Klinikum W. insgesamt neun Ärztinnen und Ärzte für 950 Heimbewohner zuständig seien, so dass schon deshalb eine intensive medizinisch-therapeutische Betreuung des Beschuldigten im Rahmen der derzeitigen Unterbringungsform nicht geleistet werden könne. Ihre Einrichtung sei, so die Zeugin B.-K., bezüglich des Beschuldigten, „an der Grenze seiner therapeutischen Erreichbarkeit angelangt“.

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Bei einer Unterbringung des Beschuldigten in einem forensisch-psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB könne dagegen, so der Sachverständige Dr. K., intensiv mit dem Beschuldigten gearbeitet werden und insbesondere auch versucht werden, speziell in Bezug auf seine aggressive Impulsivität therapeutisch tätig zu werden. In einem forensisch-psychiatrischen Krankenhaus seien für die Betreuung und Versorgung von Menschen mit einem Krankheitsbild, wie der Beschuldigte es aufweise, sowohl die geeignete Infrastruktur als auch hinreichend viel und gut ausgebildetes Personal vorhanden. In einem forensisch-psychiatrischen Krankenhaus könne die aus psychiatrischer Sicht dringend gebotene spezifische Straftäterbehandlung durchgeführt werden. In einem solchen Rahmen könnten auch – anders als im Rahmen der derzeitigen Wohnheimsunterbringung – Therapieansätze wie eine Teilnahme an einer „Psychosegruppe“ und regelmäßige ärztliche Gespräche mit dem Ziel, dem Betroffenen zu mehr Krankheits- und Behandlungseinsicht zu verhelfen, sowie spezielle kriminalprotektive Maßnahmen ergriffen werden. Zwar sei auszuschließen, so der Sachverständige Dr. K., dass der Beschuldigte jemals wieder vollständig gesunden werde; auch sei auszuschließen, dass er jemals zu einer eigenständigen Lebensführung in der Lage sein werde. Doch sei immerhin vorstellbar, dass der Beschuldigte im Anschluss an eine langfristige Unterbringung und Therapie in einem forensisch-psychiatrischen Krankenhaus in eine Form des „betreuten Wohnens“ entlassen werden könne. Die Kammer hat sich auch diesen Einschätzungen des Sachverständigen Dr. K. angeschlossen.

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Weiter hat der Sachverständige ausgeführt, es sei aus psychiatrisch-therapeutischer Sicht ungünstig, dass der Beschuldigte derzeit sehr weit von seinem Heimatort O. entfernt untergebracht sei. Der Beschuldigte habe so nämlich kaum die Möglichkeit, zu seinen einzigen und für ihn wichtigen sozialen Bezugspersonen – zu seiner Mutter und seiner Halbschwester – Kontakt zu halten. Darunter leide der Beschuldigte erheblich. Der Beschuldigte sei allein deshalb von O. in das Wohnheim des Klinikums W. in S. verbracht worden, weil diese Einrichtung im Jahr 2007 die einzige gewesen sei, die bereit gewesen sei, ihn aufzunehmen. Damit aber sei der Beschuldigte von seiner Mutter und Halbschwester getrennt worden, die nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügten, regelmäßig von O. nach S. zu reisen und den Beschuldigten zu besuchen. Auch dieser Umstand spreche gegen eine weitere Unterbringung des Beschuldigten in dem Wohnheim des Klinikums W..

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Aus psychiatrischer Sicht sei es, so Dr. K., anzuraten, den Beschuldigten in der forensischen Abteilung der K.-J.-Klinik in Z. unterzubringen. Denn damit könne dem seit langem und erneut in der Hauptverhandlung geäußerten Wunsch des Beschuldigten, wieder in die Nähe seiner Mutter und Halbschwester zu gelangen, entsprochen werden. Wenn diesem dringenden Wunsch des Beschuldigten entsprochen würde, hätte dies erhebliche positive Auswirkungen auf seine Therapiechancen, zumal dann auch ein regelmäßiger Kontakt mit seinen für ihn zentralen sozialen Bezugspersonen möglich wäre. Insofern sei es aus psychiatrischer Sicht sehr sinnvoll, wenn der Beschuldigte in der Nähe von O. und damit in der Nähe seiner Mutter und Halbschwester untergebracht würde.

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Die Kammer teilt, auch unter dem Eindruck, den sie selbst vom Beschuldigten in der Hauptverhandlung gewonnen hat, diese Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen. Auch aus Sicht der Kammer sollte der Beschuldigte im Interesse seiner erfolgreichen Behandlung in der Nähe seiner Heimatstadt O. untergebracht werden. Die Kammer appelliert deshalb an die zuständigen Stellen, die angeordnete Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus in der Nähe von O. zu vollziehen.

4.

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Eine Aussetzung der Vollstreckung der Maßregelanordnung zur Bewährung nach § 67b Abs. 1 S. 1 StGB kam vor dem Hintergrund der Schwere der Erkrankung des Beschuldigten, seiner umfänglichen Behandlungs- und Betreuungsbedürftigkeit sowie seiner hohen gegenwärtigen Gefährlichkeit nicht in Betracht.

V.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 465 Abs. 1 StPO.